Diskurs

Demokratie? – Eine Debatte II.

Alain Badiou - Das demokratische Wahrzeichen

Einer Umfrage des NABU zufolge berücksichtigt ein Großteil der älteren Generationen die Interessen der Jugend an einem wirksamen Schutz vor dem Klimawandel nicht bei der Wahlentscheidung (https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/nabu-ist-erschreckt-für-ältere-spielt-klimaschutz-beim-wahlverhalten-geringe-rolle/ar-AAO1kw0). 

Badious Überlegungen zur Demokratie in extrem verknappter Form: »Die zerstörerische Kraft des demokratischen Wahrzeichens konzentriert sich in dem von ihm geprägten Subjekt-Typus, dessen wesentliche Eigenschaft – um es mit einem Wort zu sagen – der Egoismus, das Begehren des kleinen Genusses ist.« In der Folge stehen wir vor der (schon in der Antike bestehenden) Alternative »Kommunismus (auf neu zu erfindenden Wegen) oder die Barbarei der Faschismen (die sich bereits neu erfunden haben).«

Demokratie als Herrschaftsform des Egoismus, die zum Faschismus führt – das wird uns als Bewohner*innen der demokratischen Welt absurd und geradezu ketzerisch erscheinen. Wenn wir aber kurz innehalten und uns an die Ereignisse in den 1990ger Jahren erinnern, als in Deutschland Menschen und Häuser brannten, der Volkswille auf der Straße von der Politik mit einer Verschärfung und Aushöhlung der Asylgesetze beantwortet wurde und rechtsextreme Parteien große Wahlerfolge feierten – und wenn wir in Folge des humanitären Versagens der EU im Jahr 2015 und der damit verbundenen Fluchtbewegungen das Erstarken der rechtsnationalistischen AfD und des rechtsnationalen Flügels in den Unionsparteien bedenken, die sich ihre Legitimation an der Wahlurne holen, werden uns Badious Überlegungen eventuell noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Was natürlich noch nicht bedeuten muss, ihm zuzustimmen.

Zum Text:

“All dem zum Trotz, was Tag für Tag das Ansehen der Demokratie beschädigt, bleibt das Wort »Demokratie« doch zweifellos das Wahrzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft. … Das heißt, …, Sie können ihm gegenüber eine »kritische« Haltung von beispielloser Schärfe einnehmen und etwa den »Terror der Ökonomie« verdammen – man wird es Ihnen nicht übelnehmen, solange Sie es nur im Namen der Demokratie tun … Denn letztlich haben Sie versucht, die Gesellschaft im Namen ihres Wahrzeichens und damit in ihrem eigenen Namen zu verurteilen. Sie haben sich nicht außerhalb ihrer gestellt, sind, wie man so schön sagt, kein Schurke geworden, sondern Staatsbürger geblieben, einer, den man auf seinem demokratischen Posten weiß und den man, keine Frage, bei den nächsten Wahlen sehen wird.”

Badiou unternimmt in seinen Überlegungen den Versuch, genau diese Haltung aufzugeben und sich außerhalb des Wahrzeichens (Aus dem Französischen »emblème« vom Übersetzer mit Wahrzeichen wiedergegeben – darin schwingt der Anklang an Wahrheit und Anspruch auf Allgemeingültigkeit mit – das gewinnt in gewisser Weise etwas Totalitäres.) aufzustellen. Er unternimmt also eine Kritik außerhalb der Demokratie und betrachtet sie nicht mit dem Ziel, sie besser zu machen, sondern um sie besser zu verstehen. 

“Um überhaupt an das Reale unserer Gesellschaft heranzukommen, muss man sich – gleichsam als apriorisches Manöver – von ihrem Wahrzeichen verabschieden. Man wird der Welt, in der wir leben, nur dann gerecht, wenn man das Wort »Demokratie« einmal beiseite läßt und das Risiko eingeht, kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich von »aller Welt« mißbilligt zu werden.” 

Indem sich Badiou außerhalb des Wahrzeichens stellt, stellt er zuerst einmal fest, dass unsere Welt – die Welt im Zeichen des Wahrzeichens – also die demokratische Welt – eben nicht alle Welt ist. “Die Demokraten, Menschen des Wahrzeichens, Menschen des Westens, gehören einer besseren Welt an, …” Und neben dieser Welt – die im eigentlichen Sinne dann ja keine Welt ist, liegt die Welt der Anderen, wo Krieg, Hunger, Elend und Mauern das Leben bestimmen. Und besonders die Mauern sorgen dafür, dass die Welt der Demokraten so schön bleibt, wie sie ist – was nur geht, wenn sie nicht »alle Welt« wird (Dazu verweise ich auf das dringend lesenswerte Buch Neben uns die Sintflut von Stephan Lessenich – https://ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/neben-uns-die-sintflut/).

Innerhalb der Welt des Wahrzeichens – also der Demokratie – hat eine kleine Welt ihren Spaß und eine konservative Oligarchie versieht ihr Amt (und das oft mit den Mitteln des Krieges), das zu verteidigen, was sie sich angeeignet hat.

(In der aktuellen Diskussion um Afghanistan werden immer wieder die westlichen Werte betont – Menschenrechte, Frauenrechte, … – als ob der Westen sich je wirklich und ernsthaft dafür interessieren würde. Als der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr beschlossen wurde, erklärte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) sehr deutlich, worum es bei diesem Einsatz ging: »Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.« Wenn es in der deutschen Außenpolitik wirklich um Menschenrechte ginge, gäbe es viele Einsatzmöglich- und notwendigkeiten oder aber Ansätze einer (Innen- und Wirtschafts)Politik, die aber den deutschen Wirtschaftsinteressen so fundamental entgegenstünden, dass die Menschenrechte in der Welt jenseits des Wahrzeichens zurückstehen müssen. Horst Köhlers Äußerungen in diese Richtung gerade im Blick auf Afghanistan waren von so bemerkenswerter Ehrlichkeit, dass er vom Amt des Bundespräsidenten zurücktreten musste. Und auf die Fußball-WM in Katar hinzuweisen, ist eigentlich zu plakativ. Aber als Plakat dafür, was uns Menschenrechte bedeuten, vielleicht trotzdem hilfreich.)

Badiou nun nimmt einen Standpunkt außerhalb des Wahrzeichens ein und wählt dafür den Philosophen als Gewährsmann, der als erster eine fundamentale Kritik an der Demokratie geübt hat – Platon. (An der Stelle sollten wir die im demokratischen Selbstgespräch gerne aufgeführte Kritik Poppers an Platons Politeia vorläufig beiseite lassen und später noch einmal einer eigenen Kritik unterziehen.) Badiou sieht das Reaktive in Platons Ansatz und sieht in seiner Lösung – der Aristokratie – keine sinnvolle Alternative (Auch hier wäre noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Aristokratie bei Platon sich von dem unterscheidet, was wir heute darunter verstehen. Denn es war keine degenerierte Erb-Aristokratie, sondern im wirklichen Wortsinn die kollektive Herrschaft der Geeignetsten – und auch an diesem Konzept bleiben noch ausreichend Kritikpunkte übrig.). 

Aber Analyse und Kritik Platons nimmt er auf.

“Platons Kritik der Demokratie ist jedoch weit davon entfernt, nur reaktiv oder aristokratisch zu sein. Sie zielt sowohl auf das Wesen einer Wirklichkeit, die im Staat von der demokratischen Form geprägt ist als auch auf das Subjekt, das von einer derart geprägten Wirklichkeit hervorgebracht wird – ein Subjekt, das Platon den »demokratischen Menschen« nennt.

Die beiden Thesen Platons lauten:
1.) Die demokratische Welt ist nicht wirklich eine Welt
2.) Das demokratische Subjekt konstituiert sich ausschließlich im Sinne des Genusses.

Diesen Gedanken führt Badiou dahingehend aus, dass das Wesen des demokratischen Subjekts der Egoismus sei – die dionysische Zügellosigkeit der Jugend und die Gier der Alten, nicht hinter der Jugend zurückzustehen. Und in der Egalität – der Gleichheit aller Dinge und Entscheidungen geht die Welt verloren, die immer nur durch Differenzierungen aufscheint. Einzig Wert hat das Urmaß aller Werte – nämlich das Geld. Und damit verbunden die Apparatur, die es schützt, also Polizei, Justiz und Gefängnisse.

Wenn aber nach Badiou der Egoismus das Wesen des demokratischen Subjektes ist, das sich mit der Verherrlichung der Jugend verbindet und dem das Geld als der eigentliche Maßstab jeglichen Wertes ist – da dieses die Einverleibung aller gleich gültigen Werte ermöglicht – ist die Folge Anarchie (Die Verwendung des Wortes Anarchie ist im höchsten Maße irritierend und so eigenwillig, dass es einer eigenen Klärung bedürfte, die hier nicht geleistet werden kann.). “Diese Anarchie ist nichts anderes als der Wert, der mechanisch Dingen zugeschrieben wird, die keinen Wert haben. Eine Welt aber, in der alles substituierbar ist, ist eine Welt ohne Eigenlogik und folglich keine Welt, sondern nur ein »anarchistisches« Reich des Scheins.

Was den demokratischen Menschen definiert, ist die Anarchie, in deren Geist er aufgewachsen und deren Prinzipien er verinnerlicht hat: das Prinzip der Austauschbarkeit von allem und jedem.”

Das Begehren und die kurzfristige Befriedigung der Bedürfnisse halten alles am Laufen – was die Alten durchschauen. Die Demokratie – so verstanden – macht die Jugend zu einem privilegierten Akteur. »Die Demokratie pfropft dem gierigen Halbwüchsigen einen geizigen Greis auf. Der Junge schmiert die Maschinerie, der Alte sahnt ab.«

(Diesen Überlegungen wäre noch einmal deutlich entgegenzustellen, dass die Überlegungen zu Anarchie mehr als eigenwillig sind und mit Anarchie als politischer Haltung und persönlicher Lebensführung nichts zu tun haben. Und im Blick auf die gierige Jugend ist vielleicht der Verweis angemessen, dass Badiou noch nichts von Fridays for future wusste. Vielleicht ist das Problem nicht die Jugend, sondern – und darauf weist er auch hin – das Alter, das sich mit dem Alter nicht abfinden will. 
Interessant dazu ist die Umfrage des NABU, nach der für einen großen Teil der älteren Wähler*innen eben die Klimaschutzinteressen der jüngeren Generation keine Rolle bei der Wahlentscheidung spielen.)

Die Jugend als Primat der Demokratie – das führt nach Badiou zur Maxime »Have fun«. Allerdings nicht auf die Jugend beschränkt – denn auch die Alten als »demokratische Subjekte« verstehen sich unter dem Zwang.

»Jedenfalls läßt uns Platon unsere Gesellschaft als ein Ineinander von drei Motiven verstehen: der Abwesenheit der Welt; einer von der Zirkulation beherrschten Subjektivität als Wirklichkeit des demokratischen Wahrzeichens; und des Spaß-Imperativs als universeller Adoleszenz.« – ich empfinde das als eine hervorragende Beschreibung dessen, was wir in den letzten Monaten in der Corona-Pandemie erlebt haben.

»Platons These ist, daß eine Gesellschaft, die sich von diesen Motiven bestimmen läßt, notwendig der totalen Katastrophe entgegensteuert, …«

Wir werden es bei dieser Wahl erleben – das, was notwendig wäre, um in der Klimapolitik umzusteuern, verspricht »no fun«. Massive Mobilitätseinschränkungen, radikale Veränderungen des Konsumverhaltens und der Ess-Gewohnheiten werden nötig sein, um für die nächsten Generationen einen lebenswerten Planeten zu erhalten. Was uns aber versprochen wird, ist im schlimmsten Falle ein maßvolles Weiter so. Alle relevanten Parteien, die eine reale Option haben, Teil der Legislative zu werden, versprechen Wachstum – um ihre reale Option – nämlich die, gewählt zu werden – nicht zu verspielen. Und das, obwohl wir (alle) wissen (können), dass es zu einschneidenden Veränderungen kommen muss. Und wird. Denn das Klima zeigt sich nicht sehr kompromissbereit.

Nach Badiou ist die Demokratie nicht die Lösung der Probleme, sie ist die Ursache. Dazu verweise ich noch einmal auf das Repräsentationsproblem in unserer Wahl-Demokratie (https://ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/demokratiediskurse-einige-versuche-ueber-die-realexistierende-demokratie/) – diejenigen, die von den Folgen der Klimakrise am stärksten betroffen sein werden, haben keine Stimme. Und diejenigen, die von den notwendigen Veränderungen betroffen wären – die also am meisten betroffen sein würden – aber statistisch wenig von den Folgen betroffen sein werden, stellen die meisten Stimmen. Und die Umfrage des NABU hat gezeigt, welchen Wert sie den Fragen nach Klimaschutz beimessen.
Oder anders gesagt: Die Weltzerstörung in der Demokratie ist wählbar.

Was stellt Badiou dem Wahrzeichen Demokratie aber entgegen? »Bedeutet Nicht-Demokrat zu sein mithin, (wieder) zu den Alten zählen? Keineswegs … : Wenn die Demokratie eine leere Geldwelt ist, deren Ordnung durch den Todestrieb bestimmt ist, dann kann ihr Gegenteil mitnichten der Despotismus oder der ‘Totalitarismus’ sein. Sondern das wirklich Andere wäre ein Modell, das versucht, die kollektive Existenz dem Einfluß dieser Ordnung zu entreißen. … Wir lehnen es strikt ab, das Schicksal der Dinge weiterhin dem Privateigentum anzuvertrauen.«

Nachdem er die Autorität des Wortes »Demokratie« außer Kraft gesetzt hat, will Badiou es am Ende wieder einholen als echte Demokratie – als Herrschaft der Völker über sich selbst. Aber nicht mehr zur Förderung des Egoismus. »Man sieht also deutlich, daß wir nur dann die Chance haben, echte Demokraten zu bleiben … wenn wir … – wieder Kommunisten werden.«

Die Benennung eines Problems ist mitunter wichtiger und richtiger als die Lösung, die dann angeboten wird. Badiou weist auf fundamentale Probleme unserer Demokratien hin. Und die Ereignisse der letzten Jahre scheinen mir eine sehr gute Illustration seiner Thesen.

Was fehlt, ist eine kritische Beleuchtung des »Wahrzeichens Kommunismus« – das Wort bleibt sehr ungefähr. Wenn darunter aber eine solidarische und gemeinschaftliche Lebenspraxis zu verstehen ist, dann kommt dies dem Ur-Ideal des Christentums sehr nahe. Gemeinschaftlicher Besitz und solidarische Praxis, Gemeinwohl-Interesse vor Schutz des Privatinteresses. Platons Politeia und die Apostelgeschichte unter diesen Gesichtspunkten gelesen könnten eine Inspirationsquelle sein, um an Lösungen zu arbeiten. Aber selbst, wenn die Lösungen nicht überzeugen – und Badiou überzeugt mich nicht – bleibt die Problembeschreibung relevant und seine These von der Re-Faschistisierung der Gesellschaft mehr als nur eine Gruselphantasie eines politisch linken Denkers.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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