Diskurs

Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie

Auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalts durfte ich, Tobias Thiel, am 5.10.22 den Auftakt für die Schulakademie am Elisabeth-Gymnasium in Halle machen. Im Folgenden schreibe ich wesentliche Gedanken meines Inputs, einem Rundumschlag zum Thema, auf und ergänze diese Ideen um Positionen der Teilnehmenden, die ich mit Hilfe von Mentimeter abgefragt habe.

Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie? Ethische Fragen der Digitalität? Das waren Überschriften für meinen Input. Alle, die endgültige Antworten erwarten, muss ich enttäuschen. Mein Zugang zum Thema ist, dass wir – als Gesellschaft – gerade erst mit den Aushandlungen zum Umgang mit der Digitalisierung beginnen. D.h., dass Werte nicht gesetzt sind, sondern „wir“ – als Individuen, in Gruppen, aber auch als Gesellschaft erst prüfen müssen, wie welche Wertkonstrukte aus „vordigitalen“ Zeiten heute gelebt, übernommen oder verändert werden können und müssen. Im Sinne des Titels des Abends geht es darum, das Menschenbild oder unterschiedliche Menschenbilder genauer anzuschauen und für eine digitale Zeit zu aktualisieren, um dann Digitalität menschengerechter gestalten zu können. Da das m.E. ein noch zu führender Aushandlungsprozess zwischen Ihnen als Eltern und Ihren Kindern, zwischen Lehrenden und Lernenden und auf vielen anderen gesellschaftlichen Ebenen ist, werde ich hier keine Lösungen vorschlagen. Vielmehr geht es mir darum Themen dieser Aushandlungen zu benennen und auf grundsätzliche Schwierigkeiten hinzuweisen. Das werde ich an drei Beispielen zeigen, die auf politische Ebene in den letzten Jahren getroffen wurden. Außerdem werde ich Stimmen junger Menschen einspielen, wie sie Digitalisierung sehen.

Als Einstieg und erste Abfrage per Mentimeter würde ich gern mit einer Utopie starten: Wie sieht eine digitale Welt aus, in der die Menschen glücklich sind?

Antworten auf die Frage, wie eine digitale Welt aussehen würde, in der alle glücklich sind.

In einem Artikel aus der Tageszeitung „Die Welt“ vom 21.06.2017 wird z.B. diese Utopie formuliert:

„Für uns Menschen ist Zeit unser wertvollstes Gut. Wir bekommen diese Zeit, die wir heute mit vordefinierten repetitiven Aufgaben verbringen, durch den Einsatz der künstlichen Intelligenz zurück und können sie in den Bereichen einsetzen, die den Maschinen bis auf Weiteres verschlossen bleiben. Es sind genau jene Bereiche, die uns Menschen glücklich machen und wachsen lassen: Kreativität und der Dienst aneinander. Worauf warten wir dann noch? Warum lassen wir viele unserer jetzigen Tätigkeiten nicht von Maschinen erledigen? Warum greifen wir, statt vom ewigen Gestern oder vom fernen Übermorgen zu sprechen, die Gelegenheit nicht beim Schopf?“

Und der Autor fährt fort: „…Entscheidend sind die nächsten drei bis fünf Jahre“.

Ich befürchte, dass dieser Artikel heute noch genauso geschrieben werden würde. Immer wieder erleben wir diese Verheißungen der Digitalisierung. In der Corona-Zeit wurde aber z.B. auch in der Schule deutlich, dass die Praxis dem weit hinterherhinkt, technische Ausstattung, sozialer Ausgleich und vor allem aber auch inhaltliche Konzepte fehlen. Das würde ich heute aber gern außen vorlassen, weil das ein eigenes abendfüllendes Thema wäre. Fünf Forderungen zur Schulentwicklung finden Sie in der Dokumentation der Online-Veranstaltung „Corona als Brennglas und Chance„, die in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der GEW Sachsen-Anhalt am 25.2.2021 stattfand. Aber nicht nur in Bezug auf die Schule stehen wir vor großen Herausforderungen.

Antworten auf die Frage nach den größten Herausforderungen der Digitalisierung

Bei den folgenden Überlegungen sollte man sich vor Augen führen, dass die Digitalisierung erst mit dem Smartphone zum Alltagsphänomen wurde. Das begann mit der Präsentation des ersten iPhones vor etwas mehr als 15 Jahren, also weniger als einer Generation. D.h. die Schülerinnen und Schüler sind mit dem Smartphone groß geworden, bei ihrer Geburt hatten die Eltern aber noch keine Idee davon, dass das Smartphone ein relevantes Thema der Erziehungsarbeit sein könnte.

Seit ca. 10 Jahren versucht Politik intensiver und zielstrebiger auf verschiedenen Ebenen Regelungen für eine digitalisierte Welt zu treffen. Die Ergebnisse sind bisher allerdings nur mäßig, weil oft das Grundverständnis für Digitalität fehlt, vor allem aber die Regulierungsmechanismen der alten Industriegesellschaft nicht mehr funktionieren. Ich will das an drei Beispielen zeigen, die sicher die meisten gut kennen.

Mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung von 2016 sollten vor allem die Daten der das Internet nutzenden Menschen geschützt werden. Ein maßgeblicher Hintergrund ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es in Deutschland 1983 durch das sogenannte „Volkszählungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts als Grundrecht anerkannt wurde (Quelle: Wikipedia). Die Selbstbestimmung über die Daten – ursprünglich definiert als Abwehrrecht gegen den Staat –  funktioniert aber nicht – oder zumindest nicht als einziges Regulierungsprinzip – in einem datengetriebenen Kapitalismus:

  • Daten sind die Finanzierungsgrundlage und wesentlicher Bestandteil des Geschäftsmodells.
  • Im marktwirtschaftlichen Wettbewerb werden besonders oft Grauzonen genutzt.
  • Personalisierte Werbung wird belohnt.
  • Die Selbsbestimmung über Daten ist als Aushandlungsinstrument zwischen unterschiedlich starken Marktteilnehmenden, z.B. Konsumenten und globalen Konzernen, ungeeignet.

Einwilligung wird so zur Formalität. Oft klickt man es einfach weg. Bei manchen Zeitschriften z.B. kann man sich zwischen bezahlen in Geld oder mit Daten entscheiden. Wenn man sich bei einer Webseite für die datensparsamste Ansicht entscheidet, sind oft nicht alle Inhalte zugänglich, manchmal einfach deshalb, weil z.B. Youtube-Inhalte nicht datensparsam eingebunden werden können.

Ein weiterer Nebeneffekt. Viele private inhaltliche Seiten verschwanden aus dem Netz, weil der Aufwand für eine Datenschutzerklärung ihnen zu groß erschien. Seiten bei großen Internetplattformen betraf das weniger, weil dann die Anbieter für Rechtssicherheit sorgten. (vgl. dazu Malte Engeler: Wie falsch verstandener Datenschutz wirksame Regulierung verhindert, auf tagesspiegel.de.)

Bei einem anderen Thema zeigte der Regulierungsversuch ähnliche Folgen, obwohl schon 2019 europaweit tausende Jugendliche auf der Straße darauf hinwiesen, dass z.B. Uploadfilter nicht von Individuen und kleineren Unternehmen vorgehalten werden können. Deshalb demonstrierten sie gegen die Europäische Urheberrechtsreform.

Grundsätzlich ist der Schutz der Rechte von Urheberinnen und Urhebern ein legitimes politisches Ziel. Das Ergebnis ist auch hier, dass Menschen, die heute rechtssicher Videoinhalte hochladen will, am besten den größten Anbieter Youtube nutzen. Diese Plattform hat einen guten Uploadfilter, der die Inhalte prüft und bei Bedarf haftet. Am Ende zwingt eine gut gemeinte Regulierung zu Nutzung von Plattformen großer monopolartiger Konzerne.

Der Nebeneffekt für – nicht nur – junge Menschen an dieser Stelle ist, dass sie weiter in großer Rechtsunsicherheit das Netz nutzen. Wenn sie „remixen“, also Inhalte neu zusammenstellen, sind sie immer in einer rechtlichen Grauzone. Z.B. wenn sie ein Meme – ein meist humoristisches Bild mit kurzem Text – teilen, oder eine Musikvideo hochladen.

Falschinformationen und Hassrede verunsichern Millionen von Menschen. Die Demokratie ist in Gefahr,

  • wenn ich nicht mehr weiß, auf welche Informationen ich mich verlassen kann
  • wenn ich bei einer Meinungsäußerung mit ungerechtfertigten, persönlichen, ehrverletzenden und hasserfüllten Antworten rechnen muss – und das dann oft in einer nicht mehr zu beherrschenden Anzahl

Regulierungsversuche hier beziehen sich wie in den beiden o.g. Beispielen auf die großen Plattformen, die das in Eigenverantwortung übernehmen sollen. Für Rechtssicherheit bräuchte es aber einen massiven Aufwuchs in der Justiz, um deutlich zu machen, dass auch in digitalen Räumen Rechtssicherheit herrscht.

Ich habe die Beispiele nicht gebracht, um Politik und politisches Handeln zu diskreditieren, sondern um zu zeigen, wie schwer es selbst auf hohen politischen Ebenen ist, einer digitalen Welt angemessene Regulierungen zu treffen, die nicht Monopole stärken und der Zivilgesellschaft das Leben erschweren. Diese Versuche sind gut gemeint, aber nicht unbedingt gut. Und meine These dazu ist, dass die Grundsätze der digital vermittelten Welt noch nicht genug im Blick sind.

Die eine Aufgabe wäre es also, dass wir darauf drängen, dass Gesetze und Verordnungen Digitalisierung mehr in den Blick nehmen. Für das Urheberrecht könnte die Fair-Use-Regel ein Beispiel sein, wie sie z.B. in den USA gilt. Damit bleiben kleinere, nicht kommerzielle Verletzungen des Urheberrechts in der Regel straffrei. Für die Verfolgung von Hass-Kriminalität und Fake News sollte es in allen Bundesländern genügend Ressourcen geben. Jan Böhmermann hat im „ZDF Magazin Royal“ Ende Mai gezeigt, dass das auch in Sachsen-Anhalt nicht der Fall ist.

Für das Zusammenleben sind aber auch die Aushandlungsprozesse wichtig, die auf anderen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden. Schule ist da ein wichtiger Ort, ebenso wie Familien. Hier ist es besonders wichtig, dass diese Aushandlungen auf Augenhöhe stattfinden. Denken Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, immer daran, dass die Jugendlichen, die ersten sind, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind. Sie sind deshalb nicht automatisch Digital Natives – dazu ist die digitale Welt inzwischen viel zu kompliziert – aber es könnte sein, dass sie ihnen etwas zu sagen haben.

Als Junge Akademie der Ev. Akademie Sachsen-Anhalt haben wir 2017 gemeinsam mit der Leopoldina das Projekt „Digitales Ich – digitales Wir“ mit dem damaligen Herder-Gymnasium in Halle durchgeführt, bei dem vier Beiträge mit Sichtweisen junger Menschen – entstanden sind. Zwei Beiträge möchte ich ihnen zeigen. Sie werden sehen, dass die Erwartungen auf die digitale Zukunft mindestens ziemlich durchwachsen sind.

https://youtu.be/-DD9l_Itd8k – Eine Geschichte über den digitalen Alltag, wie sie ihn sich die jungen Menschen für 2030 vorgestellt haben. Vieles erinnert aber schon sehr an den heutigen Alltag.

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Mensch und Maschine verschmelzen. Eine Utopie wird zur Dystopie.

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Den Bericht zum Projekt sowie alle Videos findet man auf www.j-a-w.de/digitales-ich.

Die beiden Beispiele würde ich gern als Ende meines Inputs stehen lassen und freue mich jetzt auf Meinungen, Erfahrungen, Rückfragen.

Das nehme ich mit - das ist offen
Das nehme ich mit - das ist noch offen - Seite 2
Schlagwörter: Digitalisierung

Tobias Thiel

Studienleiter für gesellschaftspolitische Jugendbildung
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