Eines Nachts in Wien
eiltest Du leicht bekleidet,
wie in einem Wolkentraum,
zum Haus der Nachbarin,
die dir oft von ihren Geranien erzählte,
die dir oft ein Stück Apfelstrudel schenkte
und die Schlüssel zu deinem Haus besaß.
Sie erkannte dich nicht.
Du warst bereits eine Jüdin.
Alles, was dich umgab,
war jüdisch:
jüdisch der Geruch,
jüdisch die Kleidung,
jüdisch der Tod.
Sie sagte, sie habe es eilig
sie habe keine Zeit, noch einen Juden zu retten,
während in ihrem Geraniengarten die Bücher brannten.
Marjorie Agosin; aus: Engel der Erinnerung –
mit freundlicher Genehmigung des Verlags Schiler und Mücke
https://www.schiler-muecke.de
Marjorie Agosin imaginiert in diesem eindrücklichen und schmerzhaften Gedichtband die Erinnerungen ihrer Urgroßmutter, die als Jüdin im Jahr 1939 nach Chile flüchten musste. Was in der Nacht in Wien geschah, geschah genauso in Wittenberg. In Berlin. In Leipzig. In Hamburg, München und Bonn und und und … Es ist heute eine unserer Aufgaben, die Erinnerung wachzuhalten.