Faszinierend an den Avenger-Filmen von Marvel ist ihr quasi dystopisch-utopischer Gehalt, der eine neue Perspektive auf unsere Gegenwart öffnet. Waren die Utopien durch die Jahrhunderte und die Dystopien des vergangenen Jahrhunderts davon geprägt, der Welt eine bessere Kopie als Motivation oder eine schlechtere als Abschreckung anzubieten, kämpfen im Marvel-Universum die Held*innen vor allem darum, dass die Welt so bleibt, wie sie ist – oder wieder so wird.
Das lässt uns einen spannenden Blick auf das werfen, was wir im gegenwärtigen Wahlkampf erleben. Denn die große Verheißung und das, was im Wahlkampf offenbar am meisten bei den Wähler*innen punktet, ist das Versprechen, dass alles so bleiben wird, wie es ist. Die Fortsetzung des Gegebenen nicht mit anderen Mitteln, aber auch unter anderen Bedingungen. Wir alle wissen, dass dies eine Illusion ist. Und trotzdem wirbt die eine Partei damit und ist die andere damit erfolgreich – ob das an den Kandidaten liegt oder nicht.
Aber ein zweites fällt auf. Keine Partei und kein*e Kandidat*in versucht sich im Wahlkampf mit einer »Blut-Schweiß-und-Tränen-Kampagne«. Alle Parteien reden vom Mehr für Alle, vom Wachstum und von einer Verbesserung der Lebensbedingungen: ein Bedingungsloses Grundeinkommen, höhere Renten, mehr Mindestlohn.
Und es ist nicht einmal die wirklich entscheidende Frage, wer das alles bezahlen soll. Denn Geld wäre genug da. Die eigentlich wesentliche Frage ist: Wer hat das bisher bezahlt? Wer hat die letzten Jahrzehnte – oder sollten wir von Jahrhunderten reden – dafür gesorgt, dass wir in Europa zu dem Wohlstand gekommen sind, den wir heute haben.
Und den wir erbarmungslos an den Grenzen Europas und mit Freihandelsabkommen mit dem globalen Süden verteidigen?
Anders gefragt: Was macht unsere Demokratie so erfolgreich, die sich auf die Verteilung von Wohltaten gründet? Eine Antwort gibt ein wichtiges Buch, das wir alle zur Kenntnis nehmen sollten: Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis
Geschrieben hat dieses Buch Stephan Lessenich im Jahr 2016. Lessenich ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war von von 2013-17 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Eine Kernaussage seines Buches: »Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse anderer.«
In 5 Kapiteln listet er das Versagen des globalen Nordens auf – ein Versagen zulasten des globalen Südens – wo die Menschen den Preis für unseren sozialen Frieden zahlen. Und er macht dies als Soziologe.
Dazu: »Aber wie auch immer dem sein mag: Soziologie ist keine Sozialtherapie. Und sie ist auch keine Morallehre. Wann immer sich dieses Buch als eine solche gelesen haben mag, dürfte dies eher ein Nachfrage- denn ein Angebotseffekt gewesen sein, eher ein selbstbefragender Reflex der Leserinnen und Leser als die pädagogisierende Absicht des Verfassers. Es ging hier nämlich nicht darum, dem System oder den Leuten moralisches Versagen vorzuwerfen, der Externalisierungsgesellschaft die Leviten zu lesen – dies sei Moralphilosophen und Wirtschaftsethikerinnen überlassen. Eine kritische Sozialwissenschaft hingegen geht anders vor. Sie nutzt den Zeigefinger zum Zeigen und nicht zum Mahnen. Sie verweist auf Macht und Herrschaft statt auf Moral und Gewissen, benennt strukturelle Bedingungen statt ethischer Prinzipien, stellt Selbstverständlichkeiten von Alltagspraktiken bloß und nicht die Empathiefähigkeit der Handelnden in Frage.«
Ich habe das Buch als moralischen Imperativ gelesen. Und dieser Imperativ kam aus dem Wissen, dass mein – dass unser aller Leben hier im globalen Norden – nur auf Kosten anderer Menschen so sicher und angenehm ist. Das ist keine Frage individueller Schuld. Und nicht alle tragen die gleiche Verantwortung für diese Zustände. Aber egal, wie viel Schuld wir auf uns laden oder wie viel Verantwortung wir dafür tragen – wir alle profitieren davon.
Die Analysen des Buches und die Fakten sind überprüfbar. Und ich lade dringend ein, dieses Buch aufmerksam zu lesen.
An einem Punkt möchte ich deutlich machen, dass wir alle im globalen Norden in der Verantwortung sind – mit einigen Ausnahmen natürlich: Der Kategorische Imperativ Kants – und auf diesen verweist Lessenich – besagt relativ schlicht, dass ich mich so verhalten oder ich so leben solle, dass mein Handeln verallgemeinerbar sei. Ich solle mir also vorstellen können, dass alle Menschen so handeln und leben wie ich. Und wenn ich mir das vorstellen und wünschen könne – solle ich so leben. Wenn ich es mir nicht vorstellen könne, sei mein Handeln und Leben unmoralisch.
Der Kategorische Imperativ ist also keine Moralanweisung, sondern eher der Maßstab für das, was moralisch ist und was nicht.
Stellen wir uns jetzt mal vor, dass alle sieben oder acht Milliarden Menschen einen gleich großen ökologischen Fußabdruck hätten wie wir – wie lange würde unser Ökosystem das überleben? Der Earth-Overshoot-Day – also der Tag, an dem die nachwachsenden Ressourcen aufgebraucht sind, die wir weltweit für ein Jahr zur Verfügung haben, war in diesem Jahr am 29. Juli. (Im Jahr 1970 war er am 29.12.; 2000 am 23.09.; 2010 am 07.08. – Einfach gedacht: Wenn wir pro Jahr 365 Kartoffeln hätten, hätten diese 1970 noch bis zum 29. Dezember gereicht. Bis zum 1. Januar hätten wir die Weihnachtskalorien abbauen können und dann neue Kartoffeln bekommen. Heute im Jahr 2021 essen wir schon seit dem 29. Juli Kartoffeln, die noch gar nicht gewachsen sind.) Seitdem leben wir auf Pump und verbrauchen die Ressourcen von 2022. Diese Ressourcen wurden aber zum größten Teil für das Leben im globalen Norden verbraucht – also für uns.
Es gibt ein massives Gerechtigkeitsdefizit. Denn nicht nur kommt uns der Nutzen dieser Ressourcenverschwendung zu gute. Wir bleiben im Moment auch noch einigermaßen von den unmittelbaren Folgen verschont – zumindest in Deutschland. Armut, Raubbau an der Natur und der Gesundheit der Menschen, Zerstörung von Lebensgrundlagen für alle Lebewesen – all das findet zum überwiegenden Teil im globalen Süden statt und betrifft die Armutsregionen ebenso wie die Schwellenländer.
Wenn wir uns aber nicht vorstellen können, dass alle Menschen in gleicher Weise wie wir Ressourcen verbrauchen – in Deutschland haben wir einen Verbrauch, für dessen Befriedigung wir durchschnittlich drei Erden pro Bundesbürger*in benötigen (Für alle, die es nicht wissen: Wir haben aber nur eine.) – ist es moralisch nicht gerechtfertigt, dass wir so leben. Zumindest nicht, wenn uns die “europäischen Werte” und die “universellen Menschenrechte” mehr bedeuten als bloße Floskeln für die Reden des Bundespräsidenten oder der EU-Kommissionspräsidentin.
Die Externalisierungsgesellschaft: Das ist eine Gesellschaft, die die Probleme und Kosten für das eigene Leben auslagern kann – ihren Müll etwa – und Optionen in Form von Rohstoffen und Dienstleistungen hereinholt. Und dabei strikt darauf achtet, dass die Probleme draußen bleiben. Probleme – das sind vor allem die Menschen, auf deren Kosten wir leben und denen wir die Grundlage zum Leben genommen haben. Das sind die Menschen, die zur Zeit an den Grenzen Europas sterben oder in noch größerer Zahl als Geflohene im eigenen Land oder in selbst von Armut betroffenen Nachbarländern leben oder auf der Flucht sind.
Aber – und auch das gehört dazu – die Folgen unseres Lebensstil und unseres Ressourcenverbrauchs rücken auch uns näher. In Gestalt der Hungernden und Verzweifelnden, die wir nicht sehen wollen und die wir uns mit Frontex und Dublin-Gesetzgebung versuchen, aus dem Bewusstsein zu halten, ohne das Leid wirklich noch ignorieren zu können. Und genauso auch die Folgen des vor allem von uns und für unsere Art zu leben verursachten Klimawandels in Gestalt von Extremwettern zeigen uns, dass die Zeit der Externalisierung vorbei ist.
Ein Weiter-So wird es nicht geben. Wer das verspricht, spielt nicht nur mit der Zukunft unserer Kinder und Enkel – wir reden noch vom Jahr 2050, in dem die Folgen des Klimawandels deutlich spürbar werden – sondern spielt auch mit der Gegenwart der Kinder und Eltern und Großeltern von Milliarden Menschen heute – unserer Nachbar*innen im globalen Süden und deren unantastbarer Menschenwürde.
Eine provokante These zum Schluss – es gibt (nicht nur nach Überzeugung von Stephan Lessenich) einen fundamentalen Zusammenhang zwischen den katastrophalen Verhältnissen im globalen Süden und dem Klimawandel UND der Demokratie im globalen Norden – also unserer Demokratie, die Frau Dr. Merkel einmal eventuell unfreiwillig ehrlich eine marktkonforme genannt hatte.
Parteien gewinnen Wahlen durch Wohlstandsversprechen, die eine Externalisierung nötig machen – mit all den Folgen. Und der Aufwind rechtsextremer und rechtsnationalistischer Parteien wie der AfD in Deutschland in Folge der politisch entlarvend als Flüchtlingskrise bezeichneten Zuwanderung von Menschen nach Europa zeigen, dass wir nicht bereit sind, unsere Verantwortung zu sehen und die Kosten – die wir verursachen – zu begleichen.
Aber die Verschiebung unserer Probleme in den globalen Süden oder in die Zukunft unserer Kinder wird auf Dauer nicht funktionieren. Die Probleme klopfen an unsere Mauern und werden sich nicht aufhalten lassen.
Zur Wahl haben wir die Wahl. Wollen wir Augen und Ohren verschließen oder stellen wir uns der Wirklichkeit, an der wir mitschuldig sind – ob wir wollen oder nicht.
Veränderung erfordert Einsicht und Einsicht gewinnen wir durch Wissen.
Neben uns die Sintflut, Hanser-Verlag – ISBN: 978-3-446-25295-0 für 20 €
oder als Taschenbuch im Pieper Verlag – ISBN: 978-3-492-31269-1 für 11 €
Kapitel 1 Neben uns die Sintflut
Kapitel 2 Externalisierung – Soziale Ungleichheit relational gesehen
Kapitel 3 Leben und sterben lassen – Externalisierung als ungleicher Tausch
Kapitel 4 Drinnen gegen draußen – Externalisierung als Mobilitätsmonopol
Kapitel 5 Wir müssen reden – Wegdenken war gestern