Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte
IX.
Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb‘ ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.
Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
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Wir befinden uns in einem Doppelstockbus, in dem wir gemeinsam auf einen Abgrund zufahren. Im Bus gibt es verschiedene Bereiche und verschiedene Gruppen, die sich uneinig sind, wie die Fahrt weitergehen soll.
Die Bereiche: Im oberen Teil gibt es den vorderen Bereich mit Beinfreiheit, Panoramafenster und Versorgung mit Getränken und Speisen. Außerdem verfügen die Passagiere über Sicherheitsinstrumente (von denen allerdings keine weiß, ob und wie sie arbeiten werden). Im hinteren Bereich des Oberdecks ist die Aussicht und die Versorgung immer noch ansprechend, wenn auch die Beinfreiheit nicht ganz so groß.
Unten ist die Aussicht nicht wirklich gut und die Motorgeräusche sind zu hören. Und während es vorne immer noch Sitzplätze gibt und hin und wieder eine kleine Nascherei, müssen hinten die Leute dicht gedrängt stehen oder auf dem Boden sitzen.
Die Gruppen: Bestimmt wird die Gesellschaft von einer Gruppe, die weiß, dass der Bus auf einen Abgrund zufährt, die aber davon überzeugt ist, dass sich das Problem mit Technologieoffenheit vielleicht lösen lässt. Ja, der Abgrund ist real, aber vor einiger Zeit hätte auch kein Mensch geglaubt, dass es Busse geben könne, mit denen es sich auf einen Abgrund zufahren ließe. Also gibt es keinen Grund, die Fahrt zu verlangsamen, solange sich die besten Leute im Bus Gedanken machen, wie entweder der Abgrund nivelliert oder der Bus bodenhaftungsfrei gemacht werden könne.
Eine zweite Gruppe, die immer mehr Zulauf bekommt, leugnet schlicht den Abgrund, den die Systemfahrgäste (!) nur erfunden hätten, um den status quo zu erhalten, das Recht auf freie Fahrt für freie Bürger (!) zu beschränken und fordert Beschleunigung.
Eine kleiner werdende Gruppe ist prinzipiell auch bereit, neuer Technik eine Chance zu geben, will aber, dass die Leute, die unten im vorderen Bereich sitzen, etwas mehr von der Versorgung im Oberdeck bekommen. Außerdem sollen die Leute im hinteren Bereich unten auch die Möglichkeit auf einen Sitzplatz haben. Theoretisch. Wenn sie sich motivieren lassen.
Dann gibt es noch ein paar kleine Grüppchen, von denen eine vollkommen an Relevanz vollkommen verloren hat, weil sie das vorsichtige Infragestellen des Abgrundes und die Idee einer naturwissenschaftlich unhaltbaren Technologieoffenheit verbunden hat mit der Forderung, dass den Leuten im oberen Teil des Busses noch mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssten, da diese das naturgemäß verdienen würden.
Die zweite der Grüppchen nimmt den Abgrund wirklich sehr ernst, fordert deshalb zwar nicht, den Bus anzuhalten, aber immerhin die Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren und den Kraftstoff für den Antrieb auszutauschen. Für diese Forderung, die zwar nicht wirklich etwas an der Richtung ändern würde, die aber doch am vernünftigsten scheint, werden sie von allen anderen im Bus beschimpft und regelmäßig abgestraft.
Das letzte Grüppchen ist von einem tiefen Fortschrittsglauben durchdrungen, will aber die Privilegien der oberen Mitreisenden radikal abschaffen, den Champagner an alle verteilen und die zweite Gruppe im hinteren Busteil unten zusammendrängen und marginalisieren (was zwar auch vernünftig wäre, aber auch nichts ändern würde). Deshalb wird sie auch von den anderen beobachtet. Im Übrigen wäre sie bereit, über die Geschwindigkeit zu diskutieren.
Über die Marginalisierung der zweiten Gruppe denken alle anderen auch nach, da diese zugleich entschlossen sind, unliebsame Mitreisende bei beschleunigter Fahrt aus dem Bus zu werfen. Aber während das diskutiert wird, gewinnt die zweite Gruppe mit Versprechungen an die Leute im hinteren unteren Busteil, dass für all die liebsam Mitreisenden viel mehr Platz wäre, wenn sie am Steuer säßen, immer mehr Einfluss.
Was sich alle nicht vorstellen können: Anhalten. Denn das würde das Wohlbefinden aller beeinträchtigen und den Fortschritt (das Vorwärtskommen) behindern. Die wenigen, die das vorschlagen, werden isoliert und sanktioniert.
Alle anderen im Bus werden regelmäßig aufgefordert abzustimmen, wessen Vorstellung bestimmend sein soll – denn das »Weiter so« ist im Gegensatz zum »Weiter wie« alternativlos.
Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Walter Benjamin: Passage-Werk N 9a,1