Diskurs

Wir müssen uns vor der Demokratie schützen …

Über die Leere eines Begriffs

Demokratie ist ein Plastikwort. Plastikwörter — so nennt Uwe Pörksen Wörter, die ohne jeden Aussagegehalt sind, aber immer stimmen und gegen die sich sinnvoll nichts einwenden lässt.

Fortschritt. Entwicklung. Technologie. Freiheit. Gerechtigkeit. Und eben Demokratie.

Wer wollte etwas gegen Demokratie sagen? Für mehr Demokratie kämpfen linke aktivistische Gruppen, die für mehr Klimaschutz und stärkere Regulierung von Banken engagiert sind. Für mehr Demokratie ist selbstverständlich die Mitte der Gesellschaft — was auch immer diese Mitte ist. Und selbst der gesichert rechtsextremistische Landesverband der AfD in Sachsen Anhalt ist für Demokratie und fordert die Bürger*innen auf, wählen zu gehen.

Wenn wir also aufgerufen werden, die Demokratie zu schützen – um wessen und um welche Demokratie geht es da eigentlich?

Neben der Einordnung als Plastikwort ließe sich Demokratie auch als Allgemeinbegriff klassifizieren – wie etwa Lebewesen. Unter Lebewesen lassen sich so unterschiedliche Arten zusammenfassen, dass der Aussagegehalt des Wortes vereinfacht nur noch ist: Stoffwechselt. Und das gilt für Einzeller wie für Gänseblümchen, Fliegenpilze und Menschen.

Demokratie braucht also in Analogie dazu eine Näherbestimmung, damit wir wissen, wovon wir sprechen und was wir gegebenenfalls schützen wollen.

Nun fällt bei den Verteidiger*innen der Demokratie auf, dass es für sie fundamental wichtig ist, andere zum Wählen zu animieren. Vorzüglichster Akt des Demokratischen ist die Abgabe der eigenen Stimme an eine*n Kandidat*in und eine Partei. Und regelmäßig wird von Demokrat*innen, die sich gegen rechtsextremistische Bestrebungen der AfD und anderer rechten Parteien einsetzen, der geradezu moralische Imperativ erhoben, doch bitte der demokratischen Pflicht nachzukommen und sich an den Wahlen zu beteiligen. Dabei galt über lange Zeit die Formel: Hohe Wahlbeteiligung stärkt die Mitte und schwächt vor allem faschistische Ideologien.

In Thüringen und Sachsen war die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl signifikant höher – gestärkt wurde aber der rechte Rand mit dem Faschisten Höcke in Thüringen und der ebenfalls gesichert rechtsextremistische AfD in Sachsen.

Vielleicht ein Moment der Irritation und Besinnung. Denn wenn die Wahl das vorzügliche Mittel der Demokratie ist, weil in ihr der Volkswille seinen Ausdruck findet — das Volk (was auch immer das ist) sich aber für eine Ideologie der Ungleichheit und eine faschistische Partei entscheidet, kann der Aufruf wählen zu gehen, um die Demokratie zu stärken oder zu retten, nicht ernsthaft vorgebracht werden.

Natürlich wenden jetzt viele ein: Demokratie ist mehr als wählen. Aber das ist eine persönliche und moralische Überzeugung, die sich in keiner gesetzlichen Regelung festmachen lässt. Es gibt keinen Zwang, mehr zu tun — dafür aber die Freiheit, Parteien zu wählen, die ein Demokratie-Verständnis haben, gegen dass sich eine zivile Gesellschaft natürlich zur Wehr setzen muss — auch gegen den in Wahlen erklärten Volkswillen.

Die wenigen Mütter und vielen Väter des Grundgesetzes wussten das und haben deshalb Spielregeln eingeführt, die diesen Volkswillen begrenzen. Die Würde des Menschen ist unantastbar und bleibt es auch — selbst, wenn die AfD die Bundeskanzlerin stellt. Es gilt nicht der Volkswille, sondern das Rechtssystem. Solange die Bundesrepublik Deutschland besteht, wird der Volkswille nomokratisch eingehegt durch die Gesetze. 

Deshalb wäre der Ruf der Stunde nach meiner Überzeugung: Wir müssen den Rechtsstaat schützen!

Und hier kommt es nun zur größten Irritation, die weitaus dramatischer ist als der Wahlerfolg der Rechtsextremist*innen: Die ehemals konservativen Parteien CDU und CSU und die FDP engagieren sich nicht mit der Zivilgesellschaft gegen rechts, sondern starten einen konzertierten Angriff auf das Grundgesetz — der Vorsitzende der CSU expressis verbi. Statt sich für die unverlierbare Würde aller Menschen einzusetzen und den zutiefst humanen Charakter des Grundgesetzes hervorzuheben, der aus der Erfahrung der Barbarei des Dritten Reiches erwachsen ist, beginnt ein Überbietungswettbewerb darum, das Grundgesetz zu schleifen, Grundrechte abzuschaffen und Gesetze zu machen, die von den neuen Faschist*innen gefordert werden. Wer die migrationsfeindlichen Angriffe in der 90er Jahren noch erinnert — auch damals war das die Antwort der politisch Verantwortlichen aus CDU und CSU.
Und in diesem Überbietungswettbewerb wirft der Generalsekretär der CDU dem AfD-Vertreter in der Runde aus Berlin ernsthaft sinngemäß vor: Ihre Partei redet immer nur, wir handeln. Oder wie es der Parteivorsitzende der CDU formulierte: Die CDU sei die AfD mit Substanz.

Bei Wahlprognosen kommen diese Parteien, die bereit sind, rechtsstaatliche Prinzipien und das Grundgesetz auszuhöhlen, auf eine überwältigende Zustimmung für ihre Aussagen — nicht nur in Sachsen und Thüringen. Was meint in diesem Zusammenhang: Demokratie stärken? Müssten wir uns nicht vor der Demokratie schützen, was nichts anderes heißt, als gegen den Willen der Wähler*innen agieren — eben weil uns das Grundgesetz vor der Willkür des Volkswillens schützt und wir das Grundgesetz und den Rechtsstaat vor dieser Volksherrschaft schützen müssen.

Den Rechtsstaat stärken, indem staatliche Institutionen vor dem Zugriff extremistischer Parteien geschützt werden – das ist das Gebot der Stunde. Aber es ist ein mühsamer Kampf, weil dem offensichtlich Parteiinteressen entgegenstehen. Obwohl sehr klar und deutlich ausgearbeitet vorliegt, was getan werden müsste und könnte, um rechtsstaatliche Institutionen vor Übernahme durch Rechtsextremist*innen zu schützen, passiert dies nicht, weil Parteien es aus welchen Gründen auch immer verzögern.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen des  Politikwissenschaftlers Arne Semsrott. Er schlägt vor, die Verwaltung — also die Bürokratie — gegen eventuell demokratisch gewählte Parteien widerstandsfähig zu machen durch eine Anleitung zum Widerstand. Im Kafka-Jahr die Hoffnung für die Demokratie (von der gar nicht klar ist, was mit ihr gemeint ist) auf die Bürokratie zu setzen, hat schon etwas höchst ironisches. Und — in gewisser Weise — etwas anti- oder undemokratisches.

Demokratie schützen – was damit gemeint ist, muss dringend geklärt werden. Wie wollen wir dieses bedeutungsleere Plastikwort mit Bedeutung füllen, den Allgemeinbegriff präzisieren? Was genau wollen wir schützen – notfalls auch gegen den Volkswillen?
Wie also wollen wir zivile Errungenschaften gegen populistische Parteien schützen – auch, wenn diese quasi demokratisch qua Wahl legitimiert werden?

Die Fragen, auf die wir dringend Antworten finden und geben müssen:

Wie schützen wir unseren Rechtsstaat? 
Wie definieren wir Demokratie im Rechtsstaat? 
Wie muss dann unsere gesellschaftliche Ordnung so gestaltet werden, dass wir das garantieren können?
Und das alles mit dem Wissen um die dramatischen Konsequenzen, die die Klimakrise und die damit einhergehenden Migrationsbewegungen hervorbringen.

Auf die Parteien mit ihren Partikularinteressen kann sich eine Zivilgesellschaft nicht verlassen. Hierzu bedarf es gesellschaftsumgreifender Räume mit allen Akteur*innen wie Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen, Gruppen und Einzelpersonen.
Wir alle, die wir die Errungenschaften des Rechtsstaates bei allen Schwächen schätzen, sind dazu aufgerufen – und zwar über alle anderen Differenzen hinweg.

Demokratie – wir müssen reden … – dazu findet eine Tagung in der Evangelischen Akademie statt, wo über Geschichte, Begriff und notwendige Erneuerung der Demokratie nachgedacht werden soll:

Hier noch einige Verweise:

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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