Diskurs

Über die Freiheit II

Gedanken zu Begriff und Konzept

Freiheit – als Begriff – ist strapaziert. Menschen brüllen in aller Freiheit auf Straßen und Plätzen nach Freiheit – und viele meinen damit nichts als die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen auf Kosten anderer. Freiheit wird dann als die Freiheit der Andersdenkenden deklariert – ein Spruch, der (nicht nur) in diesem Zusammenhang mehr als interpretationsbedürftig ist. Gemeint ist dabei aber nicht die Freiheit des Denkens. Das wäre ja zu begrüßen. Gemeint ist die Freiheit, sich antisozial verhalten zu dürfen. (Dass es dabei keine klare Abgrenzung von Nazis gibt, deren völkische Ideologie das Ende jeder Freiheit bedeuten würde, ist dabei mehr als ein Randproblem.)

Freiheit aber als Idee absolut individualisierter Rechte ist nichts als eine Perversion des Gedankens der Freiheit des Individuums. Das sehen wir in Krisen, die wir im Nahbereich erleben. Die aus dieser Perversion erwachsenden Krisen, die sich permanent in anderen Teilen der Welt abspielen, können wir noch sehr gut verdrängen. Die Folgen aber dieser Art von Freiheit werden langsam spürbar.

Freiheit als Begriff – worüber sprechen wir, wenn wir von Freiheit sprechen? Was ist Freiheit? Welches Konzept von Freiheit lässt sich sinnvoll einfordern und garantieren? Und warum hat das, was da gegenwärtig auf den Straßen herbeigebrüllt wird, mit Freiheit nicht wirklich etwas zu tun?

Freiheit als Projekt des liberalen Denkens

John Stuart Mill hat einen bemerkenswerten Text zum Thema verfasst – den Essay Über die Freiheit. Die Einleitung beginnt mit dem Satz: 

Der Gegenstand dieser Abhandlung ist nicht die sogenannte Freiheit des Willens, …, sondern die bürgerliche oder soziale Freiheit, will sagen: Wesen und Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft rechtmäßig über das Individuum ausübt. 

Mill war einer der großen liberalen Denker. Vehement fordert er das Recht des Individuums gegenüber der Gesellschaft und dem Staat ein, frei zu sein im Denken, Reden und Handeln – aber eben mit der Eingrenzung: Die Gesellschaft hat das Recht, die bürgerliche und soziale Freiheit des Individuums einzuschränken. Dieses Recht ist zu begründen UND zu begrenzen – steht aber nicht infrage.

Ein fundamentaler Punkt in der Beschneidung selbst elementarer Grundrechte – wie sogar dem Recht auf freie Rede und Ausdruck der Gedanken: Es gibt kein Recht, anderen Menschen zu schaden. Im Dritten Kapitel führt Mill das aus: 

Nachdem wir die Gründe, die es zum Gebot machen, dass die Menschen frei ihre Meinung bilden und sie ohne Einschränkung äußern, erwogen haben, …, wollen wir als nächstes untersuchen, ob nicht dieselben Gründe verlangen, dass die Menschen auch die Freiheit haben sollten, nach ihrer Meinung zu handeln und sie im Leben durchzusetzen, ohne von ihren Mitmenschen durch physischen oder moralischen Zwang daran verhindert zu werden – solange es auf eigene Kosten und Gefahr geht. Dieser letzte Vorbehalt ist natürlich unerlässlich. Niemand behauptet, dass Handlungen ebenso frei sein dürften wie Meinungen. Im Gegenteil: selbst Gedanken verlieren ihre Straflosigkeit, wenn die Umstände, unter denen sie ausgesprochen werden, von der Art sind, dass ihr Ausdruck eine direkte Aufreizung zu irgendeiner Schandtat bildet. Die Meinung, dass Getreidehändler die Armen aushungern und dass Eigentum Diebstahl ist, sollte unangefochten bleiben, wenn sie bloß in der Presse ausgedrückt wird, sollte aber gerechterweise Strafe nach sich ziehen, wenn man sie mündlich einer erregten Menge, die sich vor dem Haus eines Getreidehändlers versammelt hat, vorträgt oder sie unter gleichen Umständen in Form von Handzetteln in Umlauf setzt. Jede Handlung, gleich welcher Art, die ohne gerechten Anlass anderen Schaden zufügt, soll und muss man in wichtigen Fällen unbedingt durch Missfallensäußerungen, notfalls durch energisches Eingreifen zügeln. Insofern muss man die Freiheit des Einzelnen beschränken. Er darf sich nicht zu einer Belästigung für andere entwickeln.

Es gibt also einen Anspruch an die Einzelnen – ihre Freiheit, die Faust zu schwingen, endet nicht erst an der Nase des Gegenübers, sondern schon dort, wo andere davon dergestalt belästigt werden, dass es ihre Freiheiten einschränkt. 

Es gibt darüber hinaus noch einen zweiten Anspruch der Gesellschaft (im stärkeren Maß gilt das für Gemeinschaften), der mit Einschränkung der persönlichen Neigungen verbunden ist – keine*r darf über Gebühr auf Kosten anderer leben. Denn – und auch das ist eine fundamentale Aussage – die Freiheit der Einzelnen wird immer aufgrund der Unfreiheit der anderen erkauft. Unsere Freiheit, an möglichst vielen Wochentagen zu jeder Zeit möglichst viel verfügbar zu haben, zwingt andere Menschen, auf ihre Freiheit zu verzichten. Unser gesamtes Wirtschaftssystem ist darauf eingerichtet, dass Menschen ihre Arbeitskraft und mit ihr ihre Lebenszeit verkaufen – oder dann eben frei sind von der Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe und -nahme.

Unsere Freiheit, automobil zu sein, indem wir privat Autos besitzen, nimmt anderen einen großen Teil ihrer Bewegungsfreiheit, weil ihnen unverhältnismäßig viel Fläche nicht zur Verfügung erlaubt ist.

Unsere Freiheit, jederzeit so viel Fleisch essen zu können, wie wir wollen, beschneidet nicht nur die Freiheit und Autonomie nichtmenschlicher Lebewesen. Sie beschneidet wie unser gesamter Umgang mit der Natur die Freiheit kommender Generationen. 

Die Freiheitsforderungen der Coronaleugner*innen oder -verharmloser*innen stehen im selben Zusammenhang. Es sind Forderungen, anderen Schaden zu dürfen aufgrund egoistischer Beweggründe. 

Freiheit aber – und das ist die Grundthese dieser Überlegungen – ist immer ein gemeinschaftliches Projekt und nie ein individualistisches Recht. Die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft ist keine individualistische Freiheit eines autonomen Subjektes. Die Gemeinschaft oder Gesellschaft schafft den Rahmen, in welchem Einzelne Freiheiten genießen können – und zwar nur, weil es die Gemeinschaft/ Gesellschaft gibt. Die Freiheit des Individuums (ohnehin ein höchst problematischer Begriff) ohne die Gemeinschaft ist die eines Robinson Crusoe. Der ist nun in der Tat vollkommen frei – in den sehr engen Grenzen, die die Natur ihm setzt.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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res publica

Öffentliche Diskurse in öffentlichen Angelegenheiten.

Gemeinschaftlicher Ausgang aus nicht nur selbstverschuldeter Unmündigkeit.

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