Diskurs

„sus et iudaei“

Ein judenfeindliches Bildmotiv und seine Geschichte
Foto: MKeilholz/Stadtkirche

Dies ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Projektmitarbeiter Vincent Kleinbub am 24. August anlässlich eines öffentlichen Informationsabends gehalten hat. Den Bericht zur Veranstaltung finden Sie hier.


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte Ihnen im Folgenden einen kleinen Einblick in die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des judenfeindlichen Schmähreliefs an der Wittenberger Stadtkirche geben. Wie Sie schnell merken werden, ist diese Geschichte nicht auf Wittenberg begrenzt. Vielmehr ist es die Geschichte eines der einflussreichsten antijüdischen Bildmotive, die ich Ihnen erzählen möchte. Abwertende Darstellungen von Juden in Verbindung mit Schweinen gab es im deutschsprachigen Raum vielerorts und jahrhundertelang. In und an Kirchen, in Büchern, Pamphleten, Flugblättern, auf Spielkarten – judenfeindliche Bilder hatten im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Konjunktur. Und zum Teil zirkulieren sie heute noch.

Das judenfeindliche Schmährelief an der Stadtkirche

Das Relief an der Wittenberger Stadtkirche datiert wahrscheinlich auf das Jahr 1290 und war ursprünglich an der Nordfassade des Chors angebracht. Es zeigt drei als Juden dargestellte Menschen, die an den Zitzen einer Sau saugen. Ein weiterer schaut der Sau in ihren Hintern.

Schmährelief an der Wittenberger Stadtkirche // Foto: MKeilholz/Stadtkirche

Schmähbilder wie diese, die Jüdinnen und Juden auf abwertende Weise in Verbindung mit Schweinen und deren Exkrementen darstellen, waren im Mittelalter weit verbreitet. Heute rechnet man sie meist dem christlichen Antijudaismus zu, also der religiös motivierten Judenfeindschaft. Im ausgehenden 13. Jahrhundert waren sie Teil einer christlichen Vorstellungswelt, die von strikten Moralvorstellungen und der ständig drohenden Gefahr von Sünde und Häresie geprägt war. Die Notwendigkeit, sich an geltende Glaubenssätze zu halten, musste den Gläubigen immer wieder neu kommuniziert werden. Juden zog die Kirche dabei als Negativfolie heran: Um die vermeintlichen Gefahren des Abfalls vom christlichen Glauben zu illustrieren, portraitierte man sie als dem Teufel anheim Gefallene, als gierig, als obszön und in Verbindung mit Schweinen, die man mit Unreinheit und Krankheiten assoziierte. Selten standen solche Schmähplastiken allein. Auch das Relief in Wittenberg war womöglich eingebettet in ein sogenanntes apotropäisches Bildprogramm: Steinerne Abbilder von Dämonen, Fabelwesen und Teufelsfiguren sollten in und an Kirchen das Böse abwehren und eine Mahnung an Christinnen und Christen verkörpern.

Bildwerke wie die in Wittenberg brachten für jedermann ersichtlich die Abgrenzung vom Judentum und dessen Abwertung zum Ausdruck. Dass Schweine im Judentum als unrein gelten, gab dem Ganzen eine zusätzliche beleidigende Komponente. Die Auffassung, das Judentum habe als die vom christlichen Glauben abgelöste Religion keine Daseinsberechtigung ist die historische Grundlage für zahlreiche judenfeindliche Erzählungen. Explizit stellte man im Mittelalter das Christentum dem Judentum gegenüber, um Zweiteres zu entwerten. Die Darstellungen von Ecclesia und Synagoga an zahlreichen europäischen Kirchen bringen diese Abgrenzung exemplarisch zum Ausdruck. Am Chorgestühl des Erfurter Doms wiederum kämpft eine an Ecclesia angelehnte Figur auf einem Pferd gegen einen auf einem Schwein reitende Juden.

Die Wirkungsgeschichte des antijüdischen Motivs

Welche Wirkung antijüdische Bildmotive im Mittelalter hatten, zeigt ein Blick in die damalige Zeit. Die Mehrheit der Bevölkerung im Mittelalter konnte weder lesen noch schreiben. Umso bedeutender waren die an Kirchen angebrachten Bildwerke, die breitenwirksam christliche Glaubenssätze kommunizierten. In Gottesdiensten und Predigten wurden antijüdische Erzählungen aufgegriffen und popularisiert. Mehr als die theologischen Hintergründe dürften beim einfachen Volk die vulgären Schmähungen und die verächtliche Darstellung von Jüdinnen und Juden verfangen haben. Juden in Verbindung mit dreckigen Schweinen und Exkrementen – um das zu verstehen, brauchte niemand eine Schulbildung durchlaufen zu haben. Das Motiv war selbsterklärend.

Als Juden waren die abgebildeten Personen durch den sog. „Judenhut“ zu erkennen. Zunächst eine jüdische Tracht, wurde dieser während des 12. und 13. Jahrhundert auch zum Zeichen judenfeindlicher Stigmatisierung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. Beim Vierten Laterankonzil von 1215 waren neben Berufs- und Aufenthaltsverboten für Juden auch Kleidervorschriften beschlossen worden. Für Christinnen und Christen sollten sie erkennbar sein, vielerorts wurde das Tragen des spitzen Huts deshalb zur Pflicht. Auch in der Malerei avancierten die Hüte zum gängigen Stilmittel, um Jüdinnen und Juden zu kennzeichnen. Neben Bildern, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen, portraitierte man Juden auch als Christusmörder – ebenfalls ein gängiger Topos christlicher Judenfeindschaft.

In der Forschung ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Anbringung von „Judensau“-Darstellungen und etwaigen Pogromen oder Ausweisungen von Jüdinnen und Juden für das beginnende Spätmittelalter nicht belegt. Nichtsdestotrotz zementierten Reliefs wie das in Wittenberg die Abgrenzung des Christentums vom Judentum und machten Jüdinnen und Juden öffentlich und für alle verstehbar verächtlich. Während des 14. und 15. Jahrhunderts lässt sich zudem eine Radikalisierung des Bildprogramms konstatieren. Waren bereits die frühen Plastiken in ihrer Analogie vom Juden als obszönen Sünder schmähend, traten Beleidigung und Verhöhnung mit der Zeit immer mehr in den Fokus. Schmähreliefs und -plastiken hatten mehr und mehr den expliziten Sinn, Juden offen zu demütigen. Man brachte sie dementsprechend gut sichtbar an der Außenseite der Kirchen an. Darstellungen wie die am Regensburger Dom hingen isoliert und waren nicht mehr Teil apotropäischer Bildprogramme. Hier ging es offenkundig nicht mehr um antijüdische Analogien in einem größeren Diskurs um Sünde und Glaube, sondern primär um die verunglimpfende Darstellung von Jüdinnen und Juden.

Ab dem 15. Jahrhundert verselbständigte sich das Motiv dann gewissermaßen. Schmähbilder, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigten, wurden nun auch an repräsentativen städtischen Bauten oder Privathäusern angebracht. „Judensau“-Motive kursierten auf Drucken und Grafiken, sie wurden in Bildergeschichten und judenfeindliche Holzschnitte integriert. Spätestens hier löste sich das Motiv aus dem kirchlichen Kontext und sickerte wirkmächtig in die Alltagssphäre ein. Es wurde zur allgegenwärtigen judenfeindlichen Referenz. Ende des 15. Jahrhundert können wir von einer neuen Qualität der judenfeindlichen Agitation durch solche Bilder sprechen. Exemplarische Beispiele sind etwa die judenfeindlichen Schriften und Stücke von Hans Folz, in denen die Verbindung von Juden und Schweinen beständig aufgegriffen wird. Zeugnisse einer spürbar schärferen Rhetorik gegenüber Jüdinnen und Juden sind aber auch die späten Schriften Martin Luthers.

Martin Luther und der Judenhass

Ab 1512 predigte Martin Luther in der Wittenberger Stadtkirche. Er prägte hier nicht nur die Reformation, sondern auch das Selbstverständnis der Stadtkirche als „Mutterkirche der lutherischen Reformation“. Von 1569 bis 1571 wurde der Kirchenbau in eben diesem Sinne umgestaltet. Mit dem Ausbau bekam die Stadtkirche eine neue Ordinationsstube zur Ausbildung reformatorischer Pfarrer. Die Reformation als Vermächtnis Luthers sollte fortan im Mittelpunkt stehen.

Die Verbindung zum Reformator machte man während des Umbaus auch mit Bezug auf das Schmährelief deutlich. Dazu versetzte man das Relief von der Nord- auf die Südseite, an deren Fassade es heute noch zu sehen ist. Das Bildwerk stand nun für sich und wurde 1570 durch die Inschrift „Rabini Schem Hamphoras“ ergänzt. Damit nahm man direkten Bezug auf eine der judenfeindlichen Schriften Luthers. In „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ von 1543 hatte der Reformator Juden u.a. als Ausgeburten des Teufels beschrieben und das Relief dazu genutzt, um Juden verächtlich zu machen. In der Schrift heißt es:

„Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen. Da liegen junge Ferkel und Juden darunter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das recht Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Bürzel [= den Schwanz] über sich, bückt [sich] und guckt mit großem Fleiß der Sau unter den Bürzel in den Talmud hinein, als wollte er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst haben sie gewisslich ihr Schem Ha Mphoras […] Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund vorgibt: Wo hat er’s gelesen? Der Sau im Hintern.“

Im rabbinischen Judentum ist die Wendung Ha-Schem (dt. der Name) Ha-Mephorasch (dt. der ausdrücklich festgelegte oder der besondere) eine Möglichkeit, den Namen Gottes, der selbst unaussprechlich bleibt, präzise zu umschreiben. Indem Luther sich über diese Form der Gottesbezeichnung auf beleidigende Art und Weise lustig machte, explizierte er den judenfeindlichen Aussagegehalt des Reliefs noch einmal. Und das über 250 Jahre nach dessen Anbringung. Luthers Referenz machte das Relief bis weit über die Stadtgrenzen Wittenbergs bekannt. Sowohl das Schmähbild als auch Luthers judenfeindliche Auslassung darüber verbreiteten sich über publizistische Referenzen und Holzschnitte im deutschsprachigen Raum.

In seinem Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ hatte Luther kurz zuvor bereits ein umfangreiches judenfeindliches Programm vorgelegt. Darin rief er dazu auf, Jüdinnen und Juden zu vertreiben, ihre Synagogen zu verbrennen, ihre Gebetsbücher zu konfiszieren, ihren Besitz zu beschlagnahmen und sie zur Zwangsarbeit heranzuziehen. In der Forschung ist man sich heute weitestgehend einig darüber, dass Luther zur Verbreitung von Judenhass während der Frühen Neuzeit beitrug. Einige Briefwechsel legen zudem nahe, dass Luthers Judenhass aktiv Einfluss auf die judenfeindliche Politik einiger protestantischer Landesfürsten hatte. Ob Luther erst gegen Ende seines Schaffens zum offenen Judenfeind wurde oder ob die Judenfeindschaft sich von Beginn an durch dein theologisches Werk zieht, wird wiederum kontrovers diskutiert. Die Ablehnung der jüdischen Bibelauslegung ist eine Konstante in Luthers Schriften, gleichzeitig sprach sich der Reformator zu Beginn der Reformation noch gegen die Verfolgung und Zwangsmissionierung von Jüdinnen und Juden aus.

Reformationsaltar und Traufentext

Dass sich die christliche Abgrenzung vom Judentum nicht nur in Schmähreliefs ausgedrückte, wird klar, wenn man in den Innenraum der Wittenberger Stadtkirche schaut. So findet sich auch auf dem Reformationsaltar der beiden Cranachs eine Abendmaldarstellung, die zeigt, wie tief antijüdische Stereotype im Christentum verwurzelt sind: Judas, hier zur rechten Jesu, wird als klassische Verräterfigur gezeichnet. Er ist zu diesem Zweck mit markanten, grimmigen Gesichtszügen ausgestattet, sein Geldbeutel, Ausdruck seines Verrats ebenso wie seiner Gier, ist sichtbar nach außen gekehrt. Nicht zufällig trägt er einen gelben Mantel, durch den er zusätzlich als von der Gemeinschaft der Jünger separiert erscheint. Im ausgehenden Mittelalter stand die Farbe Gelb nicht nur für Neid, Missgunst und Gier, sondern war im europäischen Kontext auch mit Juden assoziiert. Ab dem 13. Jhd. wurden Jüdinnen und Juden in Spanien und Frankreich dazu gedrängt, gelbe Stoffbänder an der Kleidung zu tragen. Im Heiligen Römischen Reich wird der sog. gelbe „Judenring“ als Erkennungssymbol ab dem 15. Jahrhundert zum negativen Erkennungszeichen.

Auch der Text an der südlichen Traufe der Stadtkirche, gleich links neben dem Schmährelief, dürfte seinerzeit antijüdische Schlagseite besessen haben. Die lateinische Inschrift knüpft rhetorisch an die Schilderung der Tempeleinigung Jesu in Matthäus 21 an und parallelisiert diese mit Luthers Kampf gegen die damalige Römisch-Katholische Kirche. Vordergründig richtet sich die Aussage also gegen „papistische Räuber“, nicht gegen Juden. Mit der Tempelreinigung war aber schon damals auch ein antijüdisches Bild- und Erzählprogramm verbunden, das hier wohl ebenfalls verfangen haben dürfte. In Kombination mit dem versetzten Schmährelief unterstreicht es noch einmal dessen judenfeindliche Stoßrichtung.

Judenfeindliche Kontinuitäten

Geschichte kommt uns manchmal sehr weit weg vor, insbesondere wenn es um das Mittelalter oder die Frühe Neuzeit geht. Bezogen auf judenfeindliche Bilder und Motive ist das aber ein Trugschluss. Denn die Motive und Deutungsmuster des christlichen Antijudaismus spielten weit über das 13., 14. oder 15. Jahrhundert eine tragende Rolle bei der Verbreitung von Judenhass.

Verdeutlichen lässt sich das anhand eines Beispiels aus Frankfurt am Main. Auch dort brachte man um etwa 1500 ein Schmähbild an, das Juden in Verbindung mit Schweinen zeigte. Prominent prangte es am Brückenturm der Alten Brücke über den Main. Das Motiv kombinierte man dort allerdings mit einem anderen einflussreichen judenfeindlichen Bild – nämlich dem des sogenannten Martyriums von Simon von Trient. Worum handelt es sich dabei? Bis heute ist die Erzählung um Simon von Trient der bekannteste Fall eines judenfeindlichen Ritualmordvorwurfs. Als das Kleinkind Simon 1475 in Trient verschwand und kurz darauf tot aufgefunden wurde, beschuldigte man die dort lebenden Jüdinnen und Juden, ihn entführt, anschließend rituell geschlachtet und sein Blut getrunken zu haben. Im Zuge des Gerichtsprozesses wurden Dutzende Juden gefoltert und so Geständnisse erpresst. In Trient wurden daraufhin 14 Juden hingerichtet und die anderen ausgewiesen. Die Geschichte kursierte über Erzählungen und Drucke in ganz Europa und wurde vielfach zur Rechtfertigung von Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung herangezogen. Um Simon von Trient bildete sich in der Folge ein regelrechter Heiligenkult heraus, der sich, wie erwähnt, über 200 Jahre später und fast 600 km nördlich auch in Frankfurt bildlich niederschlug.

Ritualmordvorwürfe gab es im Mittelalter immer wieder. Man muss gar nicht bis ins italienische Trient schauen – auch im Thüringischen Weißensee kam 1303 das Gerücht auf, dass der dort verschwundene Conrad von Jüdinnen und Juden entführt und geschlachtet worden sei. In der Folge verübte die lokale Bevölkerung Pogrome an den dort lebenden Jüdinnen und Juden. Noch 240 Jahre später zog Martin Luther den Fall in seiner Schrift über „Die Juden und ihre Lügen“ heran, um seine judenfeindlichen Thesen zu untermauern.

In Kombination mit der Ritualmordlegende von Trient nahm die Verbreitung des Frankfurter Schweinemotivs ab dem 16. Jahrhundert noch einmal richtig an Fahrt auf. Anhand vieler Drucke und Illustrationen können wir heute nachvollziehen wie eng das Motiv, das auch an der Stadtkirche in Wittenberg zu sehen ist, in die Rechtfertigung eine der übelsten judenfeindlichen Anschuldigungen und Mythen integriert war. Eine Darstellung Ende des 15. Jahrhundert portraitiert die schlachtenden Juden von Trient mit Schweine-Ansteckern auf der Kleidung. Es folgten eine ganze Reihe von Drucken und Illustrationen aus dem 16. und 17. bis hin ins 19. Jahrhundert, die das Motiv mit offen judenfeindlichen Aussagen, Schmähungen und Dämonisierungen verbanden. Spätestens hier sind wir mitten in der beginnenden Moderne angekommen und weit weg vom Entstehungszeitraum der Reliefs im Spätmittelalter. 1879 gründete Wilhelm Marr die sogenannte Antisemitenliga und gab dem uralten Judenhass einen neuen Namen und eine neue Stoßrichtung. Noch um 1900 ereignete sich im Westpreußischen Konitz ein weiterer folgenschwerer Ritualmordvorwurf, der zur Stigmatisierung preußischer Jüdinnen und Juden und zum Abbrennen der dortigen Synagoge führte. Dass sowohl der Ritualmordvorwurf als auch das bekannte Motiv, das Juden in Verbindung mit Schweinen zeigt, feste Bestandteile antisemitischer Mobilisierung im ausgehenden Kaiserreich als auch der Weimarer Republik waren, sei hier nur am Rande erwähnt. Im Nationalsozialismus waren beide prominent eingebunden in die Regimepropaganda und begleiteten als solche die Verfolgung und Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden.

Antisemitismus in der Gegenwart

Und nach 1945? Auch heute noch gehören „Judensau“ oder „Judenschwein“ zu den meist-verbreitetsten offen antisemitischen Beleidigungen. Ihre tiefe Verwurzelung und ihre Virulenz in der Gegenwart sind ohne das judenfeindliche Motiv aus dem Mittelalter und dessen nachhaltiger Popularisierung nicht denkbar. Während der 1990er Jahre kam es im frisch wiedervereinigten Deutschland vielfach zu rassistischen und antisemitischen Übergriffen. Dabei wurden jüdische Friedhöfe geschändet, an der Synagoge in Erfurt wurde 1992 auch ein Schweinskopf abgelegt. Sechs Jahre später, im Oktober 1998, trieben Unbekannte ein Ferkel über den Alexanderplatz in Berlin. Auf das Tier hatten sie vorher einen Davidstern gemalt, dazu den Namen des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis. Im Zuge der Coronapandemie und der damit einhergehenden Demonstrationen kam es in letzter Zeit zu einem massiven Anstieg antisemitischer Aussagen und Übergriffe. 2021 hielt auch ein Demonstrant in Wittenberg ein Schild in Form eines Schweins hoch – eine „Impfsau“, wie darauf zu lesen war.

Über mittelalterliche Bilder und Motiviken und ihre judenfeindliche Geschichte zu reden, ist folglich keine Sache der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Dass das Motiv an der Stadtkirche nicht zur Referenz für antisemitische oder andere menschenfeindliche Bestrebungen wird, dafür tragen sowohl die Kirchen als auch die Zivilgesellschaft eine Verantwortung. Und das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir über den Umgang mit dem Schmährelief an der Wittenberger Stadtkirche diskutieren.

Vincent Kleinbub

Mitarbeiter im Projekt „Bildspuren“ (2022 bis 2023)
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