Einen Rundumschlag durch viele Aspekte sachsen-anhaltischer Jugendpolitik unternahm Tobias Thiel im Februar 2021 im 45-minütigen Gespräch mit der Vorsitzenden des Landesjugendhilfeausschusses Nicole Anger (Parität) und ihrem Stellvertreter Pascal Begrich (Miteinander e.V.). Unter anderem geht es um folgende Themen. In Klammer steht immer der Zeitpunkt, an dem der entsprechende Themenkomplex beginnt.
- Demokratiefeindlichkeit bei Jugendlichen (ab 0:12)
- Jugendbeteiligung in Sachsen-Anhalt (ab 9:41)
- Demografischer Wandel – Abwanderung und Zurückkommen
- Demografischer Wandel und Repräsentation junger Menschen (ab 18:58)
- Jugendarbeit und das liebe Geld (ab 23:42)
- Corona als Brennglas (ab 28:50)
- Nachbarbundesländer (ab 37:39)
- Was würdet Ihr für Jugendliche umsetzen, wenn Ihr genügend Ressourcen und Entscheidungskompetenzen hättet? (39:53)
- Wo stehen junge Menschen in Ostdeutschland heute? (ab 42:28)
Demokratiefeindlichkeit bei Jugendlichen (ab 0:12)
Auf die Frage, wie verbreitet Demokratiefeindlichkeit bei Jugendlichen sei, antwortet Pascal Begrich als Experte für das Themenfeld Rechtsextremismus, dass es seiner Meinung nach in Ostdeutschland eher die Menschen betreffen würde, die in den 90er Jahren sozialisiert wurden. Es gäbe zwar Jugendliche, die unserem politischen System kritisch gegenüber stehen würden, aber das größere Problem seien Menschen jenseits der Dreißig. Nicole Anger ergänzt, dass der Begriff „demokratiefeindlich“ vielleicht zu scharf sei. Ihrer Meinung nach gehe es eher um das Gefühl junger Menschen, in dieser Demokratie unterrepräsentiert zu sein. Deshalb sähe man in den Ergebnissen der U18-Wahl in der Regel eher eine Atomisierung als eine Radikalisierung.
Problematische Einstellungsitems seien aber auch bei jungen Menschen vorhanden. So fände die Ablehnung von Vielfalt und einer offener Gesellschaft einige Vertreter:innen. Deshalb müsse Demokratiebildung alle Menschen in den Blick nehmen und spezielle Angebote für Jugendliche unterbreiten. Das eine tun und das andere nicht lassen, müsse die Devise sein. Oft seien aber doch nur die Jugendlichen im Fokus und Demokratiebildung würde eher in Form von „Feuerwehrprojekten“ anstelle eines Regelangebotes unterbreitet.
Anger betont darüber hinaus, dass sie ganz oft erlebe, dass ein sehr hoher Anspruch an Jugendliche formuliert würde und fragt, ob dieser auch für Erwachsene gelten würde. Zum Abschluss dieses Themenblocks weisen beide daraufhin, dass es gerade auch in der Jugendhilfe auf die Haltung der Mitarbeitenden ankäme.
Jugendbeteiligung in Sachsen-Anhalt (ab 9:41)
Die Strukturen der Jugendbeteiligung haben sich nach Ansicht der beiden Gesprächspartner:innen in den letzen Jahren in Sachsen-Anhalt verbessert. Insbesondere verweisen sie auf das jugendpolitische Programm, an dem auch junge Menschen mitgewirkt hätten.
Trotzdem bleibe es wichtig, Partizipation nicht nur formal abzuarbeiten, sondern mit Leben zu füllen. Oft stünden kurzfristige Projekte einer kaum gelebten Demokratie in den Institutionen und Bildungseinrichtungen gegenüber. Attraktive Kinder- und Jugendbeteiligung in jugendgerechten Formen sei nach wie vor unterrepräsentiert. Man müsse sich die Frage stellen, wie stark und zu welchen Themen Kinder und Jugendliche tatsächlich gehört werden.
Demografischer Wandel – Abwanderung und Zurückkommen
Im ländlich geprägten Sachsen-Anhalt ist die Mobilität junger Menschen vielleicht das zentralste Thema, um jungen Menschen ein gutes Leben anbieten zu können. Pascal Begrich, verweist außerdem darauf, dass viele Themen kreativer gedacht werden müssten. So könnten Treffpunkte für Kinder und Jugendliche an generationsübergreifenden Begegnungsorten entstehen und mit anderen Institutionen vernetzt werden.
Ein weiterer Knackpunkt seien die beruflichen Perspektiven zu fairen Bedingungen, die es nicht überall im Land geben würde. Nicole Anger verweist auf die WIR-Studie, die beschreibt, dass Menschen aus ländlichen Räumen, die ihre Heimat verlassen haben, später eher zurückkommen würden, wenn sie sich in ihrer Jugend als selbstwirksam erlebt haben. Allerdings würde „später in die Region zurückkehren“ auch bedeuten, dass es in der Region nur wenige Menschen im Alter zwischen 18 und 35 gäbe.
Demografischer Wandel und Repräsentation junger Menschen (ab 18:58)
Sachsen-Anhalt ist eine der ältesten Regionen in Europa, also eine der Regionen, in der besonders viele ältere Menschen und besonders wenig Kinder und Jugendliche wohnen. Daraus resultiert ein Repräsentationsdefizit, das noch dadurch verstärkt wird, dass Jugendliche erst ab 18 bzw. 16 Jahren wählen dürfen. Nicole Anger empfiehlt als Gegenmaßnahme, junge Menschen frühzeitig für Kommunalparlamente und Parteien zu gewinnen. Außerdem brauche es die Bereitschaft aller, Jugendliche ernst zu nehmen und weiterer Maßnahmen, die beide im Interview beschreiben.
Jugendarbeit und das liebe Geld (ab 23:42)
Angesichts der oft sehr prekären Anstellungsverhältnisse der Fachkräfte müsse man dem Idealismus der meisten unter ihnen großen Respekt zollen. Nach wie vor herrsche in der Jugendhilfe eine Projektitis, noch dazu mit viel zu kurzen Förderperioden. Zukünftig sollten sich Bewiiligungen für Landesförderung am besten an der Legislatur des Landtags orientieren.
Begrich verweist außerdem darauf, dass Sachsen-Anhalt weiterhin keine eigene Schulsozialarbeit aufbaue, sondern dieses ganz überwiegend von europäischen Mitteln abhängig sei.
Projektförderung sei in der Regel Rettungsanker und Feuerwehr, so Anger. Wichtiger wäre es, eine stabile Regelstruktur aufzubauen, die tagesaktuelle Inhalte und Formate sowie jugendgerechte Planungshorizonte ermögliche.
Corona als Brennglas (ab 28:50)
Die Pandemie, so sind sich beide einig, zeige vor allem bestehende Probleme auf. Dabei beobachten sie mehr Verständnis und Souveränität bei Jugendlichen als bei manchen Erwachsenen. Allerdings gäbe es große Rückschritte bezogen auf Kinderrechte und Jugendpolitik. Kinder und Jugendliche würden in öffentlichen Debatten eher als Objekte gesehen – als Schüler:innen oder Kita-Kinder. Es fehle zum Beispiel ein Jugend-Corona-Beirat, in dem junge Menschen ihre Interessen gegenüber der Politik vertreten können. Man dürfe aber auch nicht die Sorge von Kindern und Jugendlichen um die eigene Zukunft übersehen.
Corona sei auf der anderen Seite eine Chance für Veränderung. Digitalisierung und Medienbildung hätten an Fahrt aufgenommen. Wichtig sei jetzt eine Evaluation der Erfahrungen und nicht ein ausschließliches Zurück zur alten Normalität.
Nachbarbundesländer (ab 37:39)
Auf die Frage, was wir in Sachsen-Anhalt von anderen ostdeutschen Bundesländern lernen können, sieht Pascal Begrich die konsistentere Demokratiebildung und -förderung in Sachsen und Brandenburg, auch wenn es in strukturschwachen Räumen ähnliche Herausforderungen geben würde. Nicole Anger verweist auf den kostenfreien ÖPNV für Jugendliche in Rostock.
Was würdet Ihr für Jugendliche umsetzen, wenn Ihr genügend Ressourcen und Entscheidungskompetenzen hättet? (39:53)
Wenn es genügend Ressourcen geben würde, dann würde Nicole Anger versuchen, die Kinderarmut deutlich zu reduzieren. Das Aufgabenfeld dafür reiche von frühkindlicher Bildung über kostenlose Lernmittel bis zur kostenfreien Vereinsmitgliedschaft. Pascal Begrich würde eine flächendeckende Versorgung mit kompetenten Fachkräften als Schulsozialarbeiter:innen organisieren, um Jugendlichen genügend Räume zu eröffnen.