Unbehagen – es wird immer schwieriger, sich einen Reim zu machen. Professor Dr. Armin Nassehi besticht in seiner Kanzelrede am 16. Oktober 2022 in der Wittenberger Stadtkirche mit dem nüchternen Blick des Soziologen und einigen überraschenden theologischen Denkfiguren.
Gleich zu Beginn nimmt Nassehi den Zuhörenden die Illusion, dass die Dinge sich irgendwann einmal wieder ordnen werden. „Die gesellschaftliche Struktur legt es nahe, dass es immer schwieriger wird, dass wir uns einen Reim machen können.“ Biblisch wird Nassehi, als er in diesem „sich keinen Reim machen können“, die Unerforschlichkeit der Erkenntnis sieht, wie sie schon der Apostel Paulus im Römerbrief im 11. Kapitel in einer Krisensituation formuliert hatte: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Wahrheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“
Die Unerforschlichkeit Gottes als beschreibbare Möglichkeit fasziniert Nassehi. Im Gegensatz zum polytheistischen Götterhimmel der Antike, formuliere der Monotheismus eine universale Perspektive. So sei es für den Soziologen offensichtlich, dass „wenn man e i n e n Gott denkt, man eine Perspektive denkt, die nicht nur eine göttliche Perspektive ist, sondern ganz offensichtlich auch einen Wunsch ausdrückt, dass solch eine Perspektive womöglich dazu beitragen könnte, sich einen Reim auf die Gesellschaft zu machen.“
Der monotheistische Gottesbegriff „symbolisiert eine „coincidentia oppositorum“ [Zusammenfalls der Gegensätze, Nicolaus Cusanus] die einem Immanenten unmöglich ist.“ Damit ist für das Denken und auch für das Ertragen von Paradoxien eine Grundlage gelegt. Paradoxien und Zielkonflikte formulieren zu können, sind für Nassehi wesentliche Fähigkeiten, um in komplexen Gesellschaften nicht nur nach einfachen Lösungen zu suchen. „Die Vernunft kann eine Ahnung davon haben, dass man das Widersprüchliche nicht auf den Begriff bringen kann. Eine paradoxe Denkform, in der Gott als ein Horizont auftaucht, der die Denkmöglichkeit von Paradoxien erst ermöglicht.“
Doch zunächst verlässt Nassehi die theologische Ebene wieder und kehrt zur Soziologie zurück, deren Aufgabe er, mit dem Titel der diesjährigen Kanzelredenreihe treffend beschrieben sah: Dem Volk aufs Maul schauen. „Sich keinen Reim machen zu können auf die Lösbarkeit der Probleme dieser Welt, [verweise darauf,] dass wir tatsächlich unter einer Art von Endlichkeit unsere eigenen Vorstellung leiden, leiden müssen. […] Es gibt keine Gesamtperspektive.“ Es sei gerade in der Pandemie zu einer Grunderfahrung geworden, „dass, das was sich in einem Bereich als das Richtige erweist, in einem anderen falsch ist.“
Entschieden fordert Nassehi mehr Kontroverse ein. „Wir brauchen mehr Kontroverse. Die gespielte Übersichtlichkeit […] führt uns nicht weiter. Ist es eigentlich möglich, für komplexe Probleme nicht nur einfache Kausalitäten zu formulieren? Sind wir in der Lage – zum Beispiel in der Pandemie – ökonomische, medizinische, rechtliche, übrigens auch wissenschaftliche Zielkonflikte, als Zielkonflikte zu diskutiert.“
Mit Blick auf die Demonstrationen und Proteste tritt Nassehi einem falschen Eindruck entgegen und stellt klar, wen er verantwortlich dafür macht, dass die öffentliche Debatte scheinbar so wenig Kontroverse biete: „Für Deutschland sagen alle empirischen Ergebnisse, dass wir nicht in einer polarisierten Gesellschaft leben. Die veröffentlichte Meinung sieht aber so aus. Es gibt einen relativ kleinen Teil in der Gesellschaft, der lauter ist als seine Größe, der zur Zeit alles in Frage stellt […] und deshalb eine Polarität simuliert, die die Gesellschaft daran hindert, ihre unterschiedlichen Perspektiven kontrovers zu formulieren.“ Als psychologischen Effekt erklärt er dabei, dass es in Krisen für manche Menschen offensichtlich der sicherste Ort sei, sich in den eigenen Verletzungen einzurichten.
Die Komplexität der Wirklichkeit brauche aber mehr Kontroverse nicht weniger. Dafür wünscht sich Nassehi Räume, in denen die Versäulung des Denkens überwunden wird und sich Menschen irritieren lassen, von anderen Perspektiven und Wahrheiten. „Dafür braucht man eine Idee dessen, was ich aus dem Römerbrief zittert haben: Das Eingeständnis einer Unerforschlichkeit des Ganzen, weil wir es immer nur aus bestimmten Perspektiven sehen. Für komplexe Probleme der Zeit, einfache Kausalitäten zu erfinden, bringt uns nicht weiter.“
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