Diskurs

Ansprache zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz

Holocaustgedenktag 27. Januar 2025 Stadtkirche St. Marien Wittenberg/ Stätte der Mahnung
C. Melms

Es gilt das gesprochene Wort


Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesende,

die Stadtkirche bietet einen würdigen Rahmen für diesen Tag. Herzlichen Dank dafür. Und es ist schön, die ganze Bürgerschaft, Zivilgesellschaft und auch die Mandatsträger sowie die Verwaltung hier zu sehen. Gut, dass wir diesen Gedenktag mit breitem Schulterschluss zusammen auf die Beine stellen.

Auch wenn es keine gerade Linie von Luthers Kanzel und seinem Hass auf Juden zu Göbels Propaganda gibt, so gibt es doch eine ganz besondere Verantwortung gerade an diesem Ort und in dieser Kirche. Wir erinnern und begehen diesen Holocaustgedenktag der Vereinten Nationen in Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz heute vor 80 Jahren. Wir begehen ihn zur Mahnung und als Bußtag.

Der Hass kommt heute nicht mehr in Stein gemeißelt daher, auch nicht über Flugschriften aus Wittenberger Druckmaschinen, dem „social Media“ der Reformationszeit. Längst kommt der Hass durch Bits und Bytes zu seinem Ziel. Die Medien ändern sich, Geschichte geht weiter, der Mechanismus bleibt.

Deshalb gilt es mit Gedenktagen wie diesem, genau diese Mechanismen zu erkennen, zu erinnern und zu verstehen. Es braucht unsere Wachsamkeit und es braucht unser Bekenntnis, und das nicht nur zur Demokratie, sondern zu Rechtstaatlichkeit und dem Schutz von Minderheiten.

Auschwitz steht als Synonym für den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti und Roma und anderen Verfolgten.

Ich frage mich heut am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz:
Was empfinden wohl Jüdinnen und Juden angesichts einer Stimmung und einer öffentlichen Debatte, die sich immer weiter nach rechts verschiebt? Wie geht es eigentlich homosexuellen oder queeren Personen? Stimmt eigentlich das Bild vom Flüchtling, der in unserer guten Stube randaliert und was trägt es eigentlich aus, zu einem Diskurs über das Einwanderungsland Deutschland.

Wenn wir heute erinnern und gemeinsam ein Zeichen gegen Völkerhass, Totalitarismus und Faschismus setzen, dann appellieren wir zugleich an eine kollektive Verantwortung, die aus dem Holocaust erwächst. Es ist die Verantwortung, nicht zu schweigen und das Wort zu erheben gegen die schleichende Schwächung der Demokratie und ihrer Institutionen, gegen die, die die öffentlichen Debatten verdrehen und vergiften, bis man nicht mehr weiß, wo rechts und links ist und ob Hitler ein Nazi oder Kommunist war. Es geht so schnell, wenn die Saat einmal gelegt ist.

Wenige Wochen nachdem Adolf Hitler demokratisch gewählt wurde, wird er zum Reichskanzler – in meinem Schulbuch hieß das „Machtergreifung“. Das verschleiert, dass die Weimarer Republik eine Demokratie war. 33% der Wahlberechtigten stimmten im November 1932 für die NSDAP.

Und wenige Wochen nachdem Hitler an die Macht kam, wurden die ersten Konzentrationslager eingerichtet. Übrigens wurden schon unter den Vorgängerregierungen Abschiebelager für jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa eingerichtet. Flüchtlinge, die oft wegen antisemitischer Übergriffe geflohen waren. Sie sollten wieder dorthin zurück, wo sie gepeinigt wurden. Am 12. Juni 1933 kamen die ersten Gefangenen auch hier im Landkreis Wittenberg, im Konzentrationslager Lichtenburg, an.

Ja, man kann auch Verbrecher demokratisch wählen. Verurteilte Straftäter und offen gegen die Rechtsordnung gerichtete Organisationen kommen ganz demokratisch an die Macht. So ist die Demokratie! Und dann erlassen sie Notverordnungen und Dekrete und versuchen, den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen. Zur Demokratie gehört deshalb untrennbar das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Begrenzung von Macht und der Schutz von Minderheiten.

Man kann keine – und sollte es vielleicht auch nicht – geraden Linien ziehen von der NSDAP zur AFD, dem Trumpismus oder dem Aufstieg der Oligarchen dieser Welt. Ich halte nichts von diesem Alarmismus und ich glaube an die Stärke unserer Verfassung. Aber es gilt, die Mechanismen zu erkennen, zu verstehen und Verantwortung zu übernehmen.

Unser Gemeinwesen steht gerade vor einer Menge ganz handfester Probleme, die wir nicht gut gelöst bekommen. Das größte Problem aber sehe ich in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise gegenüber unseren Politikern und Politikerinnen, den VerantwortungsträgerInnen, Eliten und Institutionen.

Ja, Vertrauen muss man sich erarbeiten und ein Staatswesen muss liefern, wenn es darum geht, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, aber Vertrauen muss man auch immer wieder wagen. Ein Gemeinwesen ist keine Dienstleistung, die ich in Anspruch nehme, sondern unsere Verantwortung. Das Bild von diesem Gemeinwesen entsteht nicht in Berlin und nicht auf dem Wahlzettel, noch nicht mal in den Medien, sondern hier und unter uns und im Gespräch am Gartenzaun. Es geht um viel. Bleiben Sie wachsam!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
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