An was erinnern wir am 9. November? An die nationalsozialistischen Novemberpogrome? An den Mauerfall? Wie erlebten Jüdinnen und Juden die DDR? Und wie war das mit der Wiedervereinigung? Ein Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin und politischen Bildnerin Dr. Juliette Brungs über jüdische Perspektiven auf die Vor- und Nachwendezeit.
Inhalt
KONTINUITÄTEN IN DIE GEGENWART
LEBEN IN DER DDR
Frau Brungs, Sie sind 1970 in Ostberlin geboren und als Tochter einer Holocaustüberlebenden in der DDR aufgewachsen. Wie war es für Sie im „antifaschistischen Deutschland“, als das sich die DDR selbst verstand? Gab es Platz für Jüdinnen und Juden?
Grundsätzlich war es in unserer Familie so, dass man dachte, auf der richtigen Seite der Mauer zu leben. Der Antifaschismus stand zumindest in der Verfassung. Es gibt auch bei uns noch Probleme, aber das ist schon das richtigere Deutschland. Und wenn es auch noch nicht perfekt ist, dann werden wir’s besser machen – soweit die Haltung. Meine Mutter war in Paris geboren und kam aufgrund dessen nach Deutschland, dass mein Großvater Stephan Hermlin zurückgekehrt war, weil er Kommunist war. Insofern war die Haltung klar pro DDR, aber in keiner Weise unkritisch, würde ich sagen. Ich kenne natürlich jetzt meine Mutter auch erst ab einem gewissen Alter – sie war 33 als ich geboren wurde –, aber ich kenne sie als eine Frau, die Parteiverfahren bekommen hat, weil sie sich strikt z.B. gegen den Einmarsch nach Prag verhalten hat. Eine Frau, die sich politisch – sie war im Schulbereich tätig – immer klar geäußert hat und dafür auch jede Menge Schwierigkeiten und auch, was es ja in der DDR angeblich nicht gab, Berufsverbot bekommen hat. Insofern also durchmischt.
Ich fand, der Antisemitismus war relativ präsent in der DDR, auch in der normalen Gesellschaft. Es war völlig Gang und Gäbe, seltsame Witze zu erzählen. In den Schulen erzählten die Kinder Judenwitze, da hatte man keine Probleme mit. Und es gab Hakenkreuzschmierereien. Es gab ja dann später auch Skinheads, es gab Neonazis – auch wenn die DDR das offiziell nicht wissen wollte. Da meine Mutter auch als psychologische Gutachterin für das Jugendgericht tätig war, weiß ich das. Viele von denen natürlich Mitläufer. Und wie fühlte sich das an? Natürlich lief man durch die DDR, das kennen ja wahrscheinlich alle DDR-Bürger, mit – wie soll man sagen – zwei Gehirnen: Man war sehr scharf am Beobachten, man wusste genau, wo man was sagen konnte und sollte oder eben vielleicht besser sein lassen sollte. Und natürlich gab es immer unausgesprochen diesen Vorwurf: Also ihr, ihr Juden, ihr seid ja so und so, ihr seid ja so kosmopolitisch, euch kann man so oder so nicht trauen. Politisch sowieso nicht. Zuhause habe ich gelernt, was historisch abgelaufen ist und in welchen durchaus gefährlichen Situationen sich meine Familie befunden hat – auch noch nach dem Krieg, zur Zeit der Slansky-Prozesse zum Beispiel. Ich habe verstanden, warum sich Leute in der Familie so verhielten, wie sie sich eben verhielten. Warum mein Großvater z.B. jahrzehntelang überhaupt nicht darüber gesprochen hat, dass er ein jüdischer Autor ist, abgesehen davon, dass er vielleicht gesagt hat, dass er mit den Nazis nichts zu tun hatte. Aber in der Regel war es sogar so, dass er gar nicht darüber sprechen wollte. Und das hat Gründe, das hat er sich nicht aus Spaß zurechtgelegt.
Als Jugendliche waren Sie in der Kinder- und Jugendgruppe der Ostberliner Jüdischen Gemeinde aktiv. Wie war das dort?
Also ich würde es nicht wirklich nicht aktiv nennen. Ich war ein einfaches Mitglied. Ich bin als 7- oder 8-Jährige das erste Mal in die Kindergruppe gekommen, weil mein Bruder mich mitgenommen hat zu Ausflügen. Die fand ich ziemlich spannend. Wir sind an Orte gefahren, die als jüdische Orte nicht zu identifizieren waren von außen, die aber ehemalige Synagogen waren zum Beispiel. Das fand ich ziemlich interessant. Ich war die einzige Jüngere unter den 15-, 16-jährigen. In der Jugendgruppe selber haben wir dann Feste gefeiert, da kann ich mich noch dran erinnern, aber nur sehr dunkel.
Das Problem war, dass wir keinen Hebräischlehrer hatten und auch sonst niemanden, der uns irgendwie etwas beigebracht hätte. Das war sehr bedauerlich. Der Rabbiner kam ja immer aus Westberlin, zu den hohen Feiertagen oder eben manchmal auch zum Schabbat, und wir waren immer ein bisschen verloren in der Jugendgruppe, was das Know-How betrifft. Dann kam 1988 Isaac Neumann über das American Jewish Committee vermittelt nach Ostberlin als Rabbiner und hatte große Pläne. Ich glaube, die Leute waren gespalten in der Wahrnehmung von Isaac Neumann, aber ich fand ihn toll. Ich fand auch die Idee, endlich mal hebräisch zu lernen und überhaupt Sachen zu lernen, ganz großartig. Das war im damals restaurierten Teil der Synagoge in der Rykestraße, dort spielte sich das ab. Und dann hat sich Isaac Neumann verliebt – in eine jüdische DDR-Frau. Und die DDR-Regierung hat zu ihm gesagt: Also du kannst dir überlegen, entweder du lässt die Frau sein und bist hier Rabbiner oder du nimmst die Frau und bist nicht Rabbiner und gehst wieder. Und aus vielerlei Gründen einsehbar, hat er sich für die Frau entschieden und ist wieder gegangen.
Wodurch unterschied sich die gesellschaftliche Thematisierung des Nationalsozialismus in der DDR von der in Westdeutschland?
In der DDR sind wir immer davon ausgegangen, dies sei ein antifaschistischer Staat. Es gab diese Schutz- und Entlastungsbehauptungen: Wir seien alle Antifaschisten in der DDR, bei uns gebe es keine Nazis, die gebe es nur in der Bundesrepublik. Dabei gab es auf der anderen Seite tatsächlich politische Bildungsarbeit, die schon in den 1970er Jahren und 1980er Jahren anfing und sich der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zuwandte – teilweise wirklich auf so einer Community-Ebene. Einzelne Lehrer fingen an, Projekte mit ihren SchülerInnen durchzuführen und solche Sachen. Wenn ich das aus heutiger Perspektive betrachte, dann denke ich, wir waren da schon ganz schön hinterher in der DDR. Wir wussten vielleicht faktisch, historisch, was im Nationalsozialismus geschehen war – oder hätten im Unterricht mehr darüber erfahren können, sagen wir es mal so. Das Wissensangebot war aber natürlich auch ideologisch in eine bestimmte Richtung geschoben. Und andererseits fehlte es eben an diesen, ich würde fast sagen, Grassroot-Geschichten. Also: Ich erforsche meine eigene Nachbarschaft oder die Nachbarschaft unserer Schule – was so wichtig ist für Kinder und Jugendliche, um da irgendwie einen Bezug herzustellen dazu und zu verstehen, dass drei Häuser weiter eben fünf jüdische Familien wohnten und was das bedeutet, dass die abgeholt wurden.
DIE WENDEZEIT
Ab 1989 veränderte sich das politische Gefüge in der DDR rasant. In immer mehr Städten gab es Demonstrationen. Wie haben Sie die Wendezeit und die Stimmung damals erlebt?
Ich würde sagen, grundsätzlich fühlte es sich an wie… Sauerstoff. Alles wachte irgendwie auf. Vorher war so ein Stillstand. Ich war zu dem Zeitpunkt als alles eigentlich richtig los ging, nämlich im Sommer 1989, gerade auf Abschlussklassenfahrt mit meiner Abiturklasse in Ungarn. Aber wir kriegten nichts mit, denn wir konnten ja kein ungarisch. Wir hatten aber einen Ungarn in der Klasse und der kam uns dann einige Tage später besuchen und fragte, ob wir denn eigentlich mitbekommen hätten, was in Berlin los sei. Eine andere Mitschülerin, die ebenfalls verspätet zur Klassenfahrt kam, erzählte uns dann, Honecker liege im Krankenhaus und lauter solche Sachen. Und dann hat man natürlich schon überlegt, was machen wir denn jetzt? Wir hörten dann davon, dass Leute zu den Botschaften gingen. Aber mein Bruder war erst 1 1/2 Jahre vorher abgehauen und damit war das für mich keine Frage, ich konnte sowas nicht bringen. Also bin ich wieder nach Hause gefahren und habe die Wendezeit als archivarische Bearbeiterin im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Ostberlin erlebt. Da war ich angestellt und das war eine Umbruchszeit, auch für das Literaturarchiv. Es befindet sich noch heute am Robert-Koch-Platz, das war damals ziemlich nah an der Grenze zur Invalidenstraße – also Invalidenstraße, Lehrter Bahnhof hieß es ja damals noch, was jetzt der Hauptbahnhof ist. Ich erinnere mich gut an die Demonstrationen. Man war ja quasi hauptberuflich Demonstrant in dieser Phase und war auf allen möglichen Veranstaltungen, im Grunde rund um die Uhr. Zwischendurch ging an mal arbeiten, dann ging man mal nach Hause, ein paar Stunden schlafen, dann ging man wieder irgendwie arbeiten, dann ging man wieder demonstrieren – also eigentlich war man nur in Bewegung.
Ich erinnere mich sehr gut an den 10. November morgens. Da habe ich einen Tag Urlaub genommen und dann bin ich nach Westberlin gefahren. Ganz ordentlich einen Tag Urlaub genommen. Es war keiner im Büro, ich habe dem Chef einen Zettel hingelegt und mit mehreren KollegInnen sind wir dann nach Westberlin gefahren. Das war eine lustige Geschichte, weil die beiden anderen fragten, wo wir denn hinfahren. Und dann habe ich gesagt: Ja wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, dann fahren wir jetzt nach Kreuzberg, weil ich die bunte Seite der Mauer sehen will. Ihr könnt ja auf den Kudamm fahren, aber das interessiert mich nicht, ich will nach Kreuzberg. Und dann sind wir also mittenrein an den Kottbusser Damm und sind an der Mauer entlanggelaufen. Das fand ich total interessant. Mit der S-Bahn im Zickzack über die Mauer zu fahren, hat mich immer sehr an die Flucht meines Bruders erinnert.
Wie hunderttausende andere DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger waren auch Sie 1989 auf der großen Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz dabei. Wie war das?
Über die Demonstration am am 4. November hatte ich bereits in der Veranstaltung am 16.11. in der Evangelischen Akademie gesprochen. Darüber, dass sie insofern ein bisschen unheimlich war, weil meine Mutter über den Platz und durch die Leute ging und so kassandrische Bemerkungen von sich gab, die nur ich verstehen konnte, weil ich direkt hinter ihr lief. Meine Mutter war der Ansicht, dass es das Ende der DDR ist – so oder so. Aber die Stimmung auf dem Alexanderplatz war durchaus durchwachsen. Ich weiß wirklich nicht, wo die Leute immer hernehmen, dass es eine friedliche Revolution war. Es ist ein Sprachgebrauch, der sich da eingebürgert hat – als hätten wir gewusst, wie das alles ausgeht, als hätten wir sozusagen am Hebel der Geschichte gesessen. Niemand wusste es. Ich meine, es gab diese Gerüchte, dass überall die Kampftruppen stehen und eventuell mit Gewalt reagiert werden wird. Es gibt ja unzählige Dokumentationen, die versuchen herauszufinden, warum eigentlich nicht mit Gewalt reagiert wurde, was da in der Befehlskette nicht ganz funktioniert hat. Könnte man auch wieder sagen: Typisch DDR. Hat nicht funktioniert, deswegen haben wir Glück gehabt.
Die Leute, die in den Jahren vorher, in den 1970er und 1980er Jahren in Jena und anderswo in den Knast gegangen sind, weil sie sich wirklich politisch aus dem Fenster gehangen haben oder die, die in der Umweltbibliothek in Berlin aktiv waren – das sind Gruppen von Leuten, denen ich Respekt zolle. Und dann gab es aber auch die vielen vielen vielen Demonstrierenden, die in dem Moment, in dem alles sicher war und eigentlich nichts mehr passieren konnte, plötzlich Mitstreiter einer friedlichen Revolution waren. Ein großes Fragezeichen für mich. Vorher Mitläufer, nachher Mitläufer? Jetzt kann man natürlich tatsächlich in so einer Umbruchphase plötzlich aufwachen, Dinge verstehen und sich ernsthaft Gedanken machen. Und jeder Mensch hat natürlich ein Recht, seine Meinung zu ändern und tatsächlich auch dann aktiv zu werden. Und die gibt‘s natürlich auch – das will ich jetzt nicht unterstellen, dass jeder hier nur mitgelaufen wäre. Es schien mir dennoch etwas eigenartig, wie viele Menschen sich plötzlich als Regimegegner präsentierten.
NACH DER WIEDERVEREINIGUNG
Bei offiziellen Gedenkanlässen wird die Geschichte der Wiedervereinigung heute meist als Erfolgsgeschichte erzählt. Seit einigen Jahren melden sich aber auch vermehrt kritische Stimmen zu Wort. Betroffene berichten von massiver rechter Gewalt während der Nachwendezeit. Rostock-Lichtenhagen steht für viele als Sinnbild davon. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich habe mich extrem bedroht gefühlt in dieser Phase, Anfang der 1990er. Es war ja nicht nur Lichtenhagen – es war Hoyerswerda, es war Mölln, es war Solingen, es war überall. Zu den Betroffenen gehörten auch die politischen AktivistInnen, die nicht in den Hauptstädten oder großen Städten waren und die permanent irgendwo zusammengeschlagen wurden. Da waren extrem viele Nazis unterwegs. Immer wieder kam es zu Schlägereien und Leute kamen ums Leben, wurden einfach umgebracht, junge Leute. Ich fand damals, das ist ein Land, das man ruhig hinter sich lassen kann.
Ich muss dazu sagen, ich hatte Freunde in Rostock, ich war oft in Lichtenhagen, ich kannte die Atmosphäre dort. Mich hat das gar nicht gewundert, was da passiert ist, denn die Leute waren extrem abgestumpft teilweise, so verroht. Also ich rede jetzt von Jugendlichen. Es wurde unglaublich viel Alkohol konsumiert, also bis zur Besinnungslosigkeit. Und das war auch immer das Ziel, die Besinnungslosigkeit. Offensichtlich gab es nicht genug Aktivierendes, zu viel Frustration, zu wenig Angebot für die Jugendlichen. Und vielleicht auch zu wenig kritische Auseinandersetzung mit allem Möglichen, auch in der DDR. Dass sowas passiert wie in Lichtenhagen, war für mich leider keine Überraschung. Ein großes Entsetzen natürlich, aber keine Überraschung.
Es würde auch den jüdischen Stimmen helfen, wenn die Minoritäten, die damals rassistisch angegriffen wurden, heute viel mehr Sichtbarkeit bekämen und die Auseinandersetzung damit viel deutlicher würde. Für mich war aber schon damals nicht so sehr die Frage „Wie geht’s den Jüdinnen und Juden?“. Ehrlich gesagt ist es für mich die Frage „Wie geht’s der Gesellschaft“. Wenn sich wie Anfang der 1990er Jahre sowas hochschraubt, wenn diejenigen, die Minoritäten sind, sofort ins Visier kommen, dann ist das mehr als ein deutlicher Hinweis darauf, dass in der Gesellschaft irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.
Was war der Auslöser für diese Gewalt? Der latente Rassismus und Antisemitismus in signifikanten Teilen der Bevölkerung oder die sozialen Verwerfungen nach der Wiedervereinigung? Wie würden Sie das gewichten?
Ich würde mich gar nicht auf die eine oder andere Seite schlagen wollen. Beides spielt eine Rolle. Man kann jetzt hingehen und sagen: Die Leute wurden damals nicht mitgenommen und dann sind die da verelendet und sozial verkommen – das glaube ich alles nicht. Das sind alles viel zu einfache Erklärungen. Das mag in Einzelfällen so sein, aber es hat eben viel tiefere Gründe. Trotzdem hat das Ganze natürlich auch mit gesellschaftspolitischen Grundfragen zu tun: Welche Gesellschaft wollen wir sein? Für wen sollte Platz sein? Und für welche Geschichten sollte Platz sein? Und gerade nach der Wende spielt da auch die Frage eine Rolle: Haben wir die DDR-Leute eigentlich mitgenommen? Hatten die eine Möglichkeit auf den Zug aufzuspringen? Oder haben wir die abgehängt und sind in eine frohe Zukunft davongefahren? Ich war damals schon der Ansicht, dass wir sehr viel unterlassen haben, gerade Anfang der 1990er Jahre, und dass sehr viele Leute mit so einer Wut im Bauch zurückblieben. Und dass diese Wut im Bauch als Bumerang noch einmal zurückkommen würde. Das zeigt sich auch heute. Als ich Pegida und wie sie alle heißen auf ihren Demos gesehen habe, musste ich feststellen: Das ist das meine Altersgruppe, das ist meine Generation. Das sind die Leute, mit denen ich zur Schule gegangen bin. Wir haben da etwas Wichtiges vermasselt. Und ich weiß nicht, ob wir das noch reparieren können, aber versuchen sollten wir es auf jeden Fall.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, fuhr damals aus Solidarität mit den vietnamesischen Vertragsarbeitern nach Rostock-Lichtenhagen. Von einem Rostocker CDU-Politiker bekam er danach hören, er solle sich nicht in deutsche Angelegenheiten einmischen. Haben Sie diese Kontroverse damals mitbekommen?
Ja, klar habe ich das damals mitbekommen. Das war ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ignatz Bubis war ganz alleine mit seiner Perspektive, so wie er alleine war, als später diese Rede von Martin Walser gehalten wurde. Er tat mir immer furchtbar leid. Ich fand, er hat das richtig gemacht, dass er dahingefahren ist – natürlich –, dass er sich in diese Debatte eingemischt hat, dass er sich dazu verhalten hat – G-tt sei Dank! Aber es war auch klar, wie ihm begegnet werden würde. Ich weiß nicht, wie der das ausgehalten hat. Er hat es ja auch schlecht ausgehalten, er hat ja dann auch viele deutliche Sachen gesagt.
Und auch diese Perversion, dass der Kohl nicht nach Solingen gefahren ist…
Helmut Kohl besuchte weder Lichtenhagen, noch Mölln, noch Solingen. Er wolle keinen Beleidtourismus, sagte er damals.
Ja, also es ist pervers. Absolut pervers. Was ist das? Nun ist er der Bundeskanzler, da hat es eine politische Funktion, wenn er dahinfährt und es ist kein Tourismus. Aber dann nach Bitburg fahren…
KONTINUITÄTEN IN DIE GEGENWART
Frau Brungs, Sie sind nicht nur Zeitzeugin, Sie beschäftigen sich auch in Ihrer wissenschaftlichen und beruflichen Tätigkeit seit vielen Jahren mit der Rolle des Antisemitismus in den verschiedenen Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus. Wie genau lebte der Antisemitismus nach 1945 fort und wo stehen wir heute?
Heute erst sendete Deutschlandradio Kultur ein Interview mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Erfurt. Da wurde er doch tatsächlich gefragt, warum denn der Antisemitismus immer noch da sei. Das finde ich immer wunderbar, solche Fragen. Wenn man mal runterkäme von dem Ross zu sagen, dass wir den Antisemitismus abschaffen können und wenn man sich mal tatsächlich gesellschaftlich klar darüber werden würde, dass Antisemitismus immer da war, immer da sein wird und dass es immer nur stetig darauf ankommt, dass wir Bildung dagegensetzen und Auseinandersetzung dagegensetzen und auch Grenzen setzen – dann, glaube ich, wäre schon etwas gewonnen.
Antisemitismus ist und bleibt ein riesiges Problem. Er steckt den Leuten im System. Das ist historisch bedingt und wenn man das einmal soziologisch betrachtet, dann kann man sagen: Die Gruppe stößt immer aus, was fremd ist oder was fremd erscheint oder was sie zum Fremden erklärt. Die Konsequenz sind Rassismus und Antisemitismus. Nach dem Anschlagsversuch auf die Synagoge in Halle haben sich viele gefragt, wie das passieren konnte. Dazu kann ich nur sagen: Ich finde nicht, dass es in Halle angefangen hat, ich finde, dass man es schon in Rostock gesehen hat, beim Überfall auf das Sonnenblumenhaus 1992. Das Abgrenzen, das „Othering“, das hat Zum-Anderen-machen der anderen, das Ausgrenzen – in beiden deutschen Staaten gab es davon nach 1945 nicht nur historische Reste, sondern auch neue Anstöße aus der jeweiligen aktuellen Periode heraus. Ich denke da beispielsweise an die 1950er, an die 1960er, an die 1970er Jahre. Wenn man so an die Perioden denkt, dann gab es immer auch aus der jeweiligen Zeit heraus gute Argumente, den Antisemitismus nicht fallen zu lassen. Denn der ist ja immer auch ein bewährtes Mittel, um die eigenen Fehler gesellschaftlich zu verdecken. Dann schiebe ich das gesellschaftlich dahin.
Welche Rolle spielt die mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien?
Ich habe in den letzten 30 Jahren in vielen Diskussionen immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass ich der Ansicht bin, dass man sich in Deutschland mit der eigenen Familie auseinandersetzen muss. Man muss sich, wenn man nun mal in Deutschland geboren ist, fragen lassen und sich auch selber fragen: Wo war meine Familie unterwegs im Nationalsozialismus? Und das ist mitunter eine sehr schmerzhafte Auseinandersetzung. Aber wenn man da nicht durchgeht, dann kann man sich auch nicht frei bewegen. Und man kann sich dann auch nicht wirklich mit den historischen Fakten auseinandersetzen, sondern man ist beschränkt in seinen Handlungsmöglichkeiten. Es sind die Scham oder das Verdrängen, die dann regieren. Das ist so ein Punkt, den wir gesellschaftlich immer noch nicht gelöst haben. Ich finde nicht, dass wir alle auf dem Stand sind, wo wir sagen könnten, in den Familien ist tatsächlich die eigene Beteiligung des eigenen Mitläufertums oder sogar der eigene Enthusiasmus der Großeltern- oder der Urgroßelterngeneration während des Nationalsozialismus diskutiert und reflektiert worden. Es gibt solche Familien, es gibt aber auch viele, wo das nicht reflektiert wurde. Und das ist ein Problem, das uns wirklich auf die Füße fällt gerade. Wir haben da einen extremen Nachholbedarf.
Es gibt einen unglaublichen Bedarf, auch bei ganz jungen Leuten, sich in das, was wir jetzt „Biografisches Erzählen“ nennen, hineinzubegeben und über die eigene Familiengeschichte zu sprechen. Mitunter bringt mich das als politische Bildnerin in skurrile Situationen. Zum Beispiel, wenn ich mit jungen Leuten zusammensitze, die sehr betroffen sind von einer heftigen nationalsozialistischen Haltung der Großeltern – Großeltern, die immer noch leben und diese Haltung nach wie vor vertreten. Es ist nicht so, dass es vorbei ist. Es ist nicht so, dass man sagen kann, die Nazis seien alle seit 50 Jahren tot. Das ist nicht wahr. Und den vielen Menschen, die in demokratiepädagogischen Zusammenhängen unterwegs sind, macht es wirklich das Leben schwer. Da gibt es leider immer noch schwierige Situationen, in denen auch ich dann überlegen muss: Möchte ich jetzt ein biografisches Erzählprojekt oder Unterfangen mit den Leuten in dem Kontext durchführen, möchte ich das? Bin ich die Richtige, als Tochter von Überlebenden, ist das jetzt eigentlich richtig? Oder sollte das nicht eigentlich anders stattfinden? Es liegt in der Natur der Sache, dass es teilweise wirklich oft uns vor die Füße rollt, die die wir als Menschen mit jüdischem Hintergrund als politische Bildner unterwegs sind. Das Thema rollt uns vor die Füße, obwohl das eigentlich jemand anders machen sollte. Vielleicht sollten wir Leute speziell dafür ausbilden. Es müssen auf jeden Fall viele Gespräche geführt werden und das können nicht alles Psychologen machen – wir haben nicht so viele Psychologen und Therapeuten in Deutschland. Ich weiß nicht genau, wie man das aufziehen könnte, aber im Grunde genommen muss es ein großes Gespräch geben und es ist nicht „Deutschland spricht“.
GEDENKEN AM 9. NOVEMBER
Am 9. November jähren sich in Deutschland drei Ereignisse: Die Ausrufung der Republik während der Novemberrevolution 1918, die nationalsozialistischen Novemberpogrome 1938 und der Fall der Mauer 1989. Es scheint unmöglich, alle diese Ereignisse zugleich erinnern zu wollen. Welche Geschichte sollten wir erzählen am 9. November?
Erstmal will ich noch einen Schritt zurückgehen und sagen: Es war schon vorher, also bevor der 9. November der Tag der Maueröffnung wurde, nicht unbedingt so, dass alle den 9. November als Gedenktag auf dem Schirm hatten. An welche historischen Ereignisse sollten wir erinnern? Wie wär’s denn, wenn man an alle erinnert. Ich will ja den Leuten nicht ihre Maueröffnung nehmen…
Dann ist die Frage, ob sich da Erinnern der beiden Ereignisse nicht eine Konkurrenz einschleicht.
Die haben wir doch. In der Regel ist es doch so, dass vor allem an die Maueröffnung erinnert wird und dann gibt es da noch das Gedenken an die Novemberpogrome. Die Novemberrevolution fällt in der Regel schon hinten runter. Vor allem wenn es bezüglich des Mauerfalls runde Jahrestage sind, ist der Zirkus enorm. Und es ist ja auch viel einfacher. Warum sollte man sich denn an die Novemberpogrome erinnern wollen, wo man doch an diesem Tag so viele schöne Alternativen hat. Man kann sich an die Novemberrevolution erinnern als ein großes historisches Ereignis oder man kann sich eben an die Wende erinnern. Meine Mutter war Historikerin und hat immer gesagt: Es ist ein Faszinosum, dass so viele Ereignisse auf den 9. November fallen.
Was ich wirklich immer wieder interessant finde: Es gibt es ganz viele Leute, die gar kein Problem haben, Veranstaltungen – auch in der politischen Bildung übrigens – auf den 9. November oder auf den 27. Januar zu legen. Ich muss sagen, je älter ich werde, umso mehr nervt mich das. Könnt ihr euch nicht endlich mal einen interkulturellen Kalender an die Wand nageln? Das ist doch wirklich nicht so schwer: Dann weiß ich, wann Ramadan ist, dann weiß ich, wann Jom Kippur ist und ich weiß, was da am 9. November los war. Dann vergisst man das nicht ständig. Denn die Erfahrung ist immer wieder die der Exklusion. Man ist in irgend einem Arbeitsumfeld und die KollegInnen legen die Jahresklausur genau auf das Datum der hohen jüdischen Feiertage. Dann muss ich leider sagen: Ich kann nicht kommen oder wir verlegen es. Und ich fühle mich natürlich exkludiert. Ich finde das auch völlig selbstverständlich, dass man nicht ein großes Teamessen macht mitten im Ramadan. Es sind die kleinen Dinge, mit denen wir denen, die zu einer Minorität gehören, zeigen, dass sie dazugehören, dass sie mitgedacht werden. Oder dass sie eben ständig durch‘s Raster fallen. Und der 9. November als für jüdische Leute in Deutschland wichtiger Gedenktag fällt nach wie vor oft hinten runter.
In letzter Zeit gibt es heftige Debatten darum, ob die Erinnerungskultur in Deutschland nicht zu stark formalisiert sei, als dass von ihr überhaupt noch kritische Impulse für die Gegenwart ausgehen könnten. Ist an dieser Kritik etwas dran?
Tatsächlich beschäftigt mich das schon eine ganze Weile. In den 1990er Jahren fiel mir das erste Mal auf, dass hier irgendwas nicht stimmt. Da fing ich an, mich in der Forschung, also wissenschaftlich, damit zu beschäftigen. Wir haben einiges geschafft in den letzten Jahren, bis hin zum Demokratiefördergesetz und solchen Sachen, aber wenn ich darüber nachdenke, hat die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Deutschland oft etwas Ritualisiertes. Ich denke beispielsweise an die Veranstaltungen im Bundestag zum 27. Januar. Jedes Jahr wieder kommt ein Überlebender von Auschwitz und hält eine herzzerbrechende Rede, auf die die deutschen Abgeordneten irgendwie nicht adäquat reagieren können, weil sie das zum einen mit der Empathie nicht hinzubekommen scheinen und zum anderen mit ihrer Rolle als PolitikerInnen im Parlament. Und eigentlich genau dasselbe Problem haben wie große Teile der deutschen Gesellschaft: Nämlich, dass diese Aufarbeitung irgendwie nicht stattgefunden hat. Das merkt man dann immer dort an dieser Stelle. Da sitzen die Überlebenden vorne am Mikrophon und erzählen ihre Geschichte und es zerreißt einen fast, weil es irgendwie ein kalter Raum ist, in den sie hineinsprechen. Jahr für Jahr sieht man sich das an, in der Hoffnung, dass es diesmal irgendwie anders ist. Aber es ist nicht anders.