Diskurs

Dialektik im Stillstand – Überlegungen zu Walter Benjamin

Einleitung

Die folgenden Überlegungen untersuchen die Gedanken Benjamins zur Dialektik im Stillstand im Passagewerk und in den Geschichtsphilosophischen Thesen. Gemäß der Methode Benjamins in seinem Passagewerk werde ich ihn dabei ausführlich zitieren.

Die Methode des historischen Materialismus, die Benjamin formuliert, steht gegen die Ideologie des Historismus. Die Diskussion mit diesem nimmt sowohl im Passagewerk als auch in den Geschichtsphilosophischen Thesen einen großen Raum ein. Darum wird diese in der Ausarbeitung im Kapitel 2 ebenfalls ausführlich diskutiert.

Kapitel 3 reflektiert die Dialektik im Stillstand in den Texten. Aus dem Passagewerk wird vor allem die Materialsammlung N „Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts“ zugrunde gelegt.

Kapitel 4 geht der Frage nach der messianischen Kraft nach, welche die Dialektik im Stillstand von den Gegenwärtigen heischt – und der Frage nach dem Messias als Erfüllung der Geschichte.

Und in einem Fazit stelle ich Überlegungen für eine gesellschaftliche Praxis an.

Die Zitate sind jeweils im Text gekennzeichnet. Und die Quellenangabe verweist auf die Gesammelten Schriften hrgb. von Rolf Tiedemann.

Vorüberlegungen

Eine Ausarbeitung über das Passagenwerk von Walter Benjamin hat ernstzunehmen, dass Benjamin Manuskripte und eine große Materialsammlung hinterlassen hat, aber kein abgeschlossenes Werk. Ebenso ist die Methode ernstzunehmen, nach der Benjamin gearbeitet und die er geradezu als die Methode des historischen Materialismus bezeichnet hatte – die der Montage: „Diese Arbeit muss die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen.[1]“ (N 1, 10)

Und: „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.[2]“ (N 1 a,8)

Das Passagenwerk steht in einem engen Zusammenhang zu den Geschichtsphilosophischen Thesen. Deshalb wird in dieser Arbeit stärker ein Abgleich und das Nebeneinander; das Ergänzende zur Darstellung kommen.

Aus den Überlegungen zum Werk als auch zur Methode ergeben sich für mich zwei Konsequenzen für diese Arbeit. Erstens lassen sich Benjamins Überlegungen nicht in ein System bringen – er selbst wollte kein System schaffen. Deshalb scheint mir eine strenge Gliederung und Systematisierung seiner Gedanken in einer Ausarbeitung zum Passagewerk unangemessen.

Und zweitens ist es angemessen – seiner Methode folgend – Benjamins Überlegungen umfangreich zur Darstellung zu bringen. Deshalb wird der Abgleich zwischen der Passagenwerk und den Geschichtsphilosophischen Thesen in den einzelnen Punkten mit vielen Zitaten arbeiten, die nebeneinanderstehen, sich kommentieren – ergänzen – stützen oder entwickeln, aus- oder weiterführen.

Wesentlich für das Verständnis Benjamins ist sein Sprachgebrauch. Wenn nach Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch im Sprachspiel ist, ist nach der Grammatik bestimmter Worte bei Benjamin zu fragen. Benjamin selbst schreibt: „Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte im Segel zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.[3]“ (N9, 5)

Dialektik im Stillstand ist ein Schlüsselbegriff bei Benjamin, ein heuristisches Prinzip. In gewisser Weise ist sie Methode – eben die dem historischen Materialismus angemessene – welche der Methode des Historismus gegenübersteht. Wesentlich wird also sein, die Unterschiede zwischen dem historischen Materialismus und dem Historismus im Verständnis der Zeit  herauszustellen – wie Benjamin ihn sieht.

Zugleich ist sie aber auch erschließend im Blick auf Vergangenheit und Zukunft zur Gestaltung gegenwärtiger Weltverhältnisse. Im Erschließen ist sie zugleich entlarvend, dekonstruierend und eröffnend. In gewisser Weise ist sie der revolutionäre Akt – oder Ausgangspunkt.

Historismus vs. historischer Materialismus

Für Benjamin ist der Historismus als Wissenschaft Teil des bürgerlich-kapitalistischen Weltverständnisses, der mit wissenschaftlichem Anspruch Kontinuitäten rekonstruiert und damit zum Werkzeug der herrschenden Verhältnisse wird[1]. Geschichte wird betrachtet in der Perspektive des Fortschrittes oder des Verfalls – „Die Überwindung des Begriffs des »Fortschritts« und des Begriffs der »Verfallszeit« sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache.[2]“ (N 2, 5) – die Kritik des Fortschritts jedoch ist fundamentaler, weil dieser gefährlicher ist – macht er doch anfällig für die Korruption durch die herrschenden Verhältnisse. Dazu ein Gedanke aus der 11. These: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. … Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben.[3]

Noch deutlicher formuliert Benjamin in der 10. These: „Die Betrachtung geht davon aus, daß der sture Fortschrittsglaube dieser Politiker[4], ihr Vertrauen in ihre »Machtbasis« und schließlich ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat drei Seiten derselben Sache gewesen sind. Sie sucht einen Begriff davon zu geben, wie teuer unser gewohntes Denken eine Vorstellung von Geschichte zu stehen kommt, die jede Komplizität mit der vermeidet, an der diese Politiker weiter festhalten.[5]

Benjamin macht die korrumpierende Macht deutlich, die mit dem Begriff des Fortschritts einhergeht – und zwar im Blick auf die Stabilisierung der herrschenden Verhältnisse, welcher ja der Historismus dient, als auch im Blick auf die Sozialdemokratie[6] und den russischen Kommunismus.

„Der Begriff des Fortschritts dürfte im 19ten Jahrhundert, als das Bürgertum seine Machtposition erobert hatte, die kritische Funktion, die ihm ursprünglich eignete, mehr und mehr eingebüßt haben.[7]“ (N 11 a, 1)

„Der Fortschrittsbegriff musste von dem Augenblick an der kritischen Theorie der Geschichte zuwiderlaufen, da er nicht mehr als Maßstab an bestimmte historische Veränderungen herangebracht wurde, sondern die Spannung zwischen einem legendären Anfang und einem legendären Ende der Geschichte ermessen sollte. Mit anderen Worten: sobald der Fortschritt zur Signatur des Geschichtsverlaufes im ganzen wird, tritt der Begriff von ihm im Zusammenhang einer unkritischen Hypostasierung statt in dem einer kritischen Fragestellung auf.[8]“ (N 13, 1)

Fortschritt wird damit zu einer Art Notwendigkeit, die quasi naturgegeben ist. Statt von Fortschritt als Verbesserung eines Zustandes zu sprechen, dem eine Verschlechterung gegenüberstehen kann, wird der Fortschritt zu einem Naturgesetz, wodurch das Ziel der Geschichte notwendig erreicht würde. Dem aber widerspricht Benjamin: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. „Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.[9]“ (N 9, 8) Dazu das eindrückliche Bild vom Engel der Geschichte: „Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen[10], … Aber ein Sturm weht vom Paradies her, … Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[11]“ (These 9)

Mit diesem Gedanken erklärt sich auch Benjamins Ablehnung einer Verfallszeit, als gäbe es eine gute alte Zeit als Telos der Geschichte[12].

Die Kritik am Historismus und der mit diesem verbundene Umgang mit der Geschichte ist eben die Kritik daran, dass sowohl die Geschichte als die Geschichtskonzeption zum Instrument der herrschenden bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse werden und damit stabilisierend für diese. Der Historismus erzählt aber eine Siegergeschichte und ist eine Geschichte der Sieger. „Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich, in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. … Wer immer bis zu diesen Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.[13]“ (These 7)

Durch die Methode des Historismus werden die Ansprüche der Vergangenheit an die Gegenwart stillgestellt. Die Methode aber des Historismus ist die Rekonstruktion dessen, „was wirklich gewesen ist.“[14] Im Kontinuum der Zeit ist die Vergangenheit eben das Vergangene. Genau damit aber stellt der Historismus die Ansprüche still, die die Vergangenheit an die Jetztzeit erhebt. „Die Geschichte, welche die Sache zeigte, »wie sie eigentlich gewesen ist«, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts[15]“ (N 3, 4)

„Der Historismus gipfelt von Rechts wegen in der Universalgeschichte. … Die erstere (nämlich die Universalgeschichte, P.M.) hat keine theoretische Armatur. Ihr Verfahren ist additiv; sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen.[16]“ (These 17)

„»Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen« heißt es an einer Stelle des Kellerschen Sinngedichts. Damit ist der Wahrheitsbegriff formuliert, mit dem in diesen Darstellungen gebrochen wird.[17]“ (N 3 a, 1)

Parallel dazu heißt es in der 5. These: „… »Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen« – dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird.[18]

„Entschiedene Abkehr vom Begriffe »zeitlose Wahrheit« ist am Platze.[19]“ (N 3, 2)

Aus diesem Grunde kann die Methode des historischen Materialismus nicht die der Rekonstruktion sein. „Für den materialistischen Historiker ist es wichtig, die Konstruktion eines historischen Sachverhalts aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine »Rekonstruktion« nennt. Die »Rekonstruktion« in der Einfühlung ist einschichtig. Die »Konstruktion« setzt die »Destruktion« voraus.[20]“ (N 7, 6)

Das Ziel der historisch-materialistischen Methode ist eben nicht die Rekonstruktion von vergangenem, sondern die Konstruktion und die Aktualisierung. Diese Unterscheidung ist fundamental. Aus diesem Grund ist die Methode des  historischen Materialismus nicht die Aufhäufung historischer Fakten. Vielmehr die Verwendung des Abfalls, der Lumpen[21] – „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.[22]“ These 3

Die Siegergeschichte und die Sieger der Geschichte, zu deren Darstellung der Historismus sich in Anspruch nehmen lässt, „… werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Beobachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.[23]“ (These 7)

Historischer Materialismus bedeutet, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten[24].

Der historische Materialismus rekonstruiert nicht das „es war einmal“ des Vergangenen. „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, der Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von »Jetztzeit« erfüllte.[25]“ (These 14)

„Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren.“ These A

„Der Historismus stellt das »ewige« Bild der Vergangenheit, der historische Materialist seine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt anderen, bei der Hure »Es war einmal« im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.“ (These 16)

Wo also der Historismus Linien zieht, zeigt der historische Materialismus auf die Brüche. Im historischen Materialismus geht es um die Einbringung der Vergangenheit in allen ihren Bruchstücken in die Gegenwart – und zwar bis die ganze Vergangenheit in einer Wiedereinholung „in einer historischen Apokatastasis[26]“ in die Gegenwart eingebracht ist. „Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Augenblicke zitierbar geworden.[27]“ (These 3)

Vergangenheit wird damit aber aus dem Ablauf der Geschichte gelöst. Wie das Zitat aus dem Zusammenhang des Textes in einen anderen Zusammenhang gestellt wird, werden Ereignisse aus der Kontinuität herausgesprengt. Dies in einer doppelten Intention – einmal, um dem Anspruch auf Erlösung abzugelten, den die Vergangenheit an die Gegenwärtigen stellt – „Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. … Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welcher die Vergangenheit Anspruch hat.“ (These 3)

Und zum Anderen, weil wir in den Zitaten des Vergangenen unser heutiges Leben erst verstehen – das aber nicht kausal oder in der Kontinuität, in der sich quasi naturgegeben das eine aus dem anderen notwendig entwickelt. Vielmehr als Zitat, welches  das Jetzt mit dem Gewesenen in einen Sinnzusammenhang stellt. Und weil die Zeitereignisse in ihrer monadologischen Struktur[28] ihre Vor- und Nachgeschichte in sich tragen. „… genauso, wie Giedion uns lehrt, aus den Bauten um 1850 die Grundzüge des heutigen Bauens abzulesen, wollen wir aus dem Leben [und] aus den scheinbar sekundären, verlorenen Formen jener Zeit heutiges [leb]en, heutige Formen ablesen.[29]“ (N 1, 11)

Dialektik im Stillstand

Die Methode des historischen Materialismus ist die Konstruktion der Geschichte, die ihre Destruktion voraussetzt[1]. Das Ziel dieser Konstruktion ist die Wiedereinholung all dessen, was historisch für die Gegenwart verlorengegangen ist[2].

Der Anspruch der Vergangenheit auf Erlösung in der Gegenwart fordert die vollständige Zitierbarkeit der Geschichte – indem die Geschichte aber vollkommen zitierbar ist, gibt es sie nicht mehr als Verlauf, da Zitate eben aus einem Textzusammenhang in einen anderen gestellt werden[3]

Die Aufgabe des Historikers: „Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird.[4]“ (N 11, 3)

Dazu schreibt Benjamin: „Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur. ■ Abfall der Geschichte ■[5]“ (N 2, 6)

Dem Gedanken, dass in den kleinsten Einzelmomenten das Totalgeschehen zu entdecken sei, liegt die Vorstellung Benjamins zugrunde, dass geschichtliche Gegenstände eine monadologische Struktur haben. „Kraft dieser monadologischen Struktur des historischen Gegenstandes findet er in seinem Innern die eigene Vorgeschichte und Nachgeschichte repräsentiert.[6]“ (N 10, 3)

In der These 17 heißt es: “Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen, so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.[7]

In diesem geschichtlichen Gegenstand als Monade aber kommt es zur Stillstellung der Denkbewegung – respektive eben durch diese Stillstellung zeigt sich erst die monadologische Struktur des Gegenstandes: “Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chok, durch den es sich als Monade kristallisiert.[8]“ (These 17)

Wenn im Chock die Stillstellung der Gedanken erfolgt, zeigt sich das dialektische Bild, “…, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild [,] sprunghaft.[9]“ (N 2 a, 3)

Das dialektische Bild als Stillstand ist die Unterbrechung der Bewegung – des Fortschrittes – den Benjamin als in der Idee der Katastrophe fundiert (N 9 a, 1) sieht – “Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe.[10]

Als solches Bild ist es immer gefährdet – in der Gefahr, verpasst zu werden. Gegen Kellers Wort “Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen“, sagt Benjamin: “Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.[11]“ (These 5)

In diesem Aufblitzen des Bildes zeigt sich der Anspruch, den das Vergangene an die Gegenwärtigen hat. Mit diesem Bild stellt sich die Gefahr ein, die Chance zu verpassen, dem Anspruch nicht zu genügen – das Bild sich verflüchtigen zu lassen. “Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.[12]“ (These 6)

Das dialektische Bild – die zur Monade kristallisierte Konstellation ist die Konstellation, die sich einstellt, wenn Gewesenes und Jetzt zusammentreten – “Bild ist Dialektik im Stillstand.[13]“ (N 3, 1) Als dialektische Bilder, die ihren Ort in der Sprache haben (N 2 a, 3), gehört es zu ihnen, dass sie zu einer bestimmten Zeit lesbar sind: “Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses »zur Lesbarkeit« gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung  in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit, zusammenfällt.) Nicht ist es so, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand.[14]“ (N 3, 1)

Benjamin nennt nur diese dialektischen Bilder echt geschichtliche Bilder – deren Lesbarkeit “im höchsten Grade den Stempel des kritischen gefährlichen Moments (trägt P.M.), welcher allem Lesen zugrunde liegt.“ (N3, 1) – nämlich nicht verstanden zu werden, und damit verloren zu gehen.

Die Dialektik im Stillstand löst die Kontinuität auf, die der Historismus etabliert. “Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.[15]“ (N 7 a, 5)

Dazu: “Definitionen historischer Grundbegriffe: Die Katastrophe – die Gelegenheit verpasst zu haben; der kritische Augenblick – der status quo droht erhalten zu bleiben; der Fortschritt – die erste revolutionäre Maßnahme.[16]“ (N 10, 2)

Aber – und das scheint mir entscheidend – die Dialektik ist nicht auf die Zukunft gerichtet, sondern sie ist die Konstellation eines Vergangenen und eines Jetzt – in welchem sich die Jetztzeit als gemeint versteht und die Ansprüche der Vergangenheit zum Ziel kommen – die kleine messianische Kraft, die allen Geschlechtern innewohnt[17]. (These 3)

Das ist der wesentliche Gegensatz des historischen Materialismus zum Historismus, der Sozialdemokratie und – so Benjamin – der kommunistischen Partei der Sowjetunion (inwieweit dies auch auf Marx zutrifft, kann hier nicht diskutiert werden) – die ihre Verantwortung vor der Zukunft sahen und eben nicht vor der Vergangenheit – wodurch sie auch die Gegenwart entwerteten als Zwischenpunkt auf dem Weg des Fortschritts. “Sie (die Sozialdemokratie P.M.) gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.[18]“ (These 12)

Der Messias und die kleine messianische Kraft

Die Dialektik im Stillstand zielt auf die historische Apokatastasis (N 1 a, 3) der gesamten Vergangenheit in die Gegenwart – nicht aber auf die Zukunft. “Die Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, daß Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, … Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist diese Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.[19]“ (These 2)

Diesen Anspruch der Vergangenheit an die Jetztzeit gilt es zu erfüllen, indem diese sich des Vergangenen in der Erinnerung bemächtigt und das Bild der Vergangenheit festhält – zitiert, und die Gegenwart damit konfrontiert. “Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.[20]“ (N 7, a 5)

Allerdings erst die erlöste Menschheit wäre in der Lage, die Vergangenheit in jedem ihrer Momente zu zitieren – so Benjamin in These 3. “Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist eine Sache der Dunkelmänner.[21]“ (N 18, 3)

Um dazu aber eine angemessene Sprache zu finden, ist der historische Materialismus nach Benjamin auf die Theologie angewiesen, derer sich der historische Materialismus bedienen müsse. “Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (denn hier handelt es sich um den Kommentar, Ausdeutung in den Einzelheiten) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist es Theologie, im anderen Philologie die Grundwissenschaft.[22]“ (N 2, 1)

In einem Austausch mit Hockheimer über die Frage der Unabgeschlossenheit der Geschichte schreibt Benjamin: “Die Feststellung der Unabgeschlossenheit der Geschichte ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen … Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben … Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft »festgestellt« hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.[23]“ (N 8, 1)

In diesem Sinne wohnt die messianische Kraft in den Gegenwärtigen, dass sie des Vergangenen eingedenk sein können. Damit wird aber die Gegenwart zum Ort der Heilung des Vergangenen im Eingedenken – daran hat sich die Gegenwart zu bewähren, während die Zukunft verschlossen bleibt – und weder durch Magie noch durch Kausalitäten oder Kontinuitäten zu belegen ist – etwa im Sinne einer Fortschritts- oder Verfallsideologie.

“Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzaubert ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum nicht zur leeren Zeit. Denn in ihr war jeden Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.[24]“ (These B)

Fazit

Benjamins Denken ist nicht nur ungemein anregend, sondern auch von einer beängstigenden Aktualität. Historismus als Werkzeug ideologischer und herrschaftlicher Ansprüche – sowohl als Verfalls- oder Fortschrittsnarrativ bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs. Während das Fortschrittsnarrativ unbekümmert jegliche Ansprüche mit dem Verweis auf ein besseres Morgen erheben kann – und jegliche Verantwortung für eine missratene Vergangenheit und Gegenwart vertrösten, wird mit dem Narrativ des Verfalls politisches Handeln gerechtfertigt, welches bisherige gesellschaftliche Vereinbarungen infrage stellt. Die Dominanz und Priorität der Zukunft vor der Gegenwart und der Vergangenheit empfinde ich hochproblematisch. An dieser Stelle finde ich Benjamin für eine neue gemeinschaftliche Praxis sehr anregend. Inwieweit er für marxistische Theorien fruchtbar ist, vermag ich nur bedingt einzuschätzen. Für eine christliche und anarchistische Praxis jedoch, die sich solidarisch  versteht, bietet er wichtige Impulse.

Literaturverzeichnis

Text

Walter Benjamin; Gesammelte Schriften Bd. I. 2; Hrgb. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser;  3. Auflage; Frankfurt am Main; 1990

Walter Benjamin; Gesammelte Schriften Bd. V. 1; Hrgb. von Rolf Tiedemann;  3. Auflage; Frankfurt am Main; 1989

Sekundär

Agamben, Giorgio; Walter Benjamin und das Dämonische in Die Macht des Denkens;  Frankfurt am Main; 2013

Lindner, Burkhardt (Hrgb.); Benjamin; Handuch; Stuttgart;  2006

Röttgers, Kurt; Identität als Ereignis; Bielefeld; 2016

Tiedemann, Rolf; Dialektik im Stillstand; 2. Auflage; Frankfurt am Main; 2016

Witte, Bernd (Hrgb.); Topographien der Erinnerung; Würzburg; 2008


[1]N7, 6

[2]N1 a, 3

[3]Vergleiche GT 2 und 3.

[4]GS V.1; S. 595

[5]GS V.1; S. 575

[6]GS V.1; S. 594

[7]GS I.2; S. 702 f.

[8]Ebd.

[9]GS V.1; S. 576 f.

[10]GS V.1; S. 592

[11]GS I.2; S. 695

[12]GS I.2; S. 695

[13]GS V.1; S. 578

[14]Ebd.

[15]GS V.1; S. 588

[16]GS V.1; S. 593

[17]GS I.2; S. 694.

[18]GS I.2; S. 700.

[19]GS I.2; S. 693 f.

[20]GS V.1; S. 588.

[21]GS V.1; S. 608.

[22]GS V.1; S. 574.

[23]GS V.1; S. 588 f.

[24]GS I.2; S. 704


[1]Siehe These 6: „Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben.“ GS I.2; S. 695

[2]GS V.1; S. 572

[3]GS I.2; S. 698f.; vgl. dazu These 13: „Die sozialdemokratische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem Forschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte.“ GS I. 2; S. 700

[4]Benjamin spricht von  den „Politiker(n), auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten“ – also Stalin und die Kommunistische Partei der Sowjetunion.

[5]GS I.2; S. 698.

[6]Dies vor allem in den Thesen 12 und 13.

[7]GS V.1; S. 596.

[8]GS V.1; S. 599

[9]GS V.1; S. 592

[10]Stillstand als das Stillstellen des Zeitenlaufes!

[11]GS I.2; S. 697

[12]Nach der Vertreibung aus dem Paradies als Vorgeschichtlichem Zustand beginnt die Menschheitsgeschichte in der jüdischen Tradition mit dem Mord Kains an seinem Bruder Abel. Der erste Trümmer, den der Engel der Geschichte sieht. Das Paradies selbst ist eben vorgeschichtlich.

[13]GS I.2; S. 696. Der Zusammenhang des Textes: „Fustel de Coulanges empfiehlt den Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom späteren Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, … Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit. …“

[14]These 6 „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen »wie es denn eigentlich gewesen ist«

[15]GS V.1; S. 578.

[16]GS I.2; S. 702 f.

[17]GS V.1; S. 579

[18]GS 1.2; S. 695

[19]GS V.1; S. 578

[20]GS V.1; S. 587

[21]N 1 a, 8

[22]GS I.2; S. 694

[23]GS I.2; S. 696

[24]These 7

[25]GS I.2; S. 701

[26]N 1 a, 3

[27]GS I.2; S. 694

[28]Zur monadischen Struktur siehe …

[29]GS V.1; S. 572


[1]GS V.1; S. 572

[2]GS V.1; S. 574

[3]GS V.1; S. 591

Paul F. Martin

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