Lutherstadt Wittenberg, Städte der Mahnung
Christoph Maier (Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V.)
9. November 2021
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Wittenberger*innen, liebe Gäste,
Novembergedenken: welche Bilder tauchen da vor meinem inneren Auge auf? Eingeschmissene Schaufenster, Glas auf den Bürgersteigen, demolierte Geschäfte, geplündert, gemieden, gekennzeichnet als jüdisch: „Deutsche – kauft nicht bei Juden“. Wachgerufen wird das Trauma der Stigmatisierung, Verfolgung und Ermordung von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, Nachbarinnen und Nachbarn, die als andersartig, ja als abartig gelabelt wurden. Wir stolpern heute über Namen und Biografien, wir stolpern heute über Mitbürgerinnen und Mitbürger, über Nachbarinnen und Nachbarn, die es in Wittenberg nicht mehr gibt.
Neue Nachbarinnen und Nachbarn gibt es heute. Zumeist Menschen, die aus Osteuropa zu uns gekommen sind, über 100 Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit sollen heute in Wittenberg leben. Wir würden sie wahrscheinlich als Ausländer, als Zugewanderte kennzeichnen.
Den Judenstern tragen heute andere, Ungeimpfte auf Demonstrationen. Sie verwechseln damit ihre eigene Entscheidungsfreiheit mit rassistischem, antisemitischem, staatlich organisiertem Vernichtungsfeldzug. Unerträglich!
Unerträglich, dass antisemitische Stereotype und Bilder immer wieder in unserer Gesellschaft auftauchen. Aus den archaischen Tiefen eines gesellschaftlichen Sumpfgebietes steht er immer wieder auf: Der Kindermörder, der Weltverschwörer, der Geldsack. Unerträglich!
Wir können auch deshalb nicht nachlassen, zu erinnern, zu mahnen, als Bürgergesellschaft hier an dieser Stelle zu stehen und diesmal die Augen nicht zuzumachen. Nicht vor dem Nachbarn aus Osteuropa oder Syrien, nicht vor den kruden Verschwörungstheorien, nicht vor den neuen antisemitischen Stereotypen, auch wenn sie oft in verfremdet und in neuem Gewand daherkommen. Wo Angst ist vor dem Ungewissen und dem Fremden, da ist auch Antisemitismus. Wir können es uns nicht ersparen, zu erinnern und zu mahnen, uns unserer Beschämung und Scham zu stellen, gerade hier in Wittenberg, gerade hier an dieser Stelle, gerade hier an der Stätte der Mahnung.
Ich zitiere den Thüringer Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach (1890-1942) und seine Schrift: „Martin Luther über die Juden: weg mit ihnen!”
„Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volke wird zur Sühne […] der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. … In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von der Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden, der Warner seines Volkes wider die Juden.“
Liebe Wittenbergerinnen und Wittenberger,
wir stehen hier unter Luthers Sau, der Luthersau, wir stehen hier unter dem in Stein gemeißelten Zeugnis von fortwährendem Judenhass seit dem 13. Jahrhundert, dem 16. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert. Wir können nicht anders als hinschauen. Jeder Versuch, unsere Scham zu bedecken, würde enden, wie der Versuch des Künstlers des Wittenberger Mahnmahls hier neben mir, das zeigt, wie Antisemitismus und Hass, Schuld und Scham hervorquillt wie Schweinegedärm unter Gehwegplatten.
Wenn im Jahr des Lutherjubiläums 2017 hier vor der Stadtkirche Menschen, Kollegen, Pfarrer mit Transparenten demonstrierten und Mahnwachen zur Abnahme des Schäm-Reliefs abhalten und gleichzeitig Konferenzen zur Losbetung und Vergebung der deutschen Schuld abhalten, zweifle ich an deren Motiven. Geht es darum, die andauernde Beschimpfung der jüdischen Mitbürger*Innen zu beenden, oder soll endlich ein Schlussstrich gezogen werden, unter dieses unrühmliche Kapitel unserer Kirche und Gesellschaft.
Antisemitismus lässt sich nicht erledigen. Wir stehen hier und heute unter der Luthersau, dem in Stein gemeißelten Zeugnis für kirchlichen Antijudaismus, Antisemitismus und Judenhass.
Wie erinnern, wie gedenken wir: wir müssen hinschauen! Wir müssen erkennen, wie tief wir in unserer eigenen Identität und Geschichte mit den Wurzeln verbunden sind, die den Hass genährt, die Motive geformt und das Unbegreifliche, die Ermordung, mit deutscher Gründlichkeit, ins Werk gesetzt hat.
Wir gedenken, wir erinnern, wir mahnen, damit wir wach bleiben in unserer Gegenwart, und damit wir eine Zukunft haben, denn:
„Was nicht gesehen ist, kann nicht verschwinden.“
Prof. Dr. Doron Kiesel, Leiter der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden, sagte heute Nachmittag auf einer Konferenz in Berlin, wo wir über den Umgang mit antisemitischen Bildern diskutiert haben: „Ihr könnt uns unsere Trauer nicht abnehmen.“
Ja, das stimmt! Aber vielleicht können wir einmal den Perspektivwechsel wagen. Es wagen, einmal mit den Augen eines jüdischen Menschen durch unsere Städte zu laufen und aufmerksam sein, wie an jeder Ecke, auf Schritt und Tritt, Zeichen der Erniedrigung, Stolpersteine, Mahnmahle erinnern an dieses Trauma, an die Trauer und den Schmerz.
Wir können diese Trauer nicht abnehmen, aber hinsehen und mitfühlen, denn: was nicht gesehen ist, kann nicht verschwinden.
denkmal
noch sind die gläser nicht gespült
die karten noch auf dem tisch
das aufgeschlagene buch noch
am rand und auf dem blatt
noch ein angefangenes gedicht
und im flur
ein gepackter koffer
noch warte ich auf den brief und
mache noch den termin für haar
und zahn und gieße im sommer
den baum im hinterhof
und im flur
ein gepackter koffer
noch ersehne ich wieder das frühjahr
noch zweifle ich an dem was ich sehe
und misstraue noch meinen ohren
doch im flur steht
ein gepackter koffer
und die schnürschuhe stehen bereit
es ist geschehen und es kann wieder geschehen
es ist noch das gleiche volk das da schreit
und den firnis schmirgelt die zeit
und im flur
ein gepackter koffer
und die schnürschuhe stehen bereit
Charlotte van der Mele
Vor dem Gedenken an der Stätte der Mahnung luden jungen Menschen, die aus dem von der Jungen Akademie verwalteten Jugendfonds gefördert wurden, eine eigene Gedenkveranstaltung vor dem Rathaus ab, von der sie zu Beginn des offiziellen Gedenkens berichteten.