Diskurs

Wer kümmert sich? Globale Betreuungsketten und Geschlechtergerechtigkeit

Ein Beitrag von Franziska Ilse-Shams und Niels Kropp, Friedenskreis Halle e.V. Fachpromotor für Migration und Entwicklung

Bildrechte: www.pixabay.com/truthseeker08

Weltweit gibt es eine Verschiebung von Care-Arbeit. Deutsche Minister*innen werben in Mexiko, im Kosovo oder auf den Philippinen um Pflegekräfte. Haitianerinnen kümmern sich in Mittelschichtsfamilien in der Dominikanischen Republik um die Kinder und Alten. Ukrainerinnen arbeiten in Polen in diesen Bereichen – und Polinnen in Deutschland. Eritreerinnen pflegen Demenzkranke im Libanon. Dies versteht man als Care Chain sog. globale Betreuungsketten.[1] Diese Betreuungsketten bilden sich entlang von Armutsgrenzen, von Süden nach Norden und von Osten nach Westen.

Sie sind das ganz praktische Ergebnis verschiedener Prozesse und Machtverhältnisse, innerhalb der Gesellschaften und global gesehen. Auf diese werfen wir in unserem Beitrag einen Blick.

Bereits 2022 hat Barbara Ehrenreich die Geschlechter-revolution beschrieben: sie besteht darin, dass sich in reichen wie in armen Ländern immer weniger Familien auf einen männlichen Familienernährer stützen können oder wollen.[2] Frauen nehmen überall verstärkt am Erwerbsleben teil – dies führt zu einer globalen Neu-Verteilung der Haus – und Familienarbeit – überwiegend zwischen Frauen und geprägt von den Bedarfen in den Zentren des globalen Reichtums. Gleichzeitig verwenden Frauen nicht nur für unbezahlte Sorgearbeit mehr Zeit als Männer, sondern auch der Mammutteil der beruflichen Care-Arbeit in Deutschland wird von Frauen geleistet. Ob in Kindertagesstätten, privaten Pflegediensten, Krankenhäusern oder im Reinigungswesen – im Gesamtdurchschnitt leisten sie 84 Prozent. Weltweit sieht es ähnlich aus.

Wenn Menschen – fast immer sind es Frauen – migrieren, um anderswo zu pflegen, sich zu kümmern, zu betreuen, hinterlassen sie zuhause eine Lücke, die gefüllt werden muss. In den meisten Fällen übernehmen Verwandte, vor allem Großmütter, aber auch Schwestern, Schwägerinnen oder Cousinen die Kinderbetreuung. Oder die betroffenen Familien suchen selbst – günstigeren – Ersatz. Für diese Vorgänge wurden Begriffe wie ‘care drain’ – analog zu ‘brain drain’ – und ‘care chains’ geprägt.

Und auch wenn diese Care-Leistungen zu den am stärksten wachsenden gesellschaftlichen Arbeitsbereichen gehören, so sind sie doch gesellschaftlich ungenügend anerkannt, thematisiert und entlohnt. Noch immer werden sie nicht als Arbeit, sondern als ‚einfache‘ Tätigkeiten verstanden und von Frauen im- oder explizit als ‚normal‘ erwartet.

Ein weiteres Phänomen im Bereich Care ist die kommerzielle Leihmutterschaft. In der Ukraine oder auch Indien wird sichtbar, wie das Austragen von Kindern als ein marktförmig organisierter, widersprüchlicher und körperlich, emotional, sozial und kulturell ausbeutender Produktionsprozess organisiert wird.[3] Hierbei sind nicht nur die Leihmutter und die Käufer in den Prozess verwickelt, sondern Kliniken, Regierungen etc.

Seit nun mindestens 20 Jahren wird um die Beurteilung all dieser Phänomene gerungen, auch und gerade aus der Sicht nachhaltiger Entwicklung. Die Einen sehen darin vor allem eine Ausbeutung der Migrierenden, die in den Aufnahmegesellschaften oft schlecht geschützt sind, und erkennen eine Vertiefung globaler Ungleichheiten und Desintegration der Herkunftsfamilien. Die Anderen beobachten eine Stärkung derselben durch Rücküberweisungen und ein Aufbrechen rigider Geschlechterrollen.

Oder wie es Helma Lutz und Ewa Palenga-Möllenbeck interpretieren: „Entsendeländer betrachten ihre Migranten als ‚Investoren‘ ihrer Volkswirtschaften, wobei die sozialen Kosten den Individuen überlassen bleiben. Dasselbe gilt für die Aufnahmeländer, in denen Migrantinnen als unmittelbar ökonomisch nützliche, temporäre Arbeitskräfte behandelt werden, vergleichbar mit dem früheren GastarbeiterInnensystem, bei dem die Verantwortung, in kulturelles Kapital zu investieren und soziale Risiken einzugehen, auf die Entsendeländer und die Individuen verschoben wurde.“[4] Diese Streitfrage werden wir hier nicht zufriedenstellend lösen können. Denn Eines ist sicher: Die Situation ist sehr komplex und die Lebensrealitäten der Migrierenden und der beteiligten Familien sehr unterschiedlich. Wir sind aber überzeugt, dass wir in der Auseinandersetzung mit der globalen Care-Migration einiges lernen können. Denn hier spiegeln sich viele der Ungleichheiten, Widersprüche und Fragen unserer Welt.

Bisher ist es leider nicht gelungen, die verschiedenen Diskussionsstränge aus der Frauen-, Familien-, Sozial-, Gesundheits-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Migrations- und Außenpolitik und auch der sog. Entwicklungspolitik zusammenzuführen.[5]

In Sachsen-Anhalt setzt sich u.a. der Dachverband für Migrantinnenorganisationen DaMigra e.V. für mehr Geschlechtergerechtigkeit entlang der Care Chains ein. Angesichts der ungleichen Verteilung von Care-Arbeit seien Teilhabe und politische Beteiligung für viele Frauen mit Migrationsgeschichte „Träume, die im Nebel der Realität verblassen“, so DaMigra. „Diese Ungleichheit zu ändern, bedeutet also mehr als eine kleine Korrektur oder ein bisschen Umverteilung. Nur wenn Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht aufgeteilt wird, haben alle gleichermaßen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, politisch und wirtschaftlich, in Kultur und Wissenschaft, beruflich und privat – auf allen Ebenen. Care Work ist nicht privat, sondern politisch.“ [6]

Das ist der entscheidende Punkt. Care-Arbeit ist das Rückgrat jeder Gesellschaft. Daher ist es eine politische Aufgabe, angemessene Bedingungen für diese Arbeit zu schaffen und sie direkt ins Zentrum gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu stellen. Prekäre Beschäftigungs- und Aufenthaltsverhältnisse sind allerdings immer noch politisch gewollt. Für die Betreuenden bedeuten sie Unsicherheit und Unsichtbarkeit. Und schließlich: Es wird keine ‚fairen‘ Bedingungen in einer unfairen Welt geben. Solange die Lebensverhältnisse innerhalb der Gesellschaften und weltweit so ungleich bleiben wie sie sind, bleibt Care-Migration ein Mechanismus zur Verschiebung von schlecht oder gar nicht bezahlter Arbeit. Darum müssen wir uns politisch kümmern.

Dieser Beitrag erscheint im nächsten Rundbrief des Eine-Welt-Netzwerk Sachsen-Anhalt e.V., der im August zum Schwerpunkt das UN-Nachhaltigkeitsziel 5 Geschlechtergerechtigkeit zum Thema hat.


[1] Unter Care Chains versteht man die persönlichen Verbindungen zwischen Menschen auf der ganzen Welt, die durch bezahlte oder unbezahlte Betreuungstätigkeiten vermittelt sind. Vgl. Arlie Hochschild.

[2] Ehrenreich/ Hochschild (eds.) Global Woman. Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy. New York 2002.

[3] Vgl. Pande, A. 2010. “Commercial Surrogacy in India: Manufacturing a Perfect ‘Mother-Worker’”, Signs: Journal of Women in Culture and Society, Vol 35, No. 4, 969-994

[4] Helma Lutz, Ewa Palenga-Möllenbeck. Das Care-Chain-Konzept auf dem Prüfstand – eine Fallstudie der transnationalen Care-Arrangements polnischer und ukrainischer Migrantinnen. Heinrich-Böll-Stiftung 2014

[5] Apitzsch/ Schmidbaur. Care, Migration und Geschlechtergerechtigkeit. ApuZ 2011

[6] Pressemitteilung: Equal Care Day 2023 – mehr Sichtbarkeit auch für Migrantinnen & geflüchtete Frauen? www.damigra.de

Franziska Ilse-Shams

Eine-Welt-Regionalpromotor*in für Anhalt-Bitterfeld, Dessau, Wittenberg und Nördlicher Saalekreis
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