Geschichte eines judenfeindlichen Schmähbilds
Das Schmährelief an der Wittenberger Stadtkirche
Das judenfeindliche Schmährelief an der Stadtkirche datiert vermutlich auf das Jahr 1290 und hing ursprünglich wahrscheinlich auf der Nordseite der Kirche. Auf obszöne Weise werden als Juden dargestellte Menschen abgebildet, die an den Zitzen einer Sau saugen. Einer schaut der Sau dabei in den Anus. Das Motiv ist Zeugnis jahrhundertelanger christlicher Judenfeindschaft.
Geschichte des Bildmotivs
Im Mittelalter waren „Judensau“-Darstellungen im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Man findet sie heute noch an etwa 30 Kirchen und anderen Gebäuden. Sie erfüllten damals zwei Funktionen: Christinnen und Christen sollten einerseits davor gewarnt werden, zu sündigen – Jüdinnen und Juden wurden hier als Negativbeispiel herangezogen. Andererseits markierten die Plastiken die fundamentale Abgrenzung des Christentums vom Judentum und trugen so zu Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden bei. Im Spätmittelalter radikalisierte sich die antijüdische Aussage des Bildmotivs zunehmend und verbreitete sich mit den Neuerungen im Bereich des Buchdrucks rasant im deutschsprachigen Raum.
Der „Judenhut“
Durch die spitzen Hüte waren die dargestellten Personen für die damaligen Betrachterinnen und Betrachter eindeutig als Juden zu erkennen. Einst eine jüdische Tracht, wurde der sogenannte „Judenhut“ im Mittelalter zum Erkennungszeichen für Jüdinnen und Juden. In einigen Gebieten war er Teil diskriminierender Kleiderordnungen. Juden wurden dort dazu gezwungen, den Hut öffentlich zu tragen.
Martin Luther und die Juden
Die Versetzung der Plastik
Von 1569 bis 1571 erfolgte der Umbau der Wittenberger Stadtkirche. Rund 25 Jahre nach Luthers Tod machte man dessen Predigtkirche zum repräsentativen Ort der Reformation. Dabei versetzte man auch das Schmährelief und fügte ihm eine Inschrift hinzu, die man Luthers Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543) entnahm. Luther hatte das Wittenberger Relief darin nicht nur explizit beschrieben, sondern dessen judenfeindlichen Charakter aufgegriffen und expliziert. Diese direkte Verbindung zu Luthers Schriften unterscheidet das Relief in Wittenberg von anderen „Judensau“-Darstellungen an deutschen Kirchen.
Martin Luthers judenfeindliche Schriften
Insbesondere in seinen Spätschriften äußerte sich Martin Luther immer wieder judenfeindlich. Während er in „Dass Jesus ein geborener Jude sei“ (1523) noch für eine gewaltfreie Missionspraxis eingetreten war, rief er in „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) offen zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden auf. Theologisch beharrte der Reformator zeitlebens auf der Falschheit der jüdischen Bibelauslegung. An die protestantischen Herrscher wandte er sich 1543 mit der Forderung, judenfeindliche Gesetze zu erlassen oder diese zu verschärfen. Im Nationalsozialismus wurden Luthers Schriften prominent aufgegriffen und waren Teil der antisemitischen Mobilisierung des Regimes.
Christliche Judenfeindschaft
Judenfeindliche Mythen im Christentum
Jahrhundertelang definierte sich das Christentum in Abgrenzung zum Judentum. Im Fokus christlicher Judenfeindschaft standen im Mittelalter der Vorwurf, Jüdinnen und Juden würden sich der christlichen Heilslehre verweigern, sich für den Tod Jesu Christi verantwortlich zeigen und insgeheim gegen die christliche Mehrheit arbeiten. Juden wurden so zum zentralen Feindbild stilisiert. Mit Beginn der ersten Kreuzzüge kam es zu offener Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung. Zudem entsponnen sich zahlreiche judenfeindliche Erzählungen: Es kursierten Legenden über angebliche jüdische Ritualmorde an christlichen Kindern oder vermeintliche Hostienschändungen. Der Vorwurf, Jüdinnen und Juden hätten die Brunnen der Christen vergiftet, führte in Zeiten der Pest europaweit zu Judenpogromen.
Der Reformationsaltar der beiden Cranachs
An der Stadtkirche ist die Schmähplastik an der Außenfassade nicht das einzige antijüdische Zeugnis. Auch der berühmte Reformationsaltar von Lucas Cranach im Innenraum der Stadtkirche bedient sich einer judenfeindlichen Bildsprache. Die Darstellung des Abendmals im mittleren Bild des Triptychons portraitiert Judas Iskariot als Verräter – eine zentrale antijüdische Figur seit dem frühen Mittelalter, die auch in den modernen Antisemitismus Eingang fand. Jahrhundertelang flankierten christlich geprägte Judaserzählungen Repressionen gegen Jüdinnen und Juden. Dass die Figur des Judas bereits im Frühen Christentum latent antijüdische Züge trägt, stellt die christlichen Kirchen heute auch vor die Herausforderung, Teile ihrer eigenen Christologie kritisch zu hinterfragen.