Muttersprache, die ein Kind bei den Eltern, vorwiegend von seiner Mutter (die lingua materna) Frühauf und vorsprachlich erlernt hat, wird immer besser sein als jede später oder gleichzeitig hinzugelernte andere Sprache. Letztere kann dagegen nur wie ein behobeltes Holzstück erscheinen, aus dem Carlo Collodi seinen Pinocchio geschnitzt hat. Das Kind bekam an den richtigen Stellen Mimik und Gestik zu spüren, hat das Laute und Leise, auch das Flüstern und den Krach vernommen, Böse- und Gutsein erfahren, sich in Liebkosungen wohlig geräkelt, das Lügen, sich im Wort zu verstecken gelernt, Zank, Angst ausgestanden und die Freude kennengelernt. Bei strengen Worten fallen ihm sofort Tränen aus den Augen. Kein Wunder, dass Pinocchio, der im Schulalter geschnitzt auf die Welt kam, niemals wußte, was richtig und falsch ist. Aber er hatte immer die Hoffnung, es doch noch einmal zu erfahren.
Im 28. Gesang des Purgatorio der Commedia drückt Dante in unerhörter Weise aus, wie sich in der Kindheit nicht Gesehenes oder Erlebtes im späteren Leben mit den Lippen nicht aus dem Mund herauspressen lassen. Da heißt es: Zitat „Mit Sicherheit würde jede Zunge versagen unserer Sprache und auch unseres Denkens wegen, die beide zu wenig Raum haben, um so viel Brutalitäten aufzunehmen wie sie auf den Kriegsschauplätzen in „De bello Gallico“ von Julius Caesar u.a. römischen Berichterstattern geschildert sind. Die Malerei kann in vieler Hinsicht mehr und anderes als das Wort leisten. Aus ihr können wir erkennen, was zum viel genannten Wertekodex gehört, von dem keiner genau zu sagen weiß, was darunter verstanden werden soll. Er folgt dem Lauf der Geschichte, dem Wandel ihrer Moralvorstellungen, dem Tugend- und Lasterkatalog, der im hohen Mittelalter zusammengestellt wurde, indem er auf schwindelerregende Überschreitungen reagiert, Angst machende Entratungen in der Gesellschaft anmahnt, weiters ergibt sich das Werteystem aus Lebenskunst und den Totentänzen in der „Kunst des Sterbens“. Claudia Hauptmann spürt eins nach nach anderen auf. Ruhe finden wir bei ihr nirgends. Ihr Werk ist voller Bezüge zu diesen Vorgängen. Sie verlaufen klandestin, heimlich, sang und klanglos sind sie da. Im Vertrauen auf diese Sprachvarianten ist ihrem immensen Können über die Jahre große Verantwortung zugewachsen.
Mit ihrer „Muttersprache“ lebt Claudia Hauptmann wie in einer Familie. Ich meine damit nicht die natürliche Familie mit Mutter, Vater und Geschwistern, sondern die Sprachfamilie. Für den kühnen Anspruch, Muttersprache aus der Literatur heraus in die Malerei zu versetzen, – man könnte auch sagen, etwas von einer Stelle zur anderen zu ver – rücken, – in unserem Fall einen Begriff, der auf Reden, Schreiben und auf Poesie abzielt -, für Malerei auszuborgen, dazu bedarf es schon einiges Nachdenken. Würden wir das einfach so hinnehmen, entgehen wir nicht der Gefahr eines Mißbrauchs, ähnlich wie bei der Sprachverwirrung, dieuns in der Genesis (11,1-9) von der Vielvölkerstadt Babel berichtet wird. Wo es heißt: „Wohlan wir (Jahwe) wollen (vom Himmel) hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht.“ Deswegen lassen wir uns auf eine Metaebene führen, um im Wortsinn zu begreifen, wie die Künstlerin „Muttersprache“ malerisch angewandt und in ihre Anliegen umgesetzt hat. Sie vollzieht den Paradigmenwechsel, der sich natürlich komplexer darstellt, als von der Sprache zur Malerei zu wechseln. Sie versetzt auch Wirklichkeit und Kunst in ihre Malerei. Die Schriftstellerin Herta Müller sagt: Wichtiges läßt sich nicht in der Alltagssprache ausdrücken. Notwendig dazu sind Metapher oder Allegorie, die bei Homer fast jeden Gesang einleiten und bis hin zu Torquato Tasso führen und eben auch heute funktionieren. Unsere Malerin malt nach Regeln der Tafelmalerei im hohen und späten Mittelalter sowie in der Renaissance. Dazu gehören die wunderbaren kleinen „Zwei Andachtsbilder“ von 2020 in altmeisterlicher Art.
Das eine nach Albrecht Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“ von 1500. Man muß aber genau hinsehen, sein Pelzrock ist ersetzt durch den roten Mantel aus dem „Ecce Homo“, der bei der Kreuzigung für dreißig Silberlinge verwürfelt wird. Die Dornenkrone ist ersetzt durch ein Geflecht aus Computernetzleitungen. Mit diesen Assoziationen sind wir selbst dem Leidensgeschehen Christi sehr nahe gerückt. Maria mit ihrem blauen Kopftuch betet nicht wie damals, sondern sie hält ein Handy fest, aus dem sie, wie ihre Mimik zeigt, alles über sich erfährt. Aber niemals das, was sie wirklich braucht. Was diese Frau sieht, das können wir alle sehen. Vielleicht sagt einer : he` das mach’ ich ja auch so, warum habe ich nicht nachgedacht. Verflixt noch mal. Also ist das Andachtsbild zum Gleichnis geworden. Schauen wir uns doch an, was auf anderen Bildern passiert. „Anfang mit Äpfeln“ (2013) leitet auf den „Sündenfall“ hin. Das Liebespaar zieht ein wildes, flirrendes Geschehen in seinen Sog. Schwirrende Äpfel am Baum rasen wie ein Karussel um das Paar herum. Alles vibriert in der erotischen Spannung. Rausch und Zauber des ersten Liebesaktes sind so eindrucksvoll erlebbar wie in einem Video von Bill Viola. Man könnte das Bild doch auch so lesen: hach. ist das schön, warum eigentlich Sünde? Aber mit dem Griff nach dem Apfel, weiß man es, to fall in Love ist nahe dem „Sündenfall“, das Verbotene zu tun, vom Baum der Erkenntnis zu essen ohne Notwendigkeit, trotz Warnungen, der Fehltritt. Eine theologisch ausdifferenzierte Deutung können wir hier nicht vornehmem, aber unumstritten ist, nach Adam und Evas Fall haben wir kein Paradies mehr. Das ist auch unser Problem. Die Malerin zeigt mit dem Diptychon „Die Vertreibung aus dem Paradies“von 2012 die Folgen. Adam und Eva sind absolut ernüchtert. Kein verriegeltes Paradies erscheint hinter ihnen wie bei Heinrich von Kleist, wo der Cherub sie noch mit dem Schwert verabschiedet. Dafür zieht sich ein elektrischer Zaun über beide Formate. Das Meer steigt dräuend in den Himmel hinauf. Unsere Protagonisten folgen auf ihrem tristen Weg nahezu genau Kleists Worten: „Wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es (das Paradies) vielleicht an seinem Hintergrund wieder offen ist.“ An diese Hoffnung, die Kleist Adam und Eva im „Puppenspieler“ von 1810 offenbarte, daran glauben diese beiden hier nicht mehr.
Endlos über Steine laufen. Eva geht der Schlange nach. Adam rauft sich den Kopf. Das sind die Metaphern für das schwere Leben, dem seither die zum Sterben bestimmten Menschen in allen Zeiten folgen.
Noch ein Werk
Der „Tragende“ Hoffnung Hl. Christophorus
Das Werk gehört zur Trilogie der göttlichen Tugenden. Glaube, Liebe, Hoffnung.
Ein Mann, anders als in der Legenda Aurea über den Hl. Christophorus beschrieben und in Bildern mit seinem wallenden roten Radmantel überliefert, verrichtet hier seinen Auftrag nackt. Mit kräftigem Körper, vorgewölbtem Bauch und offnem Mund durchwatet er eine überflutete Furt in blattloser Baumlandschaft. So wie Walter Leistikow die Berliner Seenlandschaft gesehen hat. Das Hochformat preßt das Wasser gefährlich nach oben. Der Stützstab ist fast baumstark, auf den Schultern trägt der Mann das Jesuskind. Es hat keinen Heiligenschein, aber wie sein Träger den Kindskopf mit der ganzen Hand umdrückt, das ist der Heiligenschein. Christophorus soll als Fährmann Wanderer geschultert über die Furt bringen. Aber er wollte lieber einem mächtigen Herrscher dienen, ein Einsiedler riet ihm deswegen, Gott zu dienen, weil dieser allmächtig sei. Da kam das Kind an und wollte durchs Wasser getragen werden, in der Mitte wurde dem Tragenden seine Bürde zu schwer. Am Ende antwortete das Kind, du hast nicht nur die ganze Welt getragen, sondern auch Gott, der die Welt erschaffen hat. Das ist eine Metapher. Nackt ausgeliefert zu sein, und heute nur die eigene schwere Lebensbürde zu tragen, darin liegt die Botschaft für uns.
Sehen wir noch auf
Penelope
die Schöne gilt als Idealbild einer treuen Ehefrau. Ihr Gatte Odysseus ist schon zwanzig Jahre auf Seefahrt, Telemachus, beider Sohn, vaterlos herangewachsen. Von Freiern umworben, wird sie hier im Bild mit Blumen, Liebesbriefen und anderen Aufdringlichkeiten bedrängt. Drei Jahre lang sitzt sie vor ihrem Webstuhl und webt das Totenhemd für Schwiegervater Laertes. Doch die Liebhaber lassen nicht locker. Sie entledigt sich ihrer schließlich mit einer unlösbaren Bogenschützenaufgabe. Erst als der verkleidete Odysseus zurückkehrt und als Einziger diese Aufgabe lösen kann, ist sie erlöst. Sie hat durchgehalten. Diese Metapher für das Durchhalten kann der Betrachter nur scher auflösen. Man muß genauestens nachdenken. Das letztes Beispiel. Der späteren phrygischenn König Midas wurde als Kind geweissagt, dass er einst reich sein würde. Das machte ihn gierig, dabei blieb er aber dumm Er wollte so weise werden wie Silenos, ein Schüler Dionysos’, er dachte, dafür brauche er ihn bloß einzufangen, so mischte er einen Schlaftrunk und hatte ihn besiegt. Doch Dionysos vermißte seinen Schüler, für dessen Freigabe mußte Dionysos dem Midas einen Wunsch erfüllen. Midas wünschte sich, dass alles was er berührt zu Gold würde. Doch er verhungert und verdurstete beinahe, weil nun alles, was er berührte zu Gold wurde, auch der letzte Apfel. Dargestellt ist hier das total durch goldete gnadenlose Leben des Königs. Claudia Hauptmann greift mit diesem kühnen Werk direkt in den Katalog der Sieben Laster, wozu die Gier nach Macht und Reichtum gehören.
Geht es uns mit dem Bildern hier nicht genauso wie den Jüngern (Matthäus 13/10), als sie Jesus fragten: „Warum redest du (immer) in Gleichnissen mit ihnen (den Menschen)?“ Darauf antwortete er: „Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören noch verstehen.“ Ich will euch sagen, dass ich diese Beobachtung schon bei Jesaja (Jesaja 69/10): gelesen habe, da heißt es:
„Hören werdet ihr mit den Ohren und nicht verstehen, sehend werdet ihr sehen und nicht erkennen. Denn verstockt ist das Herz . ..“. Versuchen Sie nun doch nun herauszufinden in der Ausstellung, was Ihnen wichtig erscheint.