Mal nicht von der Flüchtlingskrise in Deutschland sprechen, sondern eine europäische Perspektive einnehmen und dabei die Menschen, die Geflüchteten und die, die sie aufnehmen, nicht aus dem Blick verlieren. Das war der Grundgedanke für das deutsch-französische Forum „Nach der Flucht – Après l’arrivée des réfugiés“, das die Ev. Akademie Sachsen-Anhalt gemeinsam mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Paris vom 29.2. bis 3.3.16 in Paris durchgeführt hat.
Schnell waren die 20 Plätze weg. Eine bunt gemischte Teilnehmendengruppe zwischen 18 und 69, Ehren- und Hauptamtliche aus der Flüchtlingsarbeit, außerdem Mitarbeitende aus Jugendhilfeeinrichtungen, überwiegend aus Deutschland, aber auch drei Personen aus Frankreich interessierten sich für das Programm.
Am Beginn der Veranstaltung stand die Einwanderergeschichte in Frankreich. Im Pariser Stadtviertel „La Goutte d‘Or“ erläuterten Vertreter/-innen der Nichtregierungsorganisation (NGO) Génériques, unter welchen Bedingungen sie als Nordafrikaner/-innen in Frankreich gelebt haben. Die Einwanderung diente zu allererst der Sicherung von Arbeitskräften in der Industrie. Entsprechend schlecht waren auch die Lebensbedingungen. Der Verein dokumentiert diese Geschichte der Immigration, z.B. in der deutsch-französischen Online-Ausstellung „Immigranten der Arbeiter- und Sozialgeschichte“ in der BRD und in Frankreich zwischen 1968 und 1990.
Beim nordafrikanischen Mittagessen im Institut des Cultures d’Islam bestand anschließend die Gelegenheit, informell mit Vorstandsmitgliedern von Génériques Fragen der Einwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vertiefen. Diskutiert wurde dort auch über die Rolle des Islams in der französischen säkularisierten Gesellschaft.
Aline Angoustures präsentierte am Nachmittag in den Tagungsräumen von Génériques die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Flüchtlinge in Frankreich seit den 1920er Jahren. Sie ist Leiterin der Archiv- und Geschichtsabteilung beim Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (Ofpra), das ungefähr dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Bundesrepublik entspricht.
Abgeschlossen wurde der erste Tag durch eine Diskussion mit Catherine Wihtol de Wenden zur Situation von Geflüchteten in Frankreich. Als Politikwissenschaftlerin und Soziologin vertritt sie die Position, dass mittel- und langfristig die Flüchtlingspolitik nur in einer Öffnung der Grenzen bestehen kann.
Im Fokus des zweiten Tags stand der Besuch bei Einrichtungen, die aktuell Geflüchtete unterstützen. La Cimade ist eine protestantische Flüchtlingsorganisation, die Ende der 1930er Jahre entstanden ist, um Geflüchtete aus dem besetzten Elsass zu begleiten. Seitdem hat sich die Cimade unentwegt für Geflüchtete eingesetzt. Sie steht ihnen beratend zur Seite und tritt für ihre Rechte ein. Außerdem leitet die Cimade zwei Unterkünfte für Geflüchtete und Asylsuchende in Frankreich, in Massy (bei Paris) und in Béziers (im Languedoc-Roussillon). Im Gespräch berichtete eine Mitarbeiterin, dass es in Béziers zur Zeit besonders schwer sei, weil der Ort seit den Kommunalwahlen 2014 von einem Bürgermeister regiert wird, der dem rechtsextremen Front National nahe steht.
Am Nachmittag gab es einen Besuch bei Le Kiosque. In dieser Beratungsstelle werden Geflüchtete bei ihrem Asylverfahren unterstützt. Getragen wird diese von France Terre d’Asile, die ihre Expertise in der Arbeit mit Geflüchteten einbringt, und Emmaüs Solidarité, einer großen französischen NGO, die Menschen in prekären Lebenssituationen begleitet und sich gegen Armut engagiert. Seit einem neuen Gesetz von 2015 nehmen solche von NGOs getragenen Einrichtungen eine wesentliche Rolle im Asylverfahren ein.
Eine offene Podiumdiskussion im Goethe-Institut Paris schloss den zweiten Tag ab. Über Erfahrungen und den Umgang mit Geflüchteten in den Kommunen sowie Strategien für eine – idealerweise europäische – Haltung in der Flüchtlingspolitik diskutierten Gérard Sadik (La Cimade, Verantwortlicher der Kommission „Asyl“), Mohammed Jouni (Mitbegründer des Vereins Jugendliche ohne Grenzen, Vorstandsmitglied des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, B-umF), Anselm Sprandel (Leiter des Zentralen Koordinierungsstabs Flüchtlinge (ZKF) der Stadt Hamburg) und Sylvain Lemoine (Büroleiter von Dominique Versini, Beigeordnete der Bürgermeisterin von Paris, verantwortlich für Solidarität, Familie, Kindheit, Kinderschutz, Kampf gegen Ausgrenzung und Senioren). Moderiert wurde das Gespräch von der Pariser WDR-Korrespondentin Barbara Kostolnik.
Vom Plan zur Mobilisierung der Pariser Kommune zur Aufnahme von Flüchtlingen berichteten am dritten Tag drei Mitarbeiter/-innen der Stadt Paris. Obwohl nach französischem Recht der Nationalstaat für die Aufnahme von Flüchtlingen zuständig ist, hat Paris eine Reihe von Notunterkünften zur Verfügung gestellt. Dabei zeigt sich, dass es in den reicheren Vierteln von Paris schwieriger ist, Flüchtlingsunterkünfte zu errichten, als in ärmeren Bezirken, die in der Regel ohnehin von einer stärkeren sozialen und kulturellen Mischung der Bevölkerung geprägt sind. Ein weiteres wesentliches Ziel ist auch die Durchsetzung der Schulpflicht für alle Kinder unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
Deutlich wurde im Forum, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen Frankreich und Deutschland wenig unterscheiden. Allerdings führt eine unterschiedliche Rechtspraxis zu signifikanten Unterschieden in der Aufnahme Geflüchteter. So haben Asylsuchende in den ersten Tagen, manchmal auch Wochen und Monaten, bis zur offiziellen Einreichung ihres Antrags keinen Anspruch auf Unterkunft oder Sozialleistungen. Oft leben sie deshalb auf der Straße und ernähren sich überwiegend durch Essen aus Suppenküchen. Ebenso ergeht es auch Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber nicht in das Land ihrer Herkunft abgeschoben werden können. Sie werden per staatlichem Brief zu Illegalen. Dafür scheint die Schulpflicht eine größere Rolle zu spielen. Während es in Deutschland oft Monate dauert, bis Kinder und Jugendliche eine Schule besuchen können, wird zumindest in Paris angestrebt, dass jeder Minderjähriger – auch ohne legalen Aufenthaltsstatus – möglichst sofort eine Schule besucht.
In der Auswertung wünschten sich die Teilnehmenden eine vergleichbare Veranstaltung in Deutschland, die voraussichtlich im November 2016 in Berlin stattfinden wird.