Diskurs

Die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen

Kuratorinnnenführung zur Ausstellung "Als Jüd:innen markiert und verfolgt"
© Vincent Kleinbub

Die Wanderausstellung „Als Jüd:innen markiert und verfolgt. Jüdische Identitäten und NS-Tatorte in Sachsen-Anhalt“ portraitiert zwölf Menschen, die von den Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten als jüdisch markiert und als Konsequenz daraus gewaltsam aus der sog. Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurden. Aktuell ist die Ausstellung in der Evangelischen Akademie in Wittenberg zu sehen. In diesem Rahmen luden das Projekt „Bildspuren“ und die Gedenkstätte KZ Lichtenburg Prettin gestern Nachmittag zu einer Kuratorinnenführung ein, zu der 14 Interessierte gekommen waren. Gespannt folgten sie den Ausführungen von Gedenkstättenmitarbeiterin Lisa Lindenau, die die Gruppe durch die Ausstellung führte. Anschaulich erläuterte sie den Entstehungsprozess und gab wichtige Hintergrundinformationen zu den gezeigten Biografien und Tatorten an die Hand.

Drei Aspekte prägen die Gestaltung der Ausstellung, die in Zusammenarbeit der Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt entstand. Zum einen war es den Kurator*innen wichtig, die dargestellten Biografien nicht von außen und schon gar nicht über die Dokumente der Täterinnen und Täter zu erzählen. Stattdessen sollten die Personen selbst zu Wort kommen. Dazu trugen sie Selbstzeugnisse und biografische Notizen zusammen, sichteten Fotos, sprachen mit Verwandten und Nachfahren. Auf diese Weise entstand eine Ausstellung, die die Betroffenen zu Erzählerinnen und Erzählern ihrer eigenen Geschichten macht. Erklärtes Ziel der Ausstellungsmacher*innen war es darüber hinaus, die Vielfältigkeit all jener Identitäten abzubilden, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 unter der Zuschreibung „jüdisch“ ins Visier gerieten. Nicht alle der Portraitierten verstanden sich als Jüdinnen und Juden. Für manche war die jüdische Identität eine Nebensache oder gar nicht präsent. Für andere wiederum speiste sich ihr Jüdischsein weniger aus einer religiösen Haltung, sondern aus einer kulturellen Prägung. Erst durch die Rassenideologie des NS-Regimes gerieten alle diese verschiedenen Biografien in den Fokus nationalsozialistischer Markierungs-, Entrechtungs- und Vernichtungspolitik. Das dritte Anliegen der Kurator*innen war es schließlich, die lokale Dimension dieser Politik sichtbar zu machen. Die ausgewählten Biografien stammen alle von in Sachsen-Anhalt inhaftierten Menschen. Die Ausstellung zeigt damit auf, dass sich Entrechtung nicht erst im sog. Osten des Deutschen Reiches, in Ghettos und später in Vernichtungslagern vollzog, sondern dass der rassisch begründete Ausschluss aus der sog. Volksgemeinschaft vielfach lokal stattfand – unter der Duldung, zum Teil auch der Beteilgung der dortigen Bevölkerung. Sechs Gedenkstätten dokumentieren in Sachsen-Anhalt heute, wie sich der NS-Antisemitismus nicht gegen abstrakte Fremde, sondern gegen Bürgerinnen und Bürger, Nachbarinnen und Nachbarn wendete.

Wir danken Lisa Lindenau für die informative und kurzweilige Führung durch die Ausstellung! Die Wanderausstellung ist noch bis zum 25. August 2023 im Foyer der Evangelischen Akademie in Wittenberg zu sehen. Der Besuch ist kostenfrei. Um vorherige Anmeldung wird gebeten unter: .

Vincent Kleinbub

Mitarbeiter im Projekt „Bildspuren“ (2022 bis 2023)
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