Diskurs

Gegenwartslyrik XXII

Ein Krieg

Dieser Krieg, der plötzlich ausbrach
Auf dem Rückweg vom Einkaufen gerate ich ins Feuergefecht
Ein Staat zieht ohne Kriegserklärung in die Schlacht gegen einen Menschen

In einem anderen Land liege ich im Hinterhalt

Lenkwaffen töten gezielt einen kleinen Vogel
Kriegsschiffe rammen einen kleinen Fisch im Meer
Auf der einen Seite Soldaten mit Gewehren im Anschlag
Auf der anderen Seite Bücher mit Enthüllungen

Später heißt es, der Krieg sei ausgebrochen
Weil die Enthüllungen die Gewehre bedroht hätten

Ein Maschinengewehr eröffnet das Feuer gegen einen Stift
Eine Handgranate reißt eine Erzählung in Stücke
Geschrotete Worte fliegen wie Schilf durch die Luft
Auf dem Fluss treiben blutgetränkte Sätze

Ein Krieg ohne Widerstand wird zur Jagd
Ich bin ein in eine riesige Falle gegangener Hase
Durch die Gitterstäbe ragt ein renitenter Schneidezahn
Autsch, den anderen haben sie mir schon ausgeschlagen

Das Gerücht über diesen Krieg verbreitet sich
Ich höre sie lachen vor der eisernen Käfigtür

Gui Minhai – mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Gui Minhai wurde 1964 in Ningbo geboren. Er studierte in Peking und 1988 in Göteborg, wo er nach dem Massaker auf dem Tiananmen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekam. Im Jahr 1992 wurde er schwedischer Staatsbürger und setzte sich für Meiungsfreiheit in China ein. Am 17. Oktober 2015 wurde er von Thailand nach China verschleppt. Im Jahr 2017 wurde Gui Minhai entlassen und am 20. Januar 2018 auf dem Weg zu schwedischen Botschaft im Beisein von Mitarbeitern des Konsulats verhaftet. Am 10. Februar teilte er auf einer erzwungenen Pressekonferenz mit, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft ablegen wolle.
Seitdem wurde Gui Minhai nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen.

Sein Gedichtband Ich zeichne mit dem Finger eine Tür in die Wand erschien im Jahr 2020 im Leipziger Literaturverlag.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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