Liebe Gemeinde,
man kann es auch anders sehen. Auch 2022 sanken die Kirchenmitgliedszahlen wieder dramatisch. Der bekannte Soziologe Armin Nassehi gab sich am Donnerstag in einem Interview im Deutschlandfunk gelassen. Weder in den heimlichen Hohn noch in das andauernde Lamento stimmte er ein. „Man müsste sich eher wundern, warum es immer noch eine so starke Mitgliedschaft gibt“ – sagte er. Im Vergleich mit anderen Großorganisationen und Institutionen stehe die Kirche mit einer erstaunlichen Bindekraft da.
Das Problem: Die „generationelle Weitergabe“ sei unterbrochen, weil „immer weniger Eltern kirchliche Praxis kennen“. Das spiegelt sich dann in den Taufzahlen, aber auch in den Haltungen und Einstellungen vieler Kirchenmitglieder wieder. (https://www.deutschlandfunk.de/ein-wunder-warum-so-viele-mitglied-bleiben-armin-nassehi-ueber-kirchenaustritte-dlf-68e9129e-100.html).
Seit 2021 wird das in Anspielung auf eine Äußerung der Außenministerin gerne mal als „Baerbock-Christentum“ bezeichnet. Die Baerbock-Christ*innen sagen von sich selbst, sie seien „nicht ganz gläubig“ aber dennoch in der Kirche, weil ihnen die Werte und die Gemeinschaft wichtig sind. Ich glaube, das trifft es ganz gut. Trifft vielleicht auch ganz gut, was Sie persönlich heute Morgen hier in die Schlosskirche geführt hat. Kirche ist irgendwie schon wichtig und ein Teil unserer Kultur und gerade im Urlaub schaut man sich gerne auch mal ein paar Kirchen an. Vielleicht gibt es unter uns ja auch noch so ein paar „Linder-Atheist*innen“: Nicht ganz gläubig, aber trotzdem ganz gerne ab und an in der Kirche.
Und verstehen Sie mich nicht falsch! Ich möchte alle Lindner-Atheist*innen und Baerbock-Christ*innen ausdrücklich ganz herzlich willkommen heißen. Der soziologische Blick wertet nicht, wertet vor allem nicht ab, sondern stellt einfach fest: so ist es! So sagte Armin Nassehi in jenem Interview im Deutschlandfunk auch mit einem sympathischen Augenzwinkern in der Stimme: „nicht ganz gläubig“ sei eine wunderbare Form der Häresie, weil sie nach beiden Seiten hin offen sei.
Auch die Taufe hat ja zwei Seiten. Ich habe das vorher mit der Tauferinnerung versucht deutlich zu machen. Da ist die Seite, des Dazugehörens: Ich bekenne mich z.B. mit dem Glaubensbekenntnis oder mit der Kirchensteuer zu einer Gemeinschaft, die größer ist als meine eigene Reichweite, die schon vor mir gewesen ist und die die ganze Welt umspannt. Und dann gibt es die existentielle Dimension: das, was mich berührt, was mein Innerstes bewegt, prägt und verändert. Diese innere Dimension, lässt sich soziologisch schlecht Messen und erst recht nicht in Kirchenzugehörigkeitsstatistiken quantifizieren. Auch für Martin Luther, war die Kirche immer schon ein „corpus permixtum“. Eine Gemeinschaft der Glaubenden, der innerlich von der Christussache betroffenen, die nicht deckungsgleich war und ist, mit der real existierenden Kirche. Heute würde man dieses „corpus permixtum“ vielleicht mit „nicht ganz gläubig“ übersetzen und beschreiben als Häresie, die „nach beiden Seiten offen“ ist.
Die Aufgabe einer Predigt ist es, Resonanz für die innere Dimension des Glaubens zu erzeugen. Etwas anzustoßen, das die existentielle Seite der Taufe berührt. Unser heutiger Predigttext stammt von dem Apostel Paulus. Es geht um die Taufe und für Paulus geht es mit der Taufe um Leben und Tod. Das ist sehr existentiell. Für Paulus begründet die Taufe eine innere, existentielle, eine mystische Verbindung mit Christus. Die Taufe, so wie sie Paulus versteht, ist eine Symbiose mit Christus auf Leben und Tod. Ein für alle Mal: Mitgestorben, mit auferstanden. Wir sind hineingetauft in den Messias Jesus. Hören wir uns das einmal im O-Ton an. Ich lese den Predigttext aus dem Römerbrief im 11. Kapitel:
(1) Was wollen wir hierzu sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde? (2) Das sei ferne! Wir sind doch der Sünde gestorben. Wie können wir noch in ihr leben? (3) Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? (4) So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in einem neuen Leben wandeln. (5) Denn wenn wir mit ihm zusammengewachsen sind, ihm gleich geworden in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein. (6) Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. (7) Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. (8) Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, (9) und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort über ihn nicht herrschen. (10) Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. (11) So auch ihr: Haltet euch für Menschen, die der Sünde gestorben sind und für Gott leben in Christus Jesus.
Liebe Gemeinde,
wenn ich solche Texte vor mir habe, in der mich das geballte theologische Vokabular zu erschlagen droht, versuche ich gerne zunächst wieder etwas Abstand zu gewinnen. Ich versuche mir den Bibeltext noch einmal ganz anders interessant zu machen. Warum den Text nicht mal statt mit Worten in Farben lesen. Bunt ist besser als Theologensprech.
Alle Worte, die mit Tod, Kreuz und „gestorben“ zu tun haben, färbe ich rot ein. Durch den Text zieht sich eine gewaltige Spur der Vernichtung! Dazu färbe ich in kühles Blau, das Wort Sünde. Denn der Sünde Sold, ist ja bekanntlich – wie Paulus nur wenige Verse weiter schreibt – der Tod.
Aber auch eine zweite Spur durchzieht den Text: Die Spur des Lebens. Alles was mit Leben, mit Auferstehung, mit Nichtbeherrschung mit Verneinung oder Nichtung des Todes zu tun hat. Färbe ich grün ein. Eine Spur der Hoffnung durchzieht den Text, die sich vom kühlen Blau und dem dramatischen Rot des Textes wohltuend abhebt.
Dann nehme ich noch leuchtendes Gelb. Damit färbe ich die Wortfelder ein, die mit der Taufe zu tun haben. Das ist hier vor allem die kleine griechische Silbe „syn“. Sie zeigt im griechischen die Zusammengehörigkeit an. „Syn“, das entspricht ganz dem paulinischen Taufempfinden. Zusammengespannt mit Christus. Wir haben dieses „syn“ auch im Deutschen: synchronisiert, synthetische Verbindung, eine Synthese mit Christus. Die Taufe nach Paulus ist eine Synthese, eine Synchronisierung mit Christus. Also färbe ich auch das Wort Christus selbst noch gelb ein und alles, was sich auf Christus bezieht.
So bekommt der Text für mich Farbe. Ich sehe den dramatischen Gegensatz von Grün und Rot. Den existenziellen Kampf zwischen Lebensvernichtung auf der einen Seite und das Aufbäumen des Lebens gegen diese Vernichtung auf der anderen Seite. Und so bekomme ich auch eine Idee davon, wie in religiöser Sprache die Worte Taufe und Sünde in diesen Überlebenskampf gegen das NICHTS verwoben sind.
Der Überlebenskampf mit dem Nichtigen, dem Nichts, dem Tod, erinnert mich an Michel Endes Kinderbuch „die unendliche Geschichte.“ Darin geht es um einen Jungen, Bastian, der den Kampf mit dem Nichts aufnimmt. Dabei spielt ein Großteil der Handlung in einer parallelen Welt, in Phantásien. Sie wird durch das „Nichts“ zerstört – immer größere Teile des Reiches verschwinden einfach, ohne dass etwas davon zurückbleibt. Je mehr sich Bastian dem Kampf um Phantásien widmet, desto mehr verliert er den Bezug zu seiner Wirklichkeit. Das Buch, das er heimlich auf dem Dachboden liest, scheint ihn zu verschlingen. Er wird förmlich hineingezogen in die unendliche Geschichte und damit auch in das Nichts, das Phantásien bedroht. Bastian muss die Brücke zu seiner Wirklichkeit wiederfinden, den Weg aus dem Kampf mit dem Nichts wieder zurück nach Hause.
Vielleicht kennen Sie die Geschichte, liebe Gemeinde, ich kann das nur andeuten. Es lohnt sich aber, auch, oder gerade weil es ein Kinderbuch ist. Auf die Frage nach einer Interpretation der „Unendlichen Geschichte“ gibt Michael Ende keine Antwort. Jede Interpretation sei richtig, falls sie gut sei. Nur eine Äußerung gibt es vom Autor selbst. Dort sagt Ende über sein Buch:
„Das ist nämlich die Geschichte eines Jungen, der seine Innenwelt, also seine mythische Welt, verliert in dieser einen Nacht der Krise, einer Lebenskrise, sie löst sich in Nichts auf, und er muss hineinspringen in dieses Nichts, das müssen wir Europäer nämlich auch tun. Es ist uns gelungen, alle Werte aufzulösen, und nun müssen wir hineinspringen, und nur, indem wir den Mut haben, dort hineinzuspringen in dieses Nichts, können wir die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wiedererwecken und ein neues Phantásien, d.h. eine neue Wertewelt aufbauen“ (Zitiert nach: https://michaelende.de/autor/biographie/die-unendliche-geschichte).
Hineinspringen in das Nichts. Ich glaube, das ist gar keine schlechte Erklärung, für die Tauftheologie des Paulus. Hineingezogen werden in die Bedeutungswelt des inneren Menschen. Hineinspringen in die Abgründe unserer Existenz. Hinspringen in unsere existentielle Dimension, in unser Innerstes. Wir haben uns angewöhnt im Äußeren zu leben. Wir richten unseren Blick lieber auf die Wirklichkeit der äußeren Sinneseindrücke, auf Fakten, Tatsachen, Ursache und Wirkung. Nach innen zu schauen, dem inneren Menschen nachzuspüren, ist gefährlich, denn dort könnte NICHTS sein. Ja, auch in unserem eigenen Inneren, mystischen Menschen lauert ständig das Nichts.
„Mit Christus gestorben“ das bedeutet: hineinzuspringen und den Kampf mit dem Nichts aufzunehmen. Die eigene mystische Welt in uns zu öffnen und offen zu halten für eine Gottesbegegnung, die uns aus dem tiefsten Inneren unseres Selbst zurückführt ins äußere Leben.
Papst Franziskus hat unsere Zeit „geistigem Analphabetismus“ vorgeworfen. Der Agnostiker und Philosoph Florian Goldberg hat das einmal aufgegriffen und ein flammendes Plädoyer für die Überwindung dieses geistigen Analphabetismus abgelegt (https://www.deutschlandfunkkultur.de/verrohte-gesellschaft-plaedoyer-gegen-geistigen-100.html). Er definiert diese Form des Analphabetismus so:
„Defizite im Entziffern oder Entwerfen des eigenen Inneren bis hin zur völligen Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung.“ Die Folge seien erhebliche Schwierigkeiten in der Kommunikation, die weitere Frustrationen und Konflikte nach sich ziehen. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben falle nicht vom Himmel – so Goldberg. Sie sind Kulturtechniken, die gelehrt und gelernt werden müssen. Dasselbe gilt auch für einen geistige Alphabetisierung. Die Ausbildung des inneren Menschen braucht Aufmerksamkeit, Zeiten und Orte des Lernens und Übens.
Herzlichen Glückwunsch! Sie haben sich heute diese Zeit genommen und sind hierhergekommen.
Vielleicht ist es Zeit, dem Nichts, das Muse, Phantásien, Humanität und Werte vernichtet, auf die Spur zu kommen. Vielleicht ist es Zeit, die Dramatik des Todes nicht nur als individuelles Ende meines Lebens zu erkennen. Mal ehrlich: inwiefern betrifft mich der eigen physische Tod schon? Die Dramatik des Todes spielt im Leben. Der Apostel Paulus gibt uns heute in Rot und Blau in Gelb und Grün auf, der Dramatik des Todes einmal wieder ins Auge zu sehen.
Wir müssen hineinspringen in dieses Nichts, in den dramatischen Kampf von Rot und Grün. Die Spur, die mich persönlich dort hineinführt, ist die gelbe Spur. Das ist meine Taufe: In Christus, bin ich hineingerissen in diesen Strudel des Nichts. Mein mystisches Inneres ist Christus. Ich bin synchronisiert und synthetisiert in der Taufe mit Christus. Dem wird nicht jeder und jede folgen wollen und können. Und es wird auch nicht helfen, dem geistigen Analphabetismus unserer Tage mit christlichen Floskeln wie Sünde und Erlösung oder fertigen Antworten wie Taufe zu begegnen. Aber es ist unsere Verantwortung und es ist der Dienst der Kirche an dieser Gesellschaft, Menschen in der gelbe Spur zu lehren, der existentiellen Spur der Taufe: Mit Christus! Mein Leben zusammensehen mit seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung. Ich halte das für ein starkes Mittel gegen geistigen Analphabetismus, denn:
Christus hat das Nichts unseres inneren Menschen genichtet und führt zurück ins Leben als unendliche Geschichte.
Amen.