Akademiedirektor Christoph Maier predigte am 2. Sonntag nach Ostern „Misericordias Domini“ – vielfach auch „Hirtensonntag“ genannt – in der Stadtkirche St. Marien und thematisiert die Spannung von guten und schlechten Hirten. Die Frage, die sich für ihn damit verbindet heißt: Wem vertraue ich mich an, und wie nehme ich die Verantwortung wahr für das, was mir anvertraut ist.
Am 18. April 1521 hat Martin Luther die weltlichen und geistlichen Oberhirten der damaligen Zeit, Kaiser und Papst, ausgebremst und brüskiert. Hirtenkritik durch den Verweis auf den methodisch geleiteten Gebrauch des eigenen Verstandes und die daraus folgende Interpretation der Heiligen Schrift und die in uns selbst liegende Instanz des Gewissens, die über Gesetzt und Dogma steht: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.„
Musste Luther noch bekennen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ und sich fortan unter den Schutz seines Landesherren stellen und zunächst auf der Wartburg versteckt halten, so gilt für uns heute immer irgendwie auch: „Hier stehe ich, und ich kann auch anders.“
Die zentralen reformatorischen Entdeckungen verändern den Stand der Herde vor Gott. „So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre“ (Karl Friedrich Ulrichs). Der Gebrauch des Verstandes und des eigenen Gewissens sind bis heute gültige Instrumente, um zielsicher zu entscheiden, in welche Herde ich mitlaufe und welchem Hirten ich vertrauen kann.
Mit der Hirtenkritik aus Ezechiel 34 und im Anschluss an zentrale reformatorischen Entdeckungen formuliere ich drei Forderungen für Hüter und Behütete:
- Kein Recht auf Uninformiertheit! Jeder und jede Einzelne steht unmittelbar und selbst vor Gott. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit mehr, einfach in der Herde abzutauchen. (Bibel-lesen für alle, Bildung, Schulwesen). Jedes Schäflein steht damit in der Verantwortung. Es gibt kein Recht auf Uninformiertheit. Es gibt kein Recht auf Uninformiertheit, aber heute die große Herausforderung, unsere Bildungssysteme besser zu machen, die Schwachen zu unterstützen und die Verirrten zurückzuholen.
- Kein Geschäft mehr mit der Angst! Luther reißt die Zäune ein, mit der die Herde eng am Pflock gehalten wird. Die Angst vor den Höllenqualen, die Menschen in Ablasswesen und Machtabhängigkeit trieb, zerstört er durch die Rechtfertigungslehre. Es gibt auch heute wieder neue Zäune der Angst, die Herden hinter falschen Hirten versammeln. Krankheit und Heil, Wohlergehen und die Angst, verloren zu gehen, die Angst vor sozialem Abstieg, oder nicht gesehen und gehört zu werden sind bis heute die Themen, um die sich gute Hirten kümmern müssen, wenn nicht Zäune der Angst zu Abhängigkeit und Unfreiheit führen sollen.
- Keine Macht den Oberhirten! Luther verändert das Kirchenbild: Es braucht keinen Oberhirten: Wir sind alle Priesterinnen und Priester: Priestertum aller Gläubigen. Heute ist das vor allem die Herausforderung, wirklich kompetent in der Diskussion um eigene Werthaltungen und Überzeugungen zu sein. Der eigene Priester, die eigene Priesterin für den eigenen Glauben zu sein, setzt in einer pluralen und unübersichtlichen Welt einiges mehr voraus, als im wohlgeordneten Glaubenskosmos der Reformationszeit.
Für Christinnen und Christen ist und bleibt das Beispiel Jesu der Anker und Orientierungspunkt im Spannungsfeld von Schaf und Hirte. Jesus ist Hirte und Lamm zugleich. Sein Hirtenamt übt er aus, indem er sich in die Herde einreiht. Er wird Lamm, um aus Lämmern und Schafen Hirtinnen und Hirten zu machen.
„So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre“.
Hier stehen wir und es geht auch anders!