Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Haseloff,
sehr geehrter Herr Landrat Tylsch,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Zugehör,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Seidig
sehr geehrte Mitglieder der Stadtratsfraktionen,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesende,
Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg,
an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren, oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken heute auch derer, die zum Opfer geworden sind – Opfer von Hass und Gewalt. Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus.
Und wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz – Volkstrauertag!
Denn:
„Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk.“
Die Hoffnung auf Versöhnung, auf Frieden zwischen den Völkern, auf ein Ende von Hass und Gewalt, fällt schwer in diesen Tagen. Die Sicheln und Pflugscharen werden zu Schwertern umgeschmiedet. Die Rüstungsindustrie mit Sondervermögen angekurbelt. Sicherheit muss wieder bewaffnet sein. Vertrauen ist gut, stärker sein ist besser. Naiv, ist wer an ein friedliches Zusammenleben der Menschheit glaubte.
Hatte der alte Luther – und vor ihm Augustin – doch recht, wenn sie meinten, der Mensch sei von Grund auf böse und nur durch Gottes Gnade, oder durch die Androhung von Gewalt auf den Pfad des Guten zu bringen.
Und Gott, den hat der moderne Mensch ja schon längst hinter sich gelassen.
„Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk
Doch jeder eine Welt
Mit einem Himmelreich […]“
Führt uns Trauer und Schmerz zur Buße und Umkehr, oder führt sie zu Ohnmacht, zu Wut, zu neuer Gewalt und zur Selbstermächtigung im Namen der Opfer zu noch mächtigerer Macht, um die Ohnmacht angesichts der Opfer zu vergessen.
„Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk
Doch jeder eine Welt
Mit einem Himmelreich wenn er der Eigenschaften uredelste pflegt:
Gott.
Gott aufsprießen läßt in sich
Gott will nicht begossen sein mit Blut.“
Es ist die menschliche Idee von Stärke, die den Blutzoll fordert. Wo der einzelne Mensch im Volk versinkt, da ist sein Leben nichts mehr Wert.
Was sagen die Toten, die hier liegen, die Toten vor Stalingrad und erst recht die Toten auf den Schlachtfeldern von damals und von heute in der Ukraine. Schreien sie nicht: „nie wieder Krieg!“?
Stattdessen wird die Wahrheit über diesen Krieg in der Ukraine, in Europa, der nicht verloren werden darf und den vielleicht auch niemand gewinnen kann, immer deutlicher: Es ist ein Abnutzungskrieg in dem Menschenleben weggehobelt werden und als Verlust von Panzern und Quadratmetern in Kriegsberichtserstattungen entmenschlicht werden.
Wir schauen heute auch mit erschrecken und entsetzen nach Israel und Palästina. Der „eine Tag des Holocaust“ wie der Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober 2023 in Israel genannt wird, hat für viele Jüdinnen und Juden eine altes Trauma geweckt. Die Erfahrung, die für uns „nie wieder Krieg“ bedeutet, führt für Jüdinnen und Juden zu dem festen Willen: „Nie wieder Opfer“.
Das muss im Blick bleiben, wenn wir auf die unerträgliche Situation des Krieges Israels gegen die Hamas schauen. Auch dieser Krieg muss aufhören, so schnell wie möglich. Die Hamas muss alle Geiseln freigeben – auch das palästinensische Volk.
Israel als Apartheitsstaat zu geißeln, wie es zum Beispiel auch die ökumenische Vollversammlung der Kirchen im letzten Jahr mit einer aus dem globalen Süden eingebrachten Resolution versucht hat, oder wegen der völlig verfehlten Siedlungspolitik im Westjordanland als koloniale Besatzungsmacht zu brandmarken, geht an der Sache vorbei und ist nichts anders als israelbezogener Antisemitismus.
Ich könnte hier weitermachen. Könnte Ihnen meine politischen Haltungen ausbreiten, weil ich das Privileg habe zu sprechen. Und wenn Sie die Chance hätten zu sprechen, würden Sie vielleicht etwas anderes sagen, und ich würde widersprechen. Wir könnten beginnen über die richtige Haltung zu streiten. Wir würden rote Linien ziehen, über die wir uns nicht über den Tisch ziehen lassen würden. Dann würden wir diese roten Linien verteidigen mit Verfluchungen wie „Kriegstreiber“ oder „Antisemit“. Oder wir würden uns lieber zurückziehen, weil wir ja Bestätigung brauchen in diesen schlimmen Zeiten. Bestätigung von gleichgesinnten, von Menschen die sich hinter meinen roten Linien versammeln, um bei bedarf zu Kämpfen für die richtige und gute Sache.
Und hinterher, da spielt die Kapelle: „Wann wird man je verstehen, wann wird man je verstehen.“
Else Lasker-Schüler, aus deren Gedicht die Worte stammen, die sich durch diese Ansprache ziehen, starb im Januar 1945 verarmt und desillusioniert in Jerusalem. Jerusalem sollte ihr Himmelreich, ihr Friedenstraum sein. Sie setzte sich schon damals für Versöhnung zwischen Juden, Arabern und Christen ein. Doch die Realität war auch damals schon eine Andere.
Trotzdem sollen uns ihr Wort heute die Perspektive aufzeigen. Denn ein einzelnes Schicksaal reicht, um uns zu berühren, um uns vor Augen zu führen, was es heißt: es ist Krieg!
„Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk
Doch jeder eine Welt
Mit einem Himmelreich wenn er der Eigenschaften uredelste pflegt:
Gott.
Gott aufsprießen läßt in sich
Gott will nicht begossen sein mit Blut.
Wer seinen Nächsten tötet,
Tötet in ihm aufkeimend Gott.
Wir können nicht mehr schlafen in den Nächten
Und bangen mit den
Wir wollen“
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ansprache zum Volkstrauertag
19.11.2023 in Lutherstadt Wittenberg
Pfr. Christoph Maier
Akademiedirektor Ev. Akademie Sachsen-Anhalt e.V.
(Es gilt das gesprochene Wort)