Diskurs

Volkstrauertag 2021

Du darfst nicht denken, dass dir der Friede nachlaufen wird. (Martin Luther)

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Sehr verehrte Damen und Herren,

Sie haben sich heute hier her auf den Weg gemacht, um den Volkstrauertag zu begehen. Gemeinsam gedenken wir heute der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Vielleicht trauert heute nicht das ganze Volk, aber doch an vielen Stellen, an Mahnmahlen und Gedenksteinen – kleinere oder größere Gruppen. Nie wieder Krieg! Nie wieder Gewaltherrschaft! Nie wieder so viele Opfer, Tote, gefallene, ermordete Menschen. Der Volkstrauertag leitet eine Reihe von stillen Tagen ein, die als Gedenktage nachdenklich daher kommen.

Nasskalt, wie das schwere Herbstlaub auf dem Boden, wabernd wie der Frühnebel, der über die Elbe zieht – so beschleicht uns heute das Gefühl der Trauer, so drückt es uns zu Boden zu den gefallenen Blättern. Sie werden weniger, die Menschen, die noch erzählen können vom Krieg, von den Fußmärschen zurück aus den Gefangenenlagern, von der Flucht, mit wenig, später mit nichts als dem nackten Leben, von den Hungerwintern, den zerbombten Städten, den Lagern und Vernichtungsöfen. Sie sterben langsam aus, auch diejenigen, die nie etwas erzählt haben, die all die Bilder in sich versteckt haben, verdrängt ins Unbewusste – Männer und Frauen, ihrer Würde als Menschen beraubt, weil sie Opfer wurden von Machtphantasien einiger Weniger, Opfer von blindem Hass, Opfer von Not und Verzweiflung. Männer und Frauen ihrer Würde als Menschen beraubt, weil sie zu Tätern gemacht wurden, zu Helden, die den Machtphantasien einiger Weniger als willige Erfüllungsgehilfen dienen. Nie wieder Krieg! Nie wieder Gewaltherrschaft! Nie wieder Opfer!

Der Volkstrauertag fällt regelmäßig in die Friedensdekade: „Schwerter zu Pflugscharen“. Zehn Tage, vom 7. bis 17. November, die den nasskalten Blätterlaub ein hoffnungsvolles Leuchten bringen sollen. Zehn Tage, die den wabernden Nebel lichten sollen, die aus Schwertern Pflugscharen und aus Angst, Zorn und Wut Gedanken des Friedens formen wollen.

Martin Luther hat es so formuliert: „Du darfst nicht denken, dass dir der Friede nachlaufen wird; im Gegenteil: Zorn, Unfriede und Rache (werden dir nachlaufen), so dass du Böses mit Bösem zu vergelten bewegt wirst. Aber kehre dies Blatt um: suche du selbst Frieden; leide und tue, was du kannst. Du musst dir selbst wehe tun, musst ihm folgen und nachlaufen.“

Das Blatt umkehren! Das ist vielleicht das edelste Ziel an einem solchen Gedenktag. Das Blatt umkehren! Unser gesenkter Blick am heutigen Tag hat nicht das Ziel, in Trauer zu versinken, sondern aus dem Gedenken heraus den Mut zu finden, das Blatt zu wenden, immer wieder und dem Frieden nachlaufen. Das Blatt wenden, denn im Frieden braucht es keine Helden.

In Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell sagt Werner Stauffacher an die Adresse Tells „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig“, und Wilhelm Tell antwortet: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“
Die Sehnsucht nach dem starken Helden liegt irgendwo tief in uns verankert. Die Suche nach dem einen, der uns erlösen kann, der das Blatt wendet, hat kulturell tiefe Wurzeln. Die Aussicht als Held auch über den Tod hinaus verehrt zu werden, liegt als Ambivalenz auch in diesem Feiertag. Doch in der Struktur des heldischen, ist die Saat schon angelegt, denn im Frieden braucht es keine Helden.

Der Französische Philosoph François Jullien untersucht in seinem „Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz“ den Gedanken des Heldischen in unsere Kultur. Der Held, der das Ziel fest vor Augen hat, der Mittel und Wege kennt, dieses Ziel trotz allen widrigen Umständen zu erreichen. Der Held, der nicht ablässt, wenn er sein Werk einmal begonnen hat und dafür eben auch über Leichen geht. Der Held muss das Opfer in Kauf nehmen, denn lässt er von seinem einmal in Angriff genommenen Ziel ab, hat er versagt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

braucht es für die Herausforderungen unserer Zeit wirklich das Heldische? Ist es nicht vielmehr so, dass die Herausforderungen unserer Zeit so immens groß sind, dass einer allein niemals erfolgreich sein kann. Denken wir an den Klimawandel, an die Pandemie, und ja, auch an die Aufgabe, dem Frieden nachzulaufen. Vielleicht stehen Ihnen bei all den Dingen auch die Helden, oder Antihelden vor Augen, die meinen, hier die Lösung zu haben, oder denen das Unheil in perfider Umkehrung heldischer Erzählung als Verschwörung zugeschrieben wird. Aber überall, wo das heldische durchblitzt, bei den Erdogans, Putins, Trumps und wie sie alle heißen, überall dort ist das Kriegsgeschrei, oder die Angst vor dem Krieg nicht weit.

„Verbunden werden auch die Schwachen mächtig“, lässt Friedrich Schiller den Eidgenossen Werner Stauffacher sagen. Wilhelm Tell sagt: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ und so möchte ich ergänzen: und geht notfalls über Leichen.

François Jullien setzt neben das Heldische mit seiner Zielfokussierung, mit seiner Stringenz im Denken von Ursache und Wirkung ein anderes Prinzip, ein Prinzip, dessen Effizienz den Philosophen begeistert. Statt am Ziel fest zu halten, arbeiten seine Feldherren an den Bedingungen und Möglichkeiten. Diese Feldherren pflügen das Feld, sähen die Saat und lassen wachsen, ganz von allein und statt der Opfer sammeln sie Früchte ihres Handelns ein.

Nie wieder Krieg! Daran sollen uns die Opfer der Weltkriege und der totalitären Regime heute am Volkstrauertag erinnern. Nie wieder Krieg! Wo Menschenleben eingesetzt werden, um politisches Kapital zu schlagen, wo bewusst Menschenleben eingesetzt werden, um Macht und Einfluss zu sichern, wo Menschenleben nichts zählen gegenüber den Interessen einiger weniger, da zeigt sich die gnadenlose Zielfokussierung der Helden.

Lassen Sie uns Feldherren und Feldfrauen sein, die die Bedingungen und Möglichkeiten so verändern, dass ein Herr Lukaschenko nicht über Leichen gehen kann. Wir denken heute auch an die Menschen, die sich an unsere Grenze in den Wäldern verstecken, deren Notlage ausgenutzt wird, die als menschliche Druckmittel benutzt werden, die Kälte und Hunger ausgesetzt werden in einem teuflischen geopolitischen Spiel.

Lassen Sie uns Feldherren und Feldfrauen sein, die die Bedingungen und Möglichkeiten so verändern, dass die Großmächte nicht CO² Emissionen als Waffe in Handelsfragen gegen die Zukunft und gegen die Chancen der kommenden Generation einsetzen können. Wir denken heute auch an die zähen Verhandlungen in Glasgow und an alle, die dort gemeinsam nach Bedingungen und Möglichkeiten suchen, um dem Frieden in der Welt eine Chance zu geben.

Nie wieder Krieg, nie wieder Opfer. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Du darfst nicht denken, dass dir der Friede nachlaufen wird; suche du selbst Frieden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
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