Diskurs

BRIEFE 4/2021

© lillaby | pixabay.com

Liebe Leserinnen und Leser,

die Weltklimakonferenz in Glasgow im November 2021 hat einmal mehr gezeigt, dass dem Klimaschutz in der Staatengemeinschaft – trotz starker Worte – nicht die nötige Priorität eingeräumt wird. Aber immerhin: Es gibt Fortschritte – zumindest auf dem Papier. Die klaffende Lücke zwischen den gesetzten Zielen und der dafür notwendigen Umsetzung stand stärker im Fokus als zuvor. Die Staaten werden aufgefordert, ihre Klimaziele für 2030 bis Ende 2022 nachzubessern. Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen global um 45 Prozent im Vergleich zu 2010 gedrosselt werden. Erstmals wird eine konkrete Klimaschutzmaßnahme benannt. Die Staaten werden zur Abkehr von der Kohleverstromung und zur Streichung der Subventionen für fossile Energieträger aufgefordert. Im Schlussdokument wird zudem benannt, dass es notwendig sei, die Mittel für Anpassungen an den Klimawandel in armen Ländern bis 2025 mindestens zu verdoppeln.

Auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat im November 2021 ihren Beschluss zur Klimaneutralität verschärft. Diese soll nun bis 2035 erreicht werden, also 15 Jahre früher als im November 2020 beschlossen. Aber auch in den Kirchen gibt es ein massives Umsetzungsdefizit. Umso wichtiger ist es, das Thema auf allen Ebenen kirchlichen Lebens – von der Theologie über die Kirchenämter bis zur Gemeinde-Kita – fest zu verankern und seine Relevanz zu erhöhen. Dazu trugen im Jahr 2021 zwei Tagungen bei, über die in diesem Heft berichtet wird.

Zu Beginn dieser Ausgabe stellen der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber und der Stadtplaner Philipp Misselwitz eine neue Initiative für die Transformation des Bausektors vor. Zudem finden Sie Empfehlungen an die Bundesregierung, wie „Maßhalten“ politisch gefördert werden sollte. Es werden Methoden für das Globale Lernen in der Konfirmandenarbeit, ein neues Finanzpapier der EKD sowie das Buch „Aufs Land“ von Ernst Paul Dörfler vorgestellt. Und ein Blick nach Indien zeigt, dass die Fairtrade-Zertifizierung dringend verbessert werden sollte.

Mit großem Dank an alle Autorinnen und Autoren wünscht Ihnen anregende Lesestunden und ein gesegnetes Neues Jahr

Ihr Jörg Göpfert

Nachhaltige Entwicklung

Hoffnungsträger Holz
Das „Bauhaus der Erde“ soll eine Bauwende einleiten


Auf Initiative des international renommierten Klimaforschers Professor Dr. Dr. h. c. Hans Joachim Schellnhuber, Gründer und früherer Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, wurde im Frühjahr 2021 die Bauhaus der Erde gGmbH1 gegründet. Sie wird von der „Laudes Foundation“ und dem Land Brandenburg gefördert. Eine weitere Förderung durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit wurde in Aussicht gestellt. Im September dieses Jahrs wurde Professor Dr. Philipp Misselwitz, ein Berliner Architekt und Stadtplaner, zum Geschäftsführer berufen. Er leitet die gemeinnützige Gesellschaft nun gemeinsam mit Professor Schellnhuber. Die Ziele der Gesellschaft erläutern beide im Interview mit Jörg Göpfert.

Hans-Joachim Schellnhuber
Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Joachim Schellnhuber
© Karkow | PIK, 2020
Prof. Dr. Philipp Misselwitz
Prof. Dr. Philipp Misselwitz
© Monika Keile, 2021

Jörg Göpfert: Aus welchen Gründen halten Sie das verstärkte Bauen mit Holz für einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz?

Hans Joachim Schellnhuber/Philipp Misselwitz: Die Art und Weise, wie die Menschheit die gebaute Umwelt und spezifisch die Städte plant und entwickelt, folgt auch heute noch einer fossil-industriellen Logik mit desaströsen ökologischen Auswirkungen und vielfältigen sozialen Verwerfungen. 

An einer Großen Transformation, also der völligen Abkehr vom fossilen Wirtschaften („Dekarbonisierung“) bis 2050, führt aus Sicht der Klimaforschung kein Weg vorbei. Um die Erderwärmung zu begrenzen, braucht es darüber hinaus die Stärkung der natürlichen Kohlenstoffsenken (insbesondere Wälder, die über die Photosynthese CO2 aus der Atmosphäre binden) und die Schaffung artifizieller Kohlenstoffsenken (Städte und Infrastrukturen auf Basis erneuerbarer Rohstoffe, die CO2 über Jahrhunderte sicher speichern). Hierbei kommt das Holz als einer in unserer Region traditionellsten Baustoffe ins Spiel, das bei einer sogenannten Bauwende als organisches Material Stahl und Beton ersetzen kann. Aber Holz ist auch nur ein Teil einer Vielzahl von Materialien, die hierbei berücksichtigt werden sollten, je nach lokaler Verfügbarkeit und auch nur im Zusammenhang mit einer behutsamen, nachhaltigen Forstwirtschaft.

Lassen sich auch „Wolkenkratzer“ überwiegend aus Holz bauen?

Auch 80 Meter hohe Häuser lassen sich heute schon problemlos aus organischen Materialien konstruieren, zum Beispiel aus Brettsperrholzelementen („cross-laminated timber“). Dafür gibt es schon konkrete gebaute Beispiele, etwa in Norwegen. Wenn man die richtigen Materialien und Techniken einsetzt, sind Holzgebäude zudem wesentlich erdbebensicherer als Stahlbeton-Konstrukte. Auch im Kostenbereich liegt der Bau mit organischen Materialien fast schon auf gleichem Niveau wie konventionelles Bauen. Er würde sogar wesentlich günstiger als eine Bauweise mit Stahlbeton, wenn die Folgekosten des Stahlbetons für das Klima steuerlich eingepreist werden würden. Verdichtetes, urbanes Bauen mit Holz und anderen Materialien ist also absolut möglich, wenn wir auch nicht von „Wolkenkratzern“ sprechen würden. 

Wo könnte das benötigte Holz herkommen? Herrscht derzeit nicht ein gravierender Mangel an Bauholz?

Die derzeitigen Ausschläge im Preis und in der Verfügbarkeit betreffen nicht nur Holz, sondern alle Baumaterialien, und haben komplexe Ursachen, nicht zuletzt auch die Störung der Güterketten durch die Pandemie. Vieles wird sich wieder normalisieren und die Verfügbarkeit von Holz ist derzeit gar nicht das Problem. 

Aber auch politisches Handeln ist erforderlich, um Regulierungshürden abzubauen, die zum Beispiel das Nutzen von sogenanntem Schadholz unmöglich machen oder bestimmte Holzarten benachteiligen. Ein riesiger Anteil von Holz wird derzeit zwecks Energiegewinnung verbrannt und dazu noch steuerlich gefördert mit einer Mehrwertsteuerreduktion auf sieben Prozent. Für den Bau zahlt man den vollen Satz. Das ist schon aus Klimaschutzgesichtspunkten absurd, denn beim Verbrennen wird in Holz gebundenes CO2 wieder freigesetzt.

Auch müssen wir kritisch über unser europäisches Wettbewerbsrecht nachdenken, welches es aufgrund der freien europaweiten Ausschreibungen schwierig macht, lokale Wertschöpfungsketten zu privilegieren. Allein der günstigste Preis zählt. Das schadet durchaus dem Bausektor, vor allem kleineren regionalen Betrieben, und berücksichtigt nicht die teilweise absurden, CO2-intensiven Transportwege. Die Umsetzung einer solchen Strategie braucht Jahrzehnte und kann nur gelingen, wenn die Kommunen an der Wertschöpfung adäquat beteiligt werden.

Geriete durch erhöhten Holzbedarf das Ziel, die Forstwirtschaft nachhaltiger zu machen, die Wälder dem Klimawandel anzupassen nicht unter zusätzlichen Druck?

Zunächst: Es geht nicht um den Abbau der noch bestehenden Altwälder, die unbedingt geschützt werden müssen. Wälder sind, wie schon gesagt, wichtige CO2-Senken, die unbedingt erhalten werden müssen. Es gibt auch viel berechtigte Kritik an derzeitigen Forstwirtschaftspraktiken, die oft keineswegs nachhaltig sind. Holzabbau und Wiederaufforstung müssen viel behutsamer passieren. Schwere Maschinen können die Wasseraufnahmefähigkeit des Bodens beeinträchtigen. Die Wiederaufforstung sollte weniger einer „Plantagenlogik“ folgen, sondern die Natur selbst zum Zuge kommen lassen, um somit die natürlichen Anpassungseigenschaften von Bäumen zu nutzen. Vor allem aber geht es um die Nutzung des durch den Klimawandel notwendig gewordenen Waldumbaus bzw. die Nutzung des Holzes, das hierdurch verfügbar wird, und die Vermehrung von Wald durch das Wiederaufforsten degradierter Flächen und die Wiederbefeuchtung von Moorflächen. Wir sehen eine bio-basierte Bauwirtschaft hier nicht als Bedrohung, sondern als Motor und wirtschaftlichen Anreiz für eine großmaßstäbliche Wiederaufforstung.

Würde eine Umstellung von schnell wachsenden Nadelwäldern auf Laubwälder Ihrer Vision nicht zuwiderlaufen?

Wir haben noch nicht alle Lösungen in der Schublade, sind jedoch der Überzeugung, dass es möglich ist, eine integrierte Strategie für einen klima- und naturgerechten Umbau von Wäldern zu entwickeln, die gleichzeitig Grundlage für eine nachhaltige Holzbau-Kreislaufwirtschaft ist. 

Natürlich ist die Wachstumszeit von Bäumen zu berücksichtigen. Große, alte Laubwaldbestände, die langsam wachsen, sind unbedingt zu schützen und zu vermehren. Für eine kurzfristigere Nutzung gibt es aber auch viele Alternativen zu den Nadelwaldplantagen. Hier müssen wir stärker Land- und Forstwirtschaft zusammendenken, denn durch den Anbau einjähriger Pflanzen können regenerative Materialien für Dämmungen und Platten für die Bauindustrie gewonnen werden. 

Welche Weichen müssten gestellt werden, damit Ihre Vision Wirklichkeit wird?

Die kommende Legislaturperiode ist die letzte Chance, die rechtlichen, finanziellen und institutionellen Instrumente zu schaffen, um noch zeitgerecht eine Bauwende einzuleiten. Bei der Transformation der gebauten Umwelt geht es zum einen um den Wechsel der „Hardware“: Baustoffe, Gebäude, Stadt- und Infrastrukturen müssen klimagerecht, ressourcenschonend und als Teil von zirkulären Systemen neu konzipiert werden. Zum anderen ist die „Software“ entscheidend. Das bedeutet, die Menschen in Wandlungsprozesse einzubinden, sie zur Veränderung ihres Lebensstils zu ermutigen und neue Formen der Teilhabe, Koproduktion und Solidarität zu ermöglichen. Nur so lässt sich die Transformation als soziales Fortschrittsprojekt begründen, erklären und verwirklichen.

Die Bauwende lässt sich weder „top-down“ noch „bottom-up“ realisieren. Sie muss vielmehr als gesamtgesellschaftliches Mehrebenen-Vorhaben angegangen werden. Während viele deutsche Kommunen und zivilgesellschaftliche Initiativen bereits innovative Ansätze erproben, fehlt jedoch auf Bundesebene ein für den urbanen Strukturwandel zuständiges Ressort, das die Verantwortung bündelt, Sichtbarkeit schafft, Ressourcen mobilisiert und die politische Initiative ergreift. Zu den unmittelbaren Initiativen dieses Ministeriums sollte gehören, das Steuersystem im Bauwesen so zu reformieren, dass Lebenszyklen und Umweltfolgewirkungen von verwendeten Materialien und Prozessen vollständig anerkannt werden. Dies schließt die direkte Förderung regenerativer, kreislaufgerechter und biobasierter Baustoffe oder dezentraler Heiz- und Energiesysteme für den Gebäudesektor explizit mit ein. Wenn die Freisetzung von gebundenem CO2 im Baubestand besteuert oder ein Ausgleichs- und Kompensationssystem etabliert wird, sollte das den kreativen, klima- und sozialgerechten Umbau fördern und den Abriss reduzieren. Mit jedem öffentlichen Projekt für Um- und Neubau sollte gezeigt werden, wie soziale Inklusion und ambitionierte Standards für die Verwendung nachhaltiger Baustoffe und Energiesysteme zusammengedacht werden können.

Wie lange würde es dauern, bis sich der verstärkte Hochbau mit Holz signifikant auf die Emission von Treibhausgasen auswirken würde?

Eine Transformation der gebauten Umwelt kann unmittelbar wirken, in dem der weitere Ausstoß von CO2 gestoppt wird. Wir alle wissen, dass nur noch wenige Jahre zum Handeln bleiben, um die selbstgesteckten Klimaziele zu erreichen. Der Bausektor ist der Dinosaurier unter den CO2-Emittenten. Dieser ist global für knapp 40 Prozent der gesamten Emissionen verantwortlich, wenn man die Emissionen durch Konstruktion, Nutzung und Abriss von Bauobjekten zusammenrechnet – Zement allein für ca. 8 Prozent. Darüber hinaus verursacht der Bausektor rund 50 Prozent des gesamten Abfallaufkommens.

Aber unsere Idee soll auch langfristiger wirken und zur Menschheitsaufgabe der Klimarestaurierung beitragen: Es reicht nicht, die gebaute Umwelt klimaneutral zu gestalten, sondern sie sollte schrittweise zur Netto-Kohlenstoffsenke weiterentwickelt werden. Grundlage dafür ist eine Jahrhundert-Strategie für nachhaltigen Waldumbau bzw. nachhaltige Forstbewirtschaftung. Die Restituierung der Atmosphäre mit Hilfe einer biobasierten Wirtschaft kann durchaus zwei Jahrhunderte dauern.

Wie kam es zu der Idee, das Unternehmen „Bauhaus der Erde“ zu gründen?

Sollten sich Konstruktion und Struktur von Gebäuden und Städten nicht rasch grundlegend ändern, kann die Erderwärmung nicht mehr auf deutlich unter zwei Grad begrenzt werden. Noch direkter ausgedrückt: Ohne radikale Bauwende auf Basis einer bio-basierten Kreislaufwirtschaft wird das Pariser Klimaabkommen scheitern. 

Die Idee der Gründung des „Bauhaus der Erde“ ist, hierbei einen ganzheitlichen Ansatz zu forcieren, der ökologische und soziale Ziele verbindet. Zu den zentralen Elementen der geforderten Bauwende gehören Wiederaufforstung degradierter Flächen, Wiederbefeuchtung von Moorflächen, nachhaltige Forstwirtschaft und die Nutzung der nachwachsenden Rohstoffe für Renovierungen und den Bau neuer Häuser und Städte. Das alles geschieht im Kontext eines ganzheitlichen Narrativs, das eine neue Baukultur fördert, die zugleich menschenwürdig, ökologisch nachhaltig und ästhetisch ist. An einer neuen architektonischen Epoche führt aus Sicht der Initiatoren kein Weg vorbei.

Welche konkreten Pläne haben Sie?

Das „Bauhaus der Erde“ will Triebfeder für Innovationen im Bausektor, die es überall bereits in Ansätzen gibt, und Stachel im Fleisch der Politik sein. Wir verfolgen dabei zunächst drei Elemente: 

Ein interdisziplinärer Think Tank mit Sitz in Potsdam soll noch fehlende wissenschaftliche Grundlagen erarbeiten, das vielfach noch fragmentierte Wissen zusammentragen und dieses für Schlüsselakteure zur Verfügung stellen. Zugleich erforschen wir aber auch durch praktische und anschauliche Experimente in Innovation Labs, welche Prototypen wir für das nachhaltige (Um)bauen unserer gebauten Umwelt brauchen. Hier operieren wir im Bereich der sogenannten Designforschung mit ArchitektInnen, PlanerInnen und der Bauwirtschaft.

Nicht zuletzt geht es aber auch um den Aufbau und die Stärkung eines globalen Netzwerkes, um das Narrativ einer Wende zu einer organischen Bauweise zu entwickeln. Da Deutschland und Europa den Klimawandel in historisch signifikanter Weise mitverschuldet haben, muss deshalb auch Finanzierungsverantwortung für den sogenannten „globalen Süden“ übernommen werden. Wir möchten hierbei helfen, die sozial-ökologische Transformation einer gebauten Umwelt als Teil einer solidarischen Entwicklungszusammenarbeit sichtbarer und wirksamer zu machen, und in diesem Zusammenhang konkrete Demonstrationsprojekte organischer Architektur initiieren.

Wie korrespondiert Ihre Initiative mit der Initiative „Neues Europäisches Bauhaus“ der EU-Kommission?

Die von uns bzw. dem Gründer Hans Joachim Schellnhuber initiierte Wiederbelebung der Bauhaus-Idee hat maßgeblich zur Gründung des „Neuen Europäischen Bauhauses“ beigetragen – eine breite Förderinitiative der Europäischen Union mit unterschiedlichsten Formaten, die in den nächsten Jahren wichtige Impulse für einen sozialen, ökologischen und kulturellen Umbau setzen kann. 

Das „Bauhaus der Erde“ ist jedoch eine gemeinnützige gGmbH, die als Organisation völlig unabhängig ist und global agieren möchte.

Vielen Dank, Herr Professor Schellnhuber, Herr Professor Misselwitz, für dieses Interview!


1 www.bauhausdererde.org/

Fairtrade muss besser werden
Arbeitsbedingungen auf Bio-Fairtrade-Baumwollfarmen in Indien


von Sabine Ferenschild

Baumwolle ist die wichtigste Naturfaser weltweit. Aus ihr werden Kleidung, Heimtextilien oder auch Schuhe hergestellt. Obwohl ihr Anteil am gesamten Fasereinsatz seit Jahren schrumpft, wurden nach Angaben des International Cotton Advisory Committee (ICAC) in der Saison 2020/2021 immer noch etwa 24 Mio. Tonnen Baumwolle weltweit produziert, also ungefähr so viel wie im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Fast die Hälfte der Baumwolle wird in Indien und China angebaut.1 Der größte Teil der Baumwolle wird konventionell produziert, das heißt mit einem hohen Einsatz von Agrarchemikalien, gentechnisch verändertem Saatgut und unter schwierigen Arbeitsbedingungen. Saisonarbeiter*innen produzieren das Saatgut, arbeiten auf mit Pestiziden belasteten Feldern und ernten dort die Baumwolle. Sie arbeiten in staubigen, lauten und gefährlichen Fabriken, in denen die Rohbaumwolle entkörnt und die reine Faser gewonnen wird. Sie haben in der Regel keine Arbeitsverträge, überlange Arbeitszeiten und keinen Gesundheitsschutz. Ihre Löhne sind extrem niedrig. Dennoch machen sie diese Arbeit, um wenigstens sich und ihre Familien ernähren zu können (Ferenschild/Katiyar 2015; Ferenschild 2018).

Wohnstelle von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern auf Baumwollfarmen im Distrikt Kutch im Staat Gujarat/Indien im Dezember 2020.
© SÜDWIND e. V.

Schon anhand dieser kurzen Beschreibung wird deutlich, dass erheblicher Handlungsbedarf besteht, um den Baumwollanbau nachhaltig zu gestalten. Im Umweltbereich gehört der kontrolliert ökologische Anbau und im sozialen Bereich der Fairtrade-Standard zu den jeweils anspruchsvollsten Nachhaltigkeitsstandards. Eine Kombination von beiden scheint also die beste Lösung zu sein, damit Mensch und Umwelt in den Anbauregionen vom Baumwollanbau profitieren und nicht von ihm geschädigt werden.2 In den letzten Jahren gab es allerdings einige Hinweise auf prekäre Arbeitsbedingungen auf Fairtrade-zertifizierten Farmen (SOAS 2014, Meemken et al. 2019). Ob dies auch im indischen Baumwollanbau der Fall ist, untersuchte SÜDWIND in der Saison 2020/21 mit dem indischen Partner Center for Labour Research and Action (CLRA).3

Ergebnisse einer Befragung

Zu ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen befragte CLRA 268 Farmarbeiter*innen, die auf Baumwollfarmen in den indischen Bundesstaaten Odisha, Madhya-Pradesh und Gujarat als Saisonbeschäftigte arbeiteten. 204 der befragten Arbeiter*innen (149 Männer, 55 Frauen) arbeiteten für Fairtrade-Farmen, die Bio-Baumwolle anbauten. Weitere 64 Arbeiter*innen (44 Männer, 20 Frauen) waren auf Baumwollfarmen beschäftigt, die nicht nach einem sozialen Standard zertifiziert waren.4 Diese kleinere Gruppe der Befragten wurde als Kontrollgruppe einbezogen, um eventuelle Unterschiede in den Arbeitsbedingungen feststellen zu können. 

Inhalte der Befragung waren der soziale Hintergrund der Befragten, ihr Bildungsstand, ihre Herkunft, die konkreten Arbeitsbedingungen (Verträge, Löhne, Arbeitszeiten, Tätigkeiten, Kinderarbeit, Arbeitsschutz) und die Dauer ihrer Tätigkeit. Bei den meisten Themen wurde kein Unterschied zwischen den Beschäftigten auf Fairtrade-Farmen und denen auf konventionellen Farmen festgestellt.

Ohne in diesem Artikel auf alle Ergebnisse der Befragung eingehen zu können, sollen doch einige zentrale Erkenntnisse im Folgenden kurz vorgestellt werden. Sehr typisch für den indischen Baumwollanbau insgesamt ist, dass in allen drei Regionen die befragten Feldarbeiter*innen fast ausschließlich aus marginalisierten Gemeinschaften am unteren Ende des indischen Kastensystems oder aus marginalisierten Volksgruppen stammen. Ebenfalls typisch ist der niedrige Bildungsstand der Befragten, die überwiegend (90 Prozent) über keine Schulbildung oder nur über eine Primarschulbildung verfügen. Auffällig war hingegen, dass nur in Gujarat Wanderarbeiter*innen in signifikanter Anzahl beobachtet wurden. In den beiden anderen Regionen zählten die Befragten fast ausschließlich zur einheimischen Bevölkerung. Dies kann eine Folge der Corona-Pandemie sein, die die Mobilität erheblich eingeschränkt hat. Die Wanderarbeiter*innen lebten entweder in einfachen Hütten oder in offenen Zelten auf der Farm.

In der Regel kamen die Befragten durch Vermittlung ihrer Nachbar*innen im Dorf oder durch Verwandte zu ihren Arbeitsstellen. Dorfgemeinschaften und Familiennetzwerke sind also die wichtigsten „Arbeitsvermittler“ für die Farmbesitzer*innen. Kaum jemand verfügte über einen schriftlichen Arbeitsvertrag. Allerdings gab es bei Beschäftigten von Fairtrade-Farmen häufiger sogenannte „diaries“. Ein solches Lohntagebuch, in dem die Lohnvereinbarung, die Art der Arbeit und die zu bearbeitende Fläche festgehalten werden, kann das Risiko unfairer Bezahlung durch die Farm-besitzer*innen reduzieren. Insgesamt gaben 52 der 268 Befragten an, ein solches diary zu haben, davon 51 Beschäftigte von Fairtrade-Farmen. 

Zum Zeitpunkt der Befragung war Erntezeit. Die meisten Befragten pflückten dementsprechend Baumwolle. Aber auch das Ausbringen natürlicher Pestizide gehörte zu den Tätigkeiten der Feldarbeiter*innen. Auf den konventionellen Farmen waren alle Befragten als Baumwollpflücker*innen tätig. Die Mehrheit aller Befragten (80 Prozent) arbeitete bis zu zwei Monate auf den Feldern, die restlichen waren drei bis vier Monate auf den Feldern beschäftigt. In der Regel umfasste ein Arbeitstag mehr als acht Stunden und bis zu elf Stunden. In Gujarat beispielsweise beginnt das Baumwollpflücken um 7 Uhr morgens und endet gegen 18 Uhr abends. Normalerweise gibt es weniger als eine Stunde Pause für Mittagessen und Tee.

Kinderarbeit beim Pflücken von Baumwolle im Distrikt Kutch im Staat Gujarat/Indien im Dezember 2020.
© SÜDWIND e. V.

Besonders ernüchternd waren die Ergebnisse in Bezug auf die Entlohnung. Da eine existenzsichernde Entlohnung entscheidend für die Überwindung von Armut und für menschenwürdige Arbeit ist, ist hier ein detaillierterer Blick wichtig. Die Tabelle zeigt zum einen die gültigen gesetzlichen Mindestlöhne in den drei Bundesstaaten der Befragung und zum anderen den Anteil der befragten Beschäftigten pro Lohngruppe, differenziert nach Fairtrade und konventionellen Farmen. Nur in Gujarat erhielt die Mehrheit der befragten Feldarbeiter*innen einen Tageslohn, der etwas über dem Mindestlohn von 178 indischen Rupien (INR) lag.5 In den beiden anderen Bundesstaaten verdienten alle Befragten deutlich weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Es lässt sich außerdem kein systematischer Unterschied zwischen Fairtrade und konventionellen Farmen feststellen. Tendenziell lag die Entlohnung auf Fairtrade-Farmen in Odisha sogar unter der Entlohnung auf konventionellen Farmen.

Tabelle: Anteil der Befragten pro Lohngruppe auf Fairtrade- und konventionellen Farmen in Odisha, Madhya-Pradesh und Gujarat (2020)

Auch das Thema Kinderarbeit wurde in der Befragung angesprochen, mit dem Ergebnis, dass viele Befragte sowohl von Fairtrade- als auch von konventionellen Farmen (aber mit regionalen Unterschieden) angaben, Kinder bei der Arbeit auf den Baumwollfeldern beobachtet zu haben. Nur ein kleiner Teil der Befragten ordnete diese Kinderarbeit explizit in den Kontext von Familienarbeit ein. Es konnte im Rahmen der Untersuchung nicht geklärt werden, ob die Häufigkeit der Kinderarbeit auf Corona zurückzuführen war oder einer für durchschnittliche Saisons typischen Situation entsprach. Hier wären weitere Recherchen mit einem Fokus auf Kinderarbeit nötig.

Der „Fairtrade Standard for Contract Production“ ist zu schwach

Woran liegt es, dass auf den Fairtrade-Farmen keine deutlich besseren Arbeitsbedingungen für Saisonarbeiter*innen geboten werden als auf konventionellen Farmen? Der Hauptgrund scheint in dem angewendeten Fairtrade-Standard zu liegen. Im Fall der SÜDWIND- und CLRA-Untersuchung wurden vier Produzentengemeinschaften untersucht, die alle nach dem „Fairtrade Standard for Contract Production“ (Fairtrade CP) zertifiziert waren. Dieser Standard ist ein „Einstiegsstandard“ und enthält deutlich geringere Ansprüche an die Arbeitsbedingungen als der „Fairtrade Standard for Small Scale Producer Organizations“ (Fairtrade SPO).6 Idealerweise lassen sich alle, die nach dem Fairtrade CP-Standard zertifiziert sind, nach einer gewissen Zeit nach dem anspruchsvolleren Fairtrade SPO-Standard zertifizieren. Diesen Schritt haben aber die vier untersuchten Produzentengemeinschaften – trotz teils langjähriger Zertifizierung nach dem Fairtrade CP-Standard – bisher nicht getan. Hier muss Fairtrade besser werden und klare zeitliche Vorgaben für die Erreichung des anspruchsvolleren Standards machen.

Bedeuten die Ergebnisse, dass man auf Fairtrade verzichten sollte? Nein, für viele Bereiche hat Fairtrade Standards entwickelt, die umfangreiche und anspruchsvolle Arbeitsrechte enthalten, zum Beispiel den Textil-Standard. Aber Fairtrade muss sich sputen, die Einzelstandards, die die Arbeitsbedingungen nicht berücksichtigen, zu überarbeiten und weiterzuentwickeln. Sonst gerät Fairtrade in eine Glaubwürdigkeitsfalle: viel versprochen, wenig gehalten. Bis zur Abwicklung oder Weiterentwicklung des Fairtrade CP-Standards lohnt sich für Nutzer*innen von Fairtrade-Baumwollprodukten jedenfalls der Blick ins Detail: Fairtrade-Bio-Baumwolle, die von einem Produzenten mit einem Fairtrade SPO-Standard produziert wurde, ist bis auf Weiteres eindeutig der Vorzug zu geben.7

Literatur

Dr. Sabine Ferenschild
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
SÜDWIND e. V. Institut für Ökonomie und Ökumene
Kaiserstraße 201 | 53113 Bonn
Tel.: 0228 763698-16
| www.suedwind-institut.de


1 www.icac.org/DataPortal/Download

2 SÜDWIND unterstützt deshalb im Rahmen eines von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) und der Ev. Kirche von Westfalen geförderten Projekts die Nutzung bio-fairer Bettwäsche und Handtücher durch private Großverbraucher. Die Projektfinanzierung hat auch die Vor-Ort-Recherche ermöglicht.

3 Die Befragungsergebnisse liegen mittlerweile auf Deutsch vor (Ferenschild 2021), auf Englisch werden sie demnächst von CLRA publiziert.

4 Ob sie über eine Bio-Zertifizierung verfügten, wurde nicht überprüft. Die genaue Aufteilung der Befragten ist enthalten in Ferenschild 2021, Tabelle 1.

5 Im Januar 2021 wurde der gesetzliche Mindestlohn in Gujarat auf 340 INR pro Tag erhöht. Sollten die Tageslöhne der Saisonbeschäftigten in 2021/22 nicht entsprechend angepasst werden, wird kein*e Baumwollpflücker*in den gesetzlichen Mindestlohn erhalten.

6 Mit Bezug auf die Arbeitsbedingungen der Feldarbeiter*innen formuliert der Fairtrade CP-Standard, in Anlehnung an die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Anforderungen zu Anti-Diskriminierung, dem Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeit. Damit enthält der Standard Anforderungen zu sechs der insgesamt acht ILO-Kernarbeitsnormen. Kriterien zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen fehlen. Auch zur Höhe der Löhne und weiteren Arbeitsbedingungen, wie z. B. Arbeitszeiten oder Arbeitsverträgen, stellt der CP-Standard keine Anforderungen. Der Fairtrade SPO-Standard formuliert spezifischere Anforderungen in den Feldern Anti-Diskriminierung, Kinderarbeit (inkl. Wiedergutmachung) und Zwangsarbeit als der Fairtrade CP-Standard und umfasst zusätzlich weitere Themen wie Vereinigungsfreiheit, Kollektivverhandlungen, Löhne und Lohnsteigerungen, Arbeitsverträge, Mutterschutz und Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (u. a. Trinkwasserversorgung).

7 Vorbehaltlich einer noch ausstehenden Befragung von Saisonarbeiter*innen auf Farmen, die nach diesem anspruchsvolleren Fairtrade-Standard zertifiziert wurden.

Globales Lernen

Konfi-Arbeit grenzenlos
Methodensammlung zum Globalen Lernen mit digitalen Medien

von Miriam Meir

Neue Publikation: „Konfi-Arbeit grenzenlos“.
© Miriam Meir | Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.

Seit 2019 stärkt die Projektstelle „Konfis und die Eine Welt“1 an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt das Globale Lernen in der Konfi-Arbeit. Seither wurden zahlreiche Methoden erprobt, mit Konfis neue Horizonte erschlossen und gemeinsam Lösungsansätze für mehr Gerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft eingeübt. Einen besonderen Zugang bot dabei die Nutzung digitaler Medien. Diese knüpfen an die Lebenswelten der Jugendlichen an, erlauben ein hohes Maß an Kreativität und Partizipation und tragen zur Überwindung räumlicher Grenzen bei. 

Viele der gesammelten Erfahrungen und Methoden bündeln sich nun in der Publikation „Konfi-Arbeit grenzenlos. Digital aktiv in der Einen Welt“. Ergänzend zu der Podcast-Reihe „Konfis Global“2 gibt das Heft den Gestaltenden der Konfi-Arbeit konkrete Praxisimpulse, welche von Expertinnen und Experten der kirchlichen Jugendbildung, des Globalen Lernens oder der Medienpädagogik entwickelt und in der Konfi-Arbeit angewandt wurden. Die dargestellten Methoden sind in drei Abschnitte unterteilt: Mit den Methoden im ersten Abschnitt werden Konfis eingeladen, ihre Rollen in der Einen Welt zu reflektieren. Mit denen im zweiten Abschnitt lernen sie, miteinander und über kulturelle, soziale oder nationale Grenzen hinweg in Kommunikation zu treten. Und die Methoden im dritten Abschnitt ermutigen sie, Handlungsoptionen einzuüben, um die Eine Welt gemeinsam zu gestalten.

Global und digital in der Konfi-Arbeit – didaktische Reflexionen

Globales Lernen ist ein partizipatives Bildungskonzept, das drei Kernkompetenzen ins Zentrum stellt.3 Es unterstützt die Lernenden dabei, weltweite Zusammenhänge zu erkennen und ein systemisches Denken einzuüben. Dabei betrachten sie Sachverhalte auf verschiedenen Ebenen und bringen Religion und Politik, Gesellschaft und Ökonomie miteinander in Verbindung. Die zweite Kompetenz des Globalen Lernens ist das Bewerten. Die Lernenden setzen sich mit verschiedenen Perspektiven und Lebenswelten auseinander, wägen unterschiedliche Wertvorstellungen ab und entwickeln ihre eigenen Wertmaßstäbe, die sie dazu befähigen, komplexe Entscheidungen zu treffen. Zuletzt richtet sich das Globale Lernen auf das Handeln aus. Die Lernenden ziehen Schlussfolgerungen aus ihren Entscheidungen und kommen ins Gestalten. Mit der Stärkung dieser Kompetenzen verfolgt das Globale Lernen ein doppeltes Ziel. Zum einen ermöglicht es den Lernenden, sich in einer komplexer werdenden Welt mit ihren sich beschleunigenden Prozessen zu orientieren. Sie sollen darin befähigt werden, sich auf stetig neue Entwicklungen einzurichten und souverän damit umzugehen. Zum anderen verfolgt das Globale Lernen auch ein klar normatives Ziel: Es strebt Solidarität und Gerechtigkeit in der Einen Welt an. Der Wert „Gerechtigkeit und Verantwortung für andere“ wird auch von Konfis als zunehmend wichtig erachtet. Laut der zweiten repräsentativen Studie für Konfi-Arbeit gaben knapp zwei Drittel der Konfirmierten an, sich dafür zu interessieren.4 Bei Fragen der Gerechtigkeit gehen Globales Lernen und Konfi-Arbeit also gut zusammen. Doch auch darüber hinaus haben Globales Lernen und Konfi-Arbeit viel gemeinsam. Sie bedienen sich beide vor allem konstruktivistisch orientierter Lernmethoden, welche die Lernenden und deren Bedeutungskonstruktion in den Mittelpunkt stellen. Im Globalen Lernen werden diese damit zur kritischen Reflexion angeregt und darin bestärkt, soziale Positionen auszuhandeln und einzunehmen.5 In der Arbeit mit Konfis erlaubt eine konstruktivistische Didaktik aktive Konstruktionsprozesse von Glaubensthemen und trägt so zu einem hohen Relevanzbezug der Konfi-Stunden bei.6 Ein Beispiel hierfür ist das immer weiter verbreitete individuelle Gestalten von „Jenseitskisten“, um sich auf persönliche Weise eschatologischen Fragen anzunähern.

Vor diesem Hintergrund eröffnet die Nutzung digitaler Medien in der Arbeit mit den Jugendlichen vielseitige Chancen. Basierend auf einem konstruktivistischen Lernverständnis können die Lernenden damit – anders als beim bloßen Konsum von Medieninhalten – selbst aktiv werden, sich mit anderen austauschen und sich kreativ ausdrücken.7 So kann der pädagogische Einsatz digitaler Medien gerade die ermächtigenden und kommunikativen Kompetenzen des Globalen Lernens fördern und die Konfis darin ermutigen, eine gestaltende Rolle in Kirche und Gesellschaft einzunehmen.

Konfis in der Einen Welt

Die Methoden des ersten Abschnitts im Heft „Konfi-Arbeit grenzenlos“ orientieren sich an der Kernkompetenz des Erkennens. Sie laden die Jugendlichen ein, sich in der Einen Welt zurechtzufinden und ihre Rolle in globalen Zusammenhängen zu reflektieren. So erkunden die Konfis im Entwickeln von Avataren ihre eigene Identität in einer analogen sowie digitalen Umgebung. Digitale Stimmungsbilder hingegen stärken die Wahrnehmung in der Gruppe und helfen den Individuen dabei, sich mit ihren Positionen und Haltungen in der Gemeinschaft zu verorten. Die digitale Wirklichkeit kann dabei sowohl ein methodischer Zugang zur Welt als auch Gegenstand von Auseinandersetzungen sein. Bei den 10 Worten der Digitalisierung überlegen sich die Konfis Gebote und Regeln für ein faires Miteinander im virtuellen Raum, während das von Jugendlichen entwickelte Spiel MineHandy einen Blick hinter die Kulissen der Online-Welt eröffnet und sie zum Erforschen der Wertstoffkette ihrer Mobilgeräte einlädt. Neben neuen und innovativen Ansätzen greift das Heft auch klassische und bewährte Methoden des Globalen Lernens auf und knüpft damit an den Kontext der Konfi-Arbeit an. Hierzu zählt das Weltspiel. Die Konfis stellen sich um eine Weltkarte und überlegen gemeinsam, wie die Bevölkerung, das Einkommen oder gar der CO2-Ausstoß auf der Welt verteilt sein könnte. Hierfür erhalten sie eine bestimmte Anzahl an Spielfiguren, die die Größe der Weltbevölkerung repräsentiert. Diese können sie dann so verteilen, wie es nach ihrer Vermutung der Realität entspricht. Das Überprüfen der Lösungen führt dabei meist zu überraschenden Ergebnissen und wirft vertiefende Fragen auf. Viele der Jugendlichen unterschätzen beispielsweise die hohe Bevölkerungsdichte in Asien oder sind schockiert über den verhältnismäßig hohen CO2-Ausstoß auf dem eigenen Kontinent. In einer Gruppe überlegte daraufhin ein Konfirmand besorgt, ob dieser womöglich noch viel höher wäre, wenn man das CO2 dazuzählen würde, welches bei der Produktion von Konsumgütern für den europäischen Markt auf anderen Kontinenten entsteht. 

Das Weltspiel mit einer Konfi-Gruppe.
© Miriam Meir | Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.

In Kommunikation treten

Der zweite Abschnitt des Heftes „Konfi-Arbeit grenzenlos“ ist auf die Kommunikation mit anderen gerichtet. Die Methoden orientieren sich dabei an der Kernkompetenz Bewerten im Globalen Lernen. Hierfür werden die Jugendlichen mit anderen Perspektiven und Lebenswelten konfrontiert, lernen, sich kreativ auszudrücken, und treten in den Austausch miteinander. Damit sie sich dem öffnen können, führt eine Bubblecrasher-Methode sie an die eigenen Filterblasen heran. Sie setzen sich mit ihren Lebenswelten auseinander und reflektieren unterschiedliche soziale Normen und Wertesysteme. Letztlich lernen sie, ihre Filterblasen durch aktives Zuhören bewusst zu durchbrechen und mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen, um ihren persönlichen Horizont zu erweitern. Auch der Photo-Energy-Walk macht den Konfis Perspektivenvielfalt und unterschiedliche Lebenswelten bewusst. Sie nehmen ihre Umgebung als touristisch Reisende neu wahr und drücken diese Sicht in einem Foto aus. Die Methode eignet sich dabei nicht nur innerhalb der eigenen Gruppe, sondern vor allem auch im Austausch mit Jugendgruppen, die einen anderen kulturellen oder religiösen Hintergrund haben. So können mit dieser Methode beispielsweise Konfis und junge Hindus einander besser kennenlernen, indem sie ihre jeweils religiös unterschiedlich geprägten Umgebungen fotografieren und einander vorstellen. Aber auch virtuelle Be-gegnungen mit Gruppen aus Ländern des Globalen Südens können damit eingeleitet werden.8 Um globale Beziehungen und das Hineinversetzen in andere Lebenswelten geht es ebenso im Planspiel FairKleidung. Hier schlüpfen die Konfis in verschiedene Rollen des weltweiten Textilhandels. Sie teilen sich ihre Interessen in Briefen mit und verhandeln Maßnahmen für eine gerechtere Weltwirtschaft. Dabei gibt es keine vorgefertigte Lösung. Vielmehr ist es den Jugendlichen selbst überlassen, innovative Wege zu finden, um den Herausforderungen zu begegnen. So gründeten einige im Planspiel ein faires Label, während andere Gruppen zu einer Boykottaktion von billiger Kleidung aufriefen oder gar einen globalen Streik für bessere Arbeitsbedingungen in Bangladesch anzettelten. Im Anschluss an das Spiel gelang es den Konfis schnell, für sich selbst konkrete Handlungsoptionen abzuleiten: vom Upcycling alter Kleidung bis hin zu Petitionen oder Briefen an Verantwortliche in Politik und Modeindustrie. Ihren politischen Forderungen können die Konfis wiederum im Erstellen von Memes Ausdruck verleihen. Sogenannte Meme-Generatoren ermöglichen es, bekannte und weit verbreitete Bildmotive mit humorvollen Sprüchen zu gestalten. In den Sozialen Medien geteilt, erlauben sie den Konfis die kreative Kommunikation der eigenen Meinung, welche einen Diskurs anregen kann.

Unsere Welt gestalten

Der letzte Abschnitt des Heftes „Konfi-Arbeit grenzenlos“ widmet sich der dritten Kernkompetenz des Globalen Lernens und unterstützt Konfis dabei, selbst ins Handeln zu kommen. Vor allem die Herausforderungen im Rahmen des Klimawandels können bei Jugendlichen ein Gefühl der Ohnmacht auslösen. Konkrete Zukunftsvisionen einer besseren Welt wirken dem entgegen und schenken ihnen Orientierung und Halt. Diese Zukunftsvisionen können sie kreativ als VR-Welten9 gestalten. Dafür bemalen die Konfis grafische Vorlagen, die so gestaltet sind, dass sie sie anschließend mit Hilfe eines Smartphones in einer 360°-Panoramaansicht betrachten können. Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder zuvor auf der Internetseite Panoform.com hochgeladen wurden und anschließend auf dieser Seite vom Smartphone wiedergegeben werden.10 Besonders eindrücklich ist es, wenn das Gerät in eine aus einer Pizzaschachtel gebastelten VR-Brille gesteckt wird. So können die Konfis tatsächlich in ihre Visionen einsteigen, die der anderen ausprobieren und über Ideen und Konzepte in den Austausch kommen. Auch können die Visionen mehr Menschen zum Nachdenken anregen, wenn sie online veröffentlicht werden. 

Aus Karton gebastelte VR-Brille zum Betrachten selbst gestalteter virtueller Welten. 
© Miriam Meir | Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.

Das Gestalten einer eigenen Konfi-Webseite ist eine weitere Methode in dem Heft. Die Jugendlichen fassen ihre Erkenntnisse aus den Konfi-Stunden für ein breiteres Publikum in Worte und ergänzen die Texte durch passende Bilder. Gemeinsam mit den Verantwortlichen in der Konfi-Arbeit üben sie dabei einen korrekten Umgang mit Datenschutz und Urheberrecht und werden darin befähigt, auch nach der Konfi-Zeit ihre Gedanken und Ideen online mit der Welt zu teilen. Wenn sie darüber hinaus Lust haben, die Gemeinde zu einem nachhaltigeren Verhalten zu ermutigen, bietet sich die Gestaltung einer interaktiven Rallye mit der App ActionBound an. Hier recherchieren die Jugendlichen Informationen zu verschiedenen Aspekten des Umweltschutzes, überlegen sich knifflige Quiz-Fragen oder erstellen kreative Aufgaben. Als QR-Code in der Kirche oder den Gemeinderäumen ausgehängt, lädt die Rallye die Besuchenden fortan ein, sich die Räumlichkeiten mit den Hinweisen und Aufgaben der Konfis neu zu erschließen und dabei neue nachhaltige Verhaltensmuster kennenzulernen.

Doch auch individuelles Engagement für mehr Umweltschutz hat seine Grenzen. Das Berechnen des eigenen ökologischen Fußabdrucks kann Konfis zu der traurigen Erkenntnis führen, dass selbst dann, wenn sie sich mit allen Kräften um Nachhaltigkeit bemühen,  verschiedene Strukturen sie daran hindern. So sind Jugendliche auf dem Land häufig auf die Fahrt mit dem Auto oder Bus angewiesen oder vegane Ernährung lässt sich in der Schule nicht durchhalten, weil es in der Kantine nicht angeboten wird. Mit der Methode des ökologischen Handabdrucks lernen die Konfis, diesen Herausforderungen etwas entgegenzusetzen und strukturelle Änderungen zu bewirken.11 Während der ökologische Fußabdruck die eigene CO2-Bilanz widerspiegelt und vor allem durch die Änderung von Verhaltensmustern verkleinert werden kann, bezeichnet der ökologische Handabdruck das aktive Engagement für nachhaltigere Strukturen. Wer sich beispielsweise für Mitfahrgemeinschaften oder ein veganes Angebot in Schulkantinen stark macht, hilft letztlich nicht nur sich selbst, sondern auch vielen anderen Menschen, den ökologischen Fußabdruck etwas zu verkleinern. So führt ein großer Handabdruck zu immer kleineren Fußabdrücken.

Das Heft „Konfi-Arbeit grenzenlos“ steht auf der Internetseite der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt zum freien Download zur Verfügung.12 Einzelne Printexemplare können auf Anfrage von der Projektstelle „Konfis und die Eine Welt“ versandt werden.

Miriam Meir
Projektstelle „Konfis und die Eine Welt“
Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.
Schlossplatz 1d | 06886 Lutherstadt Wittenberg
Tel.: 03491 4988-48
| www.ev-akademie-wittenberg.de
Blog zur Projektstelle: www.junge-akademie-wittenberg.de/konfis-global


1 Als „Konfis“ werden in diesem Beitrag Konfirmandinnen und Konfirmanden der evangelischen Kirchen bezeichnet.

2 Meir, Miriam (2021): Konfis Global, https://ev-akademie-wittenberg.de/aktivitaeten/podcast-konfis-global/ (letzter Zugriff am 2.11.2021).

3 Vgl. Schrüfer, Gabriele/Brendel, Nina (2018): Globales Lernen im digitalen Zeitalter, in: Brendel, Nina et al. (Hrsg.): Globales Lernen im digitalen Zeitalter, Münster, S. 16–17.

4 Vgl. Schweitzer, Friedrich et al. (2015): Konfirmandenarbeit im Wandel – Neue Herausforderungen und Chancen, 1. Aufl. Gütersloh, S. 111.

5 Vgl. Brendel/Schrüfer (2018), a. a. O., S. 18.

6 Keßler, Hans-Ulrich/Steffen, Kai (2018): Didaktik und Konfi-Arbeit, in: Ebinger, Thomas et al. (Hrsg.): Handbuch Konfi-Arbeit, 2. Aufl. Gütersloh, S. 148.

7 Vgl. Brendel/Schrüfer (2018), a. a. O., S. 19.

8 Beispielhaft sind hier virtuelle Begegnungen im Rahmen des Programms CHAT der WELTEN, welches seit vielen Jahren Jugendgruppen aus Deutschland mit Gruppen aus dem Globalen Süden zusammenbringt und Austauschprojekte begleitet.

9 VR bedeutet „Virtual Reality“ oder „Virtuelle Realität“.

10 Von der Internetseite Panoform können die entsprechenden Vorlagen heruntergeladen werden. Eine Anmeldung ist dafür nicht nötig, und die Bilder werden auch nicht auf fremden Servern gespeichert: https://panoform.com/ (letzter Zugriff am 9.11.2021).

11 Dein Handabdruck, www.handabdruck.eu/ (letzter Zugriff am 9.11.2021).

12 Meir, Miriam (2021): Konfi-Arbeit grenzenlos. Digital aktiv in der Einen Welt,
https://ev-akademie-wittenberg.de/konfi-arbeit-grenzenlos/ (letzter Zugriff am 2.11.2021).

Suffizienz und Suffizienzpolitik

Gutes Leben für alle
Politische Handlungsempfehlungen für mehr Lebensqualität und Nachhaltigkeit

von Frauke Wiese1, Benjamin Best2, Carina Zell-Ziegler3, Johannes Thema4, Jonas Lage5, Luisa Cordroch6 und Bendix Vogel7


Basierend auf eigener Expertise, wissenschaftlichen Studien und Praxiswissen haben die Mitglieder der Nachwuchsforschungsgruppe EnSu8 im Oktober 2021 Empfehlungen an die Koalitionsverhandler*innen von SPD, Grünen und FDP gesendet. Die kurz und knackig formulierten Vorschläge – sektorübergreifend und für die Sektoren Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Industrie – adressieren bisher deutlich zu kurz gekommene Themen und geben Anregungen, wie Suffizienz in die Bundespolitik einbezogen werden kann. Ziel der Empfehlungen ist, sowohl die Lebensqualität in Deutschland zu steigern als auch die Nachhaltigkeitsziele wahrscheinlicher zu erreichen. Im Rahmen der fünfjährigen Arbeit der EnSu Nachwuchsforschungsgruppe sollen weitere konkrete Politikempfehlungen zum Thema Energiesuffizienz erarbeitet werden.

Sektorübergreifend

  • Beim Klimaziel muss vom Ziel her gedacht werden. Wenn 2045 bereits Klimaneutralitat erreicht werden soll: Welche Weichen müssen HEUTE gestellt werden, damit die Sektoren den Zielzustand erreichen?
  • Mindestens Ressourcen- und Flächenverbrauch, bestenfalls auch Biodiversität und andere planetare Grenzen müssen bei den Energiewende-Plänen bedacht werden. Nur solche Szenarien können langfristig erfolgreich sein.
  • In allen Sektoren werden positive Entwicklungen durch Effizienz und Erneuerbare teils ausgehebelt durch zusätzliche Nachfrage. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die eine absolute Reduktion der Energienachfrage ermöglichen. Die klimafreundliche und ressourcenschonende Verhaltensweise muss die attraktivere sein. Das trägt auch zur Erhöhung der Lebensqualität bei.
  • Die Erreichung der Klima- und anderer Ziele benötigt den gesamten politischen Werkzeugkoffer, ein hoher CO2-Preis und die Nutzung der Einnahmen daraus sind notwendig, aber nicht hinreichend. Infrastruktur, Bildung, F&E wirken langfristig und stark, werden aber nicht (ausreichend) durch einen hohen CO2-Preis angereizt.
  • Wir haben bereits heute das Wissen und die Technologien, um Klimaneutralität zu erreichen. Ein Verlass auf zukünftige Sprunginnovationen ist zu riskant.
  • Der Import von synthetischen Energieträgern ist keine „Silver Bullet“ für die Lösung unserer Energieprobleme. Da weltweit alle Länder Klimaneutralität erreichen müssen, ist es riskant bis illusorisch, auf größere Mengen Import zu setzen.
  • Unsere Sozial-, Gesundheits- und Finanzsysteme sind abhängig vom Wachstum der Wirtschaft. Das ist riskant und macht sie verletzlich u. a. gegenüber Ereignissen wie globalen Pandemien und Klimawandel-Auswirkungen. Es bedarf dringend der Untersuchung und Diskussion, wie unsere Steuer- und Sozialsysteme umstrukturiert werden können, um uns unabhängiger von einem steigenden BIP zu machen.

Gebäude

  • Wir benötigen Obergrenzen für Versiegelung von Fläche. Die Obergrenzen können mit einem Cap and Trade-System zwischen den Kommunen kombiniert werden, um die innovativsten und besten Lösungen für effiziente Flächennutzung zu fördern.
  • Wir brauchen Wohnqualität statt -quantität. Es bedarf verschiedener Instrumente, die ermöglichen, dass Menschen so wohnen können, wie es ihrer jeweiligen Lebenssituation entspricht. Dafür bedarf es bspw. Vorgaben für modulares/flexibles Bauen, Abbau von Barrieren für Umzug und Umnutzung und Schutz von bestehender Wohnfläche. So können Wohnraummangel und Flachenknappheit in Städten adressiert, die aktuell steigende Wohnfläche pro Kopf reduziert und die Wohnqualität erhöht werden.
  • Städte sollen klimafit gemacht werden: Grün in der Stadt, unversiegelte Fläche, minimaler Autoverkehr erhöhen die Lebensqualität, steigern die Klimaresilienz und reduzieren Emissionen.
  • Baumaterialien sind derzeit zu ressourcen- und energieintensiv. Die Barrieren für regenerative und recycelte Baustoffe müssen abgebaut werden. Baugenehmigungen sollen an die Energie- und Ressourcenintensität geknüpft werden und ein Recycling-Plan muss bereits bei der Baugenehmigung vorliegen.
  • Es bedarf einer Ausbildungsoffensive für das Arbeiten mit regenerativen und recycelten Baustoffen, die Sanierung sowie flexibles Bauen in Handwerk, Verwaltung und Planung.

Verkehr

  • Die Mobilität soll der Mittelpunkt der Verkehrspolitik sein, nicht das Auto.
  • Die Straßenverkehrsordnung muss es Kommunen ermöglichen, Mobilität menschenfreundlich zu gestalten: mehr gleichberechtigte Mobilität, weniger motorisierter Individualverkehr. Ein Bundesförderprogramm soll Parkplätze und Fahrstreifen reduzieren zugunsten von Rad- & Fußverkehr sowie Grün- und Freiflächen.
  • Eine umfassende Nahversorgungsstrategie (insb. ländlicher Raum) reduziert Wege und Weglängen. Eine Reduktion von Anreizen für lange Wege reduziert auch die Zersiedelung. Arbeitswege, die klimafreundlich zurückgelegt werden, sollen steuerlich bessergestellt sein.
  • Ein Moratorium für neue Autobahnen, Straßenausbau und Flughäfen verbunden mit massiver Förderung von Bahn, ÖPNV, Fahrrad- und Fußverkehr stellt wichtige Weichen für nachhaltige Mobilität und vermeidet langfristige Fehlinvestitionen.
  • ÖPNV soll attraktiver, verfügbarer und günstiger werden, das kann u. a. durch Abschaffung der Diesel-Subvention und aus der CO2-Bepreisung finanziert werden.

Industrie

  • Die Erhöhung der Langlebigkeit von Produkten durch verpflichtende Mindestgarantiezeit, Reparaturmöglichkeit, Ersatzteilverfügbarkeit und Reparatur-Serviceleistung von Produkten. Ein Langlebigkeits-Benchmarking nach dem top runner-Prinzip kann technologische Innovationen fördern.
  • Verzicht auf energie- und emissionsintensive Materialien und Produkte, Innovationen für alternative Materialien fördern, besonders wo alternative klimaneutrale Prozesse nicht möglich sind.
  • Kaskadennutzung von Materialien erhöht die CO2-Bindung und nutzt Ressourcen besser und länger. Innovationen in diesem Bereich können angeregt werden durch eine Verpflichtung, die hochwertigste Verwendungsform von Materialien zuerst zu nutzen sowie durch Förderung des Aufbaus nötiger Infrastruktur für Kaskadennutzung.
  • Repair-Cafés sollen öffentlich gefördert und Teil von öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken oder VHS sein.
  • Der Strukturwandel in der energieintensiven Industrie bedarf der Unterstützung in Form von Innovationsförderung und einer Ausbildungsoffensive.

Landwirtschaft

  • Die Obergrenzen für Vieheinheiten pro Fläche haben gleich mehrere positive Effekte: Biodiversität, Emissionsreduktion, Tierwohl, regionale Wertschöpfung, Regeneration von Boden, Landschaftsbild.
  • Stickstoffeffizienz – weniger, aber schlau düngen ist zentral, das spart Energie bei der Herstellung und ist gut für Boden und Gewässer bei gleichem Ertrag.
  • Das Wochenmenü in Mensen und Kantinen der öffentlichen Verwaltung und von Bildungseinrichtungen soll an die DGE-Empfehlungen angepasst werden. Der Anteil von Bioprodukten soll mindestens dem aktuellen Ziel für Ökolandbau entsprechen.

Ansprechpartnerin:
Dr. Frauke Wiese
Juniorprofessur Transformation der Energiesysteme
Abteilung Energie- und Umweltmanagement
Europa-Universität Flensburg
Auf dem Campus 1b | 24943 Flensburg
Tel.: 0461 805-3014
| www.uni-flensburg.de | www.energysufficiency.de


1 Frauke Wiese ist Juniorprofessorin im Bereich „Transformation der Energiesysteme“ in der Abteilung Energie- und Umweltmanagement der Europa-Universität Flensburg.

2 Dr. Benjamin Best ist Senior Researcher im Forschungsbereich „Strukturwandel und Innovation“ des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

3 Carina Zell-Ziegler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich „Energie & Klimaschutz“ des Oko-Institut e. V., Büro Berlin

4 Johannes Thema ist Researcher im Forschungsbereich „Energiepolitik“ des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

5 Jonas Lage ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert-Elias-Center der Europa-Universität Flensburg.

6 Luisa Cordroch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Energie- und Umwelt-management der Europa-Universität Flensburg.

7 Bendix Vogel ist Projektassistent in der Abteilung Energie- und Umweltmanagement der Europa-Universität Flensburg.

8 Die Nachwuchsforschungsgruppe „Die Rolle von Energiesuffizienz in Energiewende und Ge-sellschaft“ (EnSu) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb des Rahmenprogramms „Forschung für Nachhaltigkeit“ (FONA) gefördert. Sie ist eine interdisziplinäre Kooperation zwischen sozial-ökologischer Transformationsforschung, Sozialwissenschaften und ingenieurwissenschaftlicher Modellierung. https://energysufficiency.de/

Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Die Zeit ist jetzt – Auf dem Weg zur Klimaneutralität

Beschluss
der 13. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
auf ihrer 2. Tagung
zu
Die Zeit ist jetzt – Auf dem Weg zur Klimaneutralität
vom 10. November 2021


Die Synode sieht mit Sorge, dass sich nach neuesten Berechnungen des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) die Erderwärmung deutlich schneller vollzieht als bisher angenommen. Zugleich bleiben die globalen Anstrengungen bei der Reduktion von Treibhausgasen weit hinter den Zusagen des Pariser Klimaabkommens zurück.

Die Extremwetter der zurückliegenden Jahre haben auch in Deutschland das Bewusstsein für die katastrophalen Folgen des Klimawandels geschärft. Die Synode fühlt sich den Menschen in den betroffenen Regionen verbunden und dankt allen, die sich im Sommer mit praktischer Hilfe und seelsorgerlicher Begleitung engagiert haben.

Die Synode begrüßt, dass Bundesregierung und Parlament das Klimaschutzgesetz deutlich verbessert haben, und ermutigt die politisch Verantwortlichen, den Weg zur Klimaneutralität mit mutigen Entscheidungen weiter zu beschleunigen. Die Richtschnur dafür hat das Bundesverfassungsgesetz mit seinem historischen Urteil zum Klimaschutz gesetzt. Das grundrechtliche Prinzip, dass die Freiheit zukünftiger Generationen nicht durch heutige Unterlassungen elementar eingeschränkt werden darf, nimmt auch uns als Kirchen in die Pflicht.

Die Synode dankt allen, die sich in den Gemeinden und übergemeindlichen Gremien für Schöpfungsverantwortung und wirksame Schritte zur Reduzierung der Treibhausgase engagieren. Auch die Selbstverpflichtung der Diakonie Deutschland zur Klimaneutralität bis 2035 ist ein wichtiger Meilenstein.

Beachtliche Erfolge in einzelnen Landeskirchen, Kirchenkreisen und Gemeinden dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit den bisherigen Anstrengungen die gemeinsam beschlossenen Klimaziele der EKD insgesamt erheblich verfehlt wurden. Ein „Weiter so“ kann es deshalb nicht geben. Es braucht große zusätzliche Anstrengungen, vor allem aber verstärkte Formen der Kooperation und Verbindlichkeit, um den Rückstand aufzuholen und das unverzichtbare Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

Die Synode bittet den Rat der EKD, die Kirchenkonferenz, die Gliedkirchen und das Kirchenamt der EKD, bis zur 3. Tagung der Synode im November 2022 eine datenbasierte Roadmap für einen verbindlichen EKD-weiten Prozess zur Klimaneutralität bis 2035 zu erarbeiten. Eine solche Strategie sollte jährliche Etappenziele mit verbindlichen Überprüfungs- und Anpassungsmechanismen beinhalten und in den Instrumenten das gesamte Erfahrungswissen aus den Gliedkirchen und anderen gesellschaftlichen Bereichen zur Geltung bringen. Auch die Ausarbeitungen der Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST) (z. B. Treibhausgase und Klimaneutralität, November 2021) sind dabei einzubeziehen und ein geeigneter rechtlicher Rahmen soll gesucht werden.

Das Präsidium der Synode wird gebeten, in Absprache mit dem Ausschuss Kirche, Gesellschaft und Bewahrung der Schöpfung auf der 3. Tagung der Synode im November 2022 eine solche abgestimmte Klimastrategie zur Diskussion und Beschlussfassung vorzulegen.

Bremen, den 10. November 2021

Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland

Anna-Nicole Heinrich

Banking für eine bessere Welt1
EKD-Kammer legt Impulspapier für eine Reform der Finanzwirtschaft vor

von Stephan Kosch2


Geld ist eine Sache des Glaubens. Denn schließlich müssen bedrucktes Papier oder die Zahlenreihen auf der Kontenübersicht mit Vertrauen aufgeladen werden. Vertrauen darauf, dass damit tatsächlich reale Dinge im entsprechenden Gegenwert erworben werden können, und darauf, dass dieser Wert möglichst stabil bleibt. Doch was ist, wenn das Vertrauen brüchig wird, etwa durch Finanzkrisen oder Skandale wie Wirecard und betrügerische Cum-Ex-Geschäfte? Glauben und Zweifel sind ja wichtige kirchliche Themen. Gilt das aber auch für die Finanzwirtschaft? Ja, meint die Kammer für nachhaltige Entwicklung der Evangelischen Kirche in Deutschland: „Es ist nicht Aufgabe der Kirche, Finanz- und Steuerpolitik zu machen. Aber wo das Vertrauen in politische Gestaltungskraft und finanzwirtschaftliche Verantwortung erodiert ist, da wird die Kirche nicht schweigen.“

So steht es im neuesten Impulspapier der Kammer, das im Sommer 2021 veröffentlicht wurde. Wer sich nun darüber ärgert, dass Kirche sich mal wieder dem Zeitgeist anbiedert und sich politisch äußert, den verweisen die Autoren und Autorinnen des Papiers in einem ganzen Kapitel ausführlich auf die Historie der ethischen Aussagen zur Kreditwirtschaft. Sie ziehen den Bogen vom Alten Testament über die Kritik der Reformatoren am Wucherzins bis hin zu Papieren aus der kirchlichen Ökumene, der katholischen Kirche und der EKD aus den vergangenen Jahren. Und wem das immer noch nicht als Legitimation reicht, der sei darauf verwiesen, dass die kirchlichen Institutionen als zweitgrößter Arbeitgeber in Deutschland über Pensionen und andere Geldanlagen geschätzt einen zweistelligen Milliardenbetrag in den Finanzkreislauf einbringen. Und zu guter Letzt entscheidet natürlich jeder Mensch mit der Wahl seines Kontos und seiner Geldanlage auch darüber, wie sehr die Finanzwirtschaft dem sozialökologischen Umbau der Wirtschaft, der „Großen Transformation“, dient oder nicht.

Denn um nichts weniger geht es, erklärte der Kammervorsitzende Uwe Schneidewind, ehemals Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, bei der Vorstellung des Papieres: „Die Kammer spricht sich für eine sozial-ökologische Transformation der Finanzwirtschaft aus. Der Impulstext bietet eine evangelische Orientierung für die dafür benötigten Reformschritte.“ Und die sind zahlreich und weitreichend. Nachhaltige ökofaire Geldanlage von kirchlichen Geldern, etwa im FairWorldFonds, der vor gut zehn Jahren von „Brot für die Welt“ und dem „Südwind-Institut“ mitentwickelt wurde und mittlerweile rund 1,3 Milliarden Euro verwaltet. Ein solcher Schritt ist noch leicht umzusetzen, was den Erfolg nicht schmälern soll.

Komplizierter hingegen klingt die geforderte Überprüfung jedes Finanzprodukts auf seine Kompatibilität mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens und mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Das klingt zunächst schwer durchzuführen. Allerdings hat etwa die Evangelische Bank bereits ein Instrument entwickelt, mit dem jeder Kredit auf seine Klimawirkung hin überprüft wird. Es geht also, wenn man will.

An anderen Stellen ist der lange Atem der Diplomatie gefragt. Unter anderem wird in dem Papier eine international abgestimmte Steuerpolitik gefordert, die sogenannte Steuerparadiese verhindern und eine Mindestbesteuerung von global agierenden Konzernen sichern soll. Auch eine stärkere Regulierung und Kontrolle, etwa von Rating-Agenturen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, zur Vermeidung von Finanzskandalen steht auf der Liste. Eine Stärkung der Position von Entwicklungsländern in den internationalen Finanzorganisationen wie dem IWF, ein Schuldenerlass für die ärmsten Länder und auch der mehrfach angekündigte und noch immer nicht umgesetzte Klassiker „Finanztransaktionssteuer“ in möglichst strenger Form – alles das fordern die Kirchen nicht zum ersten Mal.

Der inhaltliche Überraschungseffekt des Papieres ist in der Tat gering, was aber nicht gegen die Reformvorschläge spricht. Es ist ja nicht so, dass niemand wüsste, wie es besser ginge. Es müsste halt nur gemacht werden. In den internationalen Diskurs soll das Papier ebenfalls in englischer Sprache eingebracht werden.

Wer sich als Laie an die nicht ganz unkomplizierte Materie wagen will, findet in dem Papier viele erklärende und rückblickende Passagen, die eine Einordnung erleichtern. Zudem wertvoll: Ein umfangreiches Glossar am Ende, das den Vorgang der Geldschöpfung ebenso verständlich erläutert wie die Hintergründe von Staatsverschuldungen, ethischer Geldanlage und internationaler Entwicklungsfinanzierung. Und das alles zum kostenlosen Download. Lohnt sich!

Stephan Kosch
Redakteur
zeitzeichen
Jebensstraße 3 | 10623 Berlin
Tel.: 030 31001-1300 | Fax: 030 31001-1800
| https://zeitzeichen.net

Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.):

Auf dem Weg zu einem nachhaltigen
und gerechten Finanzsystem

Eine evangelische Orientierung für
Reformschritte zur sozial-ökologischen 
Transformation der Finanzwirtschaft

Ein Impulspapier der Kammer der EKD
für nachhaltige Entwicklung

Juni 2021, 239 S.
Bestellung (4,30 Euro):
Download (kostenlos):
www.ekd.de/finanzsystem


1 Dieser Artikel erschien zunächst in ähnlicher Form in der Online-Ausgabe der Zeitschrift „zeitzeichen“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Redakteurs. 

2 Stephan Kosch ist Redakteur der Zeitschrift „zeitzeichen“ und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens.

Tagungsfrüchte

Zukunft angesichts der ökologischen Krise –
Theologie neu denken
Eine theologische Denkwerkstatt mit Buchprojekt

von Ruth Gütter


Die Corona-Krise als Auslöser für neue theologische Fragen

Seit Beginn des Jahres 2020 hält das Coronavirus die Welt in Atem. In nahezu allen Erdteilen hat es sich ausgebreitet und bereits unzählige Menschen infiziert und viele das Leben gekostet.

Es scheint so, als würde die Corona-Krise alle anderen Krisen der letzten Jahrzehnte (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, ökologische Krise) in den Schatten stellen. In der Tat war die Lage sehr ernst, und in vielen Teilen der Welt ist sie es immer noch, besonders dort, wo es weder genügend Impfstoff noch eine funktionierende Gesundheitsversorgung gibt. Die Krise hat darüber hinaus unabsehbare Auswirkungen auf das wirtschaftliche Leben, die politischen Systeme und das gesellschaftliche Miteinander. Die Welt, wie wir sie kennen, verändert sich rasant. Niemand weiß genau, wie lange der jetzige Zustand noch dauern wird und was danach kommt. Ob wir zu unserem alten „normalen“ Leben zurückkehren werden, ist ungewiss. Zu fragen ist auch, ob das gut wäre.

Dieses hohe Maß an Unsicherheit und Ungewissheit weckt kollektive wie persönliche, ökonomische wie existentielle Ängste. Manche Menschen bewegen dabei auch ganz grundlegende und religiöse Fragen: Woher kommt dieses Virus? Warum trifft es uns jetzt? Gibt es einen Zusammenhang zu anderen Krisen? 

„Die Natur schlägt zurück!“, „Das Virus weist uns in unsere Schranken“, „Es zwingt uns zur radikalen Umkehr“– solche Sätze aus persönlichen Gesprächen, Leserbriefen und Einträgen in Blogs zeigen, dass viele Menschen nach dem Sinn dieser Krise fragen und dabei auch Zusammenhänge mit anderen Krisen – vor allem der ökologischen Krise – vermuten. Auch Stimmen aus den Naturwissenschaften, der Zukunftsforschung und den Politik- und Sozialwissenschaften haben von Anfang an einen Zusammenhang zwischen der Corona-Krise, der ökologischen Krise und mangelnder Nachhaltigkeit hergestellt, wenn auch keine einfachen monokausalen Ableitungen.

Die Lektüre dieser Beiträge hat mich motiviert, schon im Mai 2020 einen Artikel über diese Zusammenhänge zu verfassen und ihn unter der Überschrift „Das Coronavirus als Weckruf? Die Coronakrise und die ökologische Krise als Anfrage an den christlichen Glauben und die Theologie“ zu veröffentlichen.1

Danach bekam ich so viele Rückmeldungen, dass ich im Sommer 2020 begonnen habe, zu digitalen Diskussionsrunden einzuladen und weitere Artikel auf meiner Internetseite zu sammeln.2

In diesen digitalen Diskussionsrunden wurde schnell deutlich, dass es in der akademischen Theologie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht nur eine schmerzliche Lücke im Blick auf die theologische Reflexion der Corona-Krise wie auch der ökologischen Krise gibt,3 sondern dass in einigen Beiträgen aus der akademischen Theologie Ansätze einer ökologischen Theologie sogar als „religiöser Schöpfungskitsch“ abgetan werden.4

Aus diesem Problembefund entstand der Wunsch, zu einer Art theologischen Denkwerkstatt einzuladen, in der Theologinnen und Theologen ihre Gedanken zur Diskussion stellen können, wie eine Theologie, die angemessen auf diese aktuellen ökologischen Krisen eingeht, eigentlich aussehen müsste.

Die Tagung

Vom 7. bis 9. Juni 2021 fand – leider pandemiebedingt nur digital – dann eine solche theologische Denkwerkstatt in Form einer Tagung mit etwa 80 Teilnehmenden statt. Veranstalter waren die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt, die Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen, die Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der EKD, die Arbeitsstelle Diakonie und Bildung/Hamburg Ost und die Evangelische Kirche in Deutschland.

Die zentralen Fragestellungen lauteten: Stimmen unsere Bilder und Narrative von Gott, vom Menschen, von der Mitschöpfung noch? Muss das Verhältnis des Menschen zur Mitschöpfung, das Verständnis von Sünde und Erlösung neu gedacht werden? Welche Beiträge können alte und neue theologische Vorstellungen leisten, um die Gegenwart so zu mitzugestalten, dass eine gute Zukunft für alles Leben möglich ist? 

Nach einer „Zeitansage“ durch einen eindrücklichen naturwissenschaftlichen Vortrag von Professor Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, folgten – verteilt über drei Tage – zehn theologische Beiträge zu den drei Überschriften „Krisen als Zeiten der theologischen Reformation“, „Theologie neu denken“ sowie „Zukunft aus Glauben gestalten“. In Arbeitsgruppen wurde darüber nachgedacht, welche theologischen Narrative angesichts der aktuellen Krisen neu überdacht werden sollten und was es gilt, neu zu denken.

Diskussionspunkte

Besonders stark wurde das Narrativ „Die Schöpfung bewahren“ diskutiert. Dieses erschien vielen als theologisch nicht mehr vertretbar, da es Mensch und Schöpfung in einen falschen Gegensatz stelle und auch einen Anthropozentrismus vertrete, der angesichts der ökologischen Krise hinterfragt werden müsse, so Constantin Gröhn, Theologischer Referent für Diakonie und Bildung im Kirchenkreis Hamburg-Ost. Nicht der Mensch als Krone der Schöpfung entspreche dem biblischen Zeugnis, sondern der Mensch als Mitgeschöpf, der seine Verbundenheit mit allen Lebewesen und seine Angewiesenheit auf die anderen Geschöpfe neu erkennen und sich in eine neue „kosmische Demut“ (Moltmann) einüben müsse.

Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass ethische Zurückhaltung ebenfalls keine christlich verantwortbare Alternative darstellt, sondern der Mensch „zum Handeln verdammt“ sei (Wolfgang Lucht, Potsdam-Institut), wenn schlimmere Folgen seiner Übertretungen der plantaren Grenzen verhindert werden sollen. Verantwortung gegenüber Gott, seinem Nächsten und der Mitschöpfung sei das, was den Menschen ausmache. Diese könne er an niemanden delegieren. Der Anthropozentrismus der menschlichen Eigeninteressen müsse von einem Anthropozentrismus der Verantwortung abgelöst werden, betonte Georg Hofmeister, Geschäftsführer der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen.

Bemerkenswert war, dass viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer trotz der aktuellen Krisen keineswegs ein pessimistisches Menschenbild vertraten, sondern die Notwendigkeit sahen, dass die Kirchen weiter zur Umkehr rufen und diese Umkehr selbst auch praktizieren müssen. Das eher positive Menschenbild wurde z. B. deutlich im Beitrag von Sarah Köhler von der Ökumenischen Arbeitsstelle Anthropozän des Ökumenischen Prozesses „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“. Sie beschrieb anhand des Menschenbilds der Weisheit den Menschen als durchaus lern -und entwicklungsfähig. Maximilian von Seckendorff, Promotionsstudent am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik der Ludwig-Maximilians-Universität München, bezeichnete den Menschen in seinem Vortrag als „Mitschöpfer, Weltgärtner und Erdsystemmanager“, was jedoch auch kontrovers diskutiert wurde.

Nicht nur zum Menschenbild, auch zum Gottesbild gab es interessante Beiträge. Etwa aus der alttestamentlichen Theologie. Professorin Klara Butting, Leiterin des Zentrums für biblische Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung an der Woltersburger Mühle, akzentuierte, dass der Gott Israels ein Gott sei, der die Logik der Gewalt bestreitet und das Recht aufrichtet. Gott sei nicht in erster Linie als ein allmächtiger Gott zu verstehen, sondern als ein Gott der Beziehung, der mit seiner Schöpfung mitleidet und den Menschen für sein Schöpfungshandeln und sein Erlösungshandeln braucht. 

Schöpfung sei kein Geschehen, das sich nur auf die Anfänge des Lebens beziehe, sondern beschreibe das fortwährende Handeln Gottes. Schöpfungsglaube sei keine Weltentstehungstheorie, sondern ein Bekenntnis zu dem Gott, der die Fülle des Lebens für alle wolle. Mit der Auferstehung Jesu beginne Gott das Werk seiner Neuschöpfung – so die Beiträge zur Christologie und Eschatologie. Dieses Werk umfasse auch die nichtmenschliche Schöpfung. Christoph Maier, Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, betonte, dass das „Menschenkind“ Jesus Christus die Heilserwartungen nicht als ein strahlender Held erfülle, sondern sie zurückgebe an seine Nachfolger. Wolfgang Schürger, Privatdozent an der Augustana-Hochschule Neuendet-telsau, akzentuierte, in Christus zeige sich der Gott, der die Erde nicht vernichten, sondern erlösen und verwandeln wolle. Apokalyptische Zeiten seien nach biblischem Zeugnis deshalb keine Untergangszeiten, sondern Hoffnungszeiten, in denen Menschen ermutigt werden, nicht aufzugeben.

Ausblick

Neben diesen spannenden Diskussionsgängen durch fast alle Topoi der Theologie hat mich besonders die Vielfalt von Perspektiven (Profession, Alter, Konfession) und die große Diskussionsfreudigkeit unter den Teilnehmenden gefreut. 20 Prozent der Teilnehmenden waren jünger als 40 Jahre, 40 Prozent zwischen 40 und 60 Jahre alt und 20 Prozent älter als 60 Jahre. Etwa zwei Drittel der Teilnehmenden waren Theolog*innen, etwa ein Drittel theologisch interessierte Laien. Die große Mehrheit war evangelisch, aber es gab auch einige Teilnehmende aus der römisch-katholischen Kirche und den Freikirchen. Das alles hat die Diskussion enorm bereichert. Obwohl die Tagung drei Tage dauerte – was für eine digitale Tagung sehr lang ist –, wurde sie von vielen als kurzweilig und anregend empfunden. Die Zeit reichte nicht, um alles ansprechen oder gar ausdiskutieren zu können. 

Die Veranstalter haben angekündigt, die zehn Beiträge der Tagung im Frühjahr 2022 in Form eines theologischen Sammelbandes bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig zu veröffentlichen. Hinzu kommen sieben weitere Beiträge aus der Runde der Teilnehmenden, die im Anschluss an die Tagung die Veranstalter erreichten. Die Diskussion zu einer neuen Theologie, die die ökologische Krise der Gegenwart reflektiert und Mut macht zur Zukunft, ist also noch lange nicht zu Ende, sondern hat gerade erst begonnen – und das ist gut so.

OKR Dr. Ruth Gütter
Referentin für Fragen der Nachhaltigkeit
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
Abteilung: 31 – Öffentliche Verantwortung | Referat: 316 – Nachhaltigkeit
Herrenhäuser Straße 12 | 30419 Hannover
Tel.: 0511 2796-8387


1 Ruth Gütter: Das Coronavirus als Weckruf? Die Coronakrise und die ökologische Krise als Anfrage an den christlichen Glauben und die Theologie, Deutsches Pfarrerblatt 5/2020, S. 286–291 

2 www.ekd.de/coronakrise-oekologische-krise-und-nachhaltigkeit/

3 Elisabeth Gräb-Schmidt: Umweltethik, in: Wolfgang Huber, Thorsten Meireis, Hans-Richard Reuter: Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, S. 660

4 Günter Thomas: Theologie im Schatten der Coronakrise, Bochum 18.3.2020,
https://zeitzeichen.net/node/8206.

Abrissreif oder noch sanierbar?1
Das „gemeinsame Haus“ sechs Jahre nach Laudato si‘


Seit den 1970er Jahren sind Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zentrale Anliegen des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mit seiner 2015 herausgegebenen Enzyklika Laudato si‘ stellte Papst Franziskus diese Themen erstmals in den Mittelpunkt eines päpstlichen Sendschreibens. Entsprechend groß war die Resonanz. Doch was hat „Laudato si‘“ bewirkt, im Raum der Kirchen und in der Gesellschaft? In welchem Zustand sind die Erde – das „gemeinsame Haus“ – und die Menschheit heute? Was bleibt zu tun? Darüber wurde in einer Online-Tagung am 26. Juni 2021 mit Gesprächspartnerinnen und -partnern aus Wissenschaft, Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft diskutiert. Niklas Wagner, Jörg Göpfert und Kathrin Natho haben die wichtigsten Früchte der Tagung entlang den Vorträgen und Diskussionen zusammengetragen.


Schlafwandeln in der Katastrophe!?
Das Weltklima sechs Jahre nach Laudato si‘

von Niklas Wagner


Zu Beginn der Tagung referierte Dieter Gerten, Professor für „Klimasystem und Wasserhaushalt im Globalen Wandel“ am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Forschergruppenleiter und Koordinator für Erdmodellierung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Er skizzierte die Entwicklungen des Weltklimas seit dem Erscheinen der Enzyklika Laudato si‘ im Jahr 2015. Dieses Jahr sei ihm zufolge ein „Jahr der Hoffnung“ gewesen, weil nicht nur die Enzyklika von Papst Franziskus erschienen sei, sondern die Vereinten Nationen die Agenda 2030, die globalen Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) vereinbart hätten und das Pariser Klimaabkommen. Damit allerdings kontrastiere die derzeitige Entwicklung des Klimas, die auf 1,9 bis 3,0 Grad Celsius hinauslaufe – trotz der Verpflichtung aller Staaten, die Erderwärmung „deutlich unter 2 Grad“ zu halten und Anstrengungen zu ihrer Begrenzung auf 1,5 Grad zu unternehmen.

Der Blick auf die globale Temperatur seit der letzten Eiszeit (etwa 20.000 v. Chr.) zeige einen Anstieg von 1,2 Grad allein in den letzten 100 Jahren, so Gerten. Dem entspreche auch, dass immer mehr Monate und somit auch ganze Jahre höhere Durchschnittstemperaturen als den langjährigen Mittelwert aufwiesen. Zugleich trete zunehmend Trockenheit als Problem auf: Die Folgen des Jahres 2018, des trockensten Jahres seit Beginn der Aufzeichnungen, seien bis heute nicht überwunden. Dies zeige sich auch darin, dass mittlerweile Regionen überall in Deutschland von Trockenheit betroffen seien. Ähnliches ergebe der Blick auf Dürren und Waldbrände. Gleichzeitig träten Wetterextreme häufiger nebeneinander auf, wie Gerten mit Verweis auf die auf Deutschland bezogene Schlagzeile „Starkregen im Westen, Waldbrände im Osten“ verdeutlichte.

Eine weitere unmittelbare Folge des Klimawandels für den Menschen sah Gerten in der Zunahme der Hitzetoten. Im Zeitraum von 1991 bis 2018 seien 37 Prozent aller weltweiten Todesfälle infolge von Hitze auf den Klimawandel zurückzuführen. Die Covid-19-Pandemie habe einigen Einschätzungen aus dem Jahr 2020 zufolge eine Erholung für das Klima mit sich gebracht. Gerten bestätigte, dass die CO2-Emissionen 2020 um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen seien, unterstrich aber auch, dass im Jahr 2020 trotzdem die höchste je gemessene Konzentration an CO2 in der Atmosphäre erreicht worden sei. Immerhin, so Gerten, seien mittlerweile Phänomene wie Extremwetter, Waldbrände, die Zerstörung der Natur und der Klimawandel stärker im Bewusstsein der Menschen verankert. So hätten im Risiko-Index der Süddeutschen Zeitung, in dem die Bevölkerung Deutschlands das Risiko für verschiedene Faktoren – neben den oben genannten etwa Terrorismus, Cyberattacken und Rassismus – einschätzen solle, zwei Drittel der Befragten die oben genannten Phänomene benannt. Somit lägen sie an der Spitze des Rankings.

Seit dem Erscheinen von Laudato si‘ hat es Gerten zufolge im kirchlichen Raum neue Aktivitäten im Hinblick auf den Klimawandel gegeben. Er nannte u. a. Veranstaltungen des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen2, Forschungsprojekte an den päpstlichen Universitäten sowie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Forschungen zum „Greening of religions“. Gesamtgesellschaftlich verwies Gerten auf die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA und den durch ihn vollzogenen Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen, aber auch auf das Entstehen der Bewegung „Fridays for Future“ und den Green Deal der EU sowie die anstehende UN-Klimakonferenz in Glasgow.

Als Hoffnungszeichen wertete Gerten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge das deutsche Klimaschutzgesetz in Teilen verfassungswidrig sei, da der Staat gemäß dem Vorsorgeprinzip verpflichtet sei, künftige Generationen vor dem Klimawandel zu schützen und Lasten nicht unnötig auf kommende Generationen zu verschieben. Daraufhin habe Deutschland neue, im Vergleich zu den vorigen etwas ambitioniertere Klimaziele ausgerufen. Allerdings sei auch mit diesen das 1,5-Grad-Ziel nicht zu erreichen. Hierfür müssten bis 2030 mehr als 68 Prozent der Emissionen (im Vergleich zu 1990) eingespart werden. Gerten verwies auch auf das Urteil eines australischen Gerichts, das mit einer vergleichbaren Argumentation die Genehmigung einer Kohlemine widerrufen habe.

In Anlehnung an einen Tweet von Papst Franziskus erinnerte Gerten daran, dass der Klimawandel nicht nur Schäden an der Biodiversität und den Verlust ökologischer Funktionen hervorrufe, sondern auch globale Gemeinschaftsgüter bedrohe. Gemeint seien natürliche Ressourcen, deren nachhaltige Nutzung weltweite Kooperation benötige. Wie sehr hier allerdings konträre Positionen aufeinandertreffen, verdeutlichte er am Disput zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro: Ersterer habe das Amazonasgebiet als „unser Gemeingut“ bezeichnet, wogegen letzterer die dortige – auch illegale – Abholzung als „innere Angelegenheit Brasiliens“ betrachte.

Gertens Resümee lautete: Der Klimawandel schreite weiter gefährlich voran, und die Massierung an beobachtbaren Klimafolgen sei als Weckruf zu verstehen. In Politik, Industrie und Gesellschaft seien einige gute Entwicklungen zu sehen, dennoch müsse man das aktuelle Jahrzehnt als Bewährungsprobe betrachten, in dem sich zeigen werde, ob Worten auch Taten folgten. Notwendig sei eine positive Zukunftsvision der Erde als gemeinsames Haus, schloss Gerten und schlug damit den Bogen zum Untertitel der Enzyklika Laudato si‘ – „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“.


Laudato si‘ – mehr als ein Weckruf?
Stimmen aus Politik, Theologie und Wirtschaft

von Jörg Göpfert


Im zweiten Teil der Tagung kamen Stimmen aus Politik, Theologie und Wirtschaft zu Wort. Wie wurde in diesen Bereichen die Enzyklika Laudato si‘ wahrgenommen, welche Impulse gingen von ihr aus, und was ist jetzt zu tun, um das „gemeinsame Haus“ als gedeihlichen Lebensraum für Mensch und Natur zu erhalten?

Die Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke, Parlamentarische Geschäftsführerin und Naturschutzpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, hob zwei Aspekte hervor. „Ich fand bemerkenswert, dass diese Enzyklika – unmittelbar vor dem Pariser Klima-Gipfel 2015 – gemeinsam mit der Wissenschaft veröffentlicht wurde“, sagte sie. Das sei ein „sehr bedeutsames Zeichen gewesen“. Ebenso bemerkenswert fand sie, dass sich Papst Franziskus mit seiner Botschaft „nicht nur an die Christenheit, sondern an alle Menschen, auch an politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger gewandt hat“. Beides habe eine „enorme Wirkung“ gehabt, vor allem im Vorfeld des Pariser Klimagipfels. „Ich bin mir nicht sicher, ob das Abkommen ohne Laudato si‘ so zustande gekommen wäre“, sagte Lemke. 

Nach dem Pariser Abkommen habe es aber „ein gewisses Zurücklehnen“ gegeben. Das politische Engagement sei erlahmt in der Annahme, alles sei auf einem guten Weg. Die Folge sei gewesen, dass sämtliche im Pariser Abkommen gesetzten Ziele bisher verfehlt worden seien, kritisierte Lemke. Hier hätte sie auch mehr „Gegenwehr von kirchlicher Seite“ erwartet. Was dringend benötigt würde, sei der Beschluss konkreter Klimaschutzmaßnahmen. Dies sei selbst bei der Überarbeitung des neuen Klimaschutzgesetzes versäumt worden. Die Minderungsziele für Kohlendioxidemissionen zu verschärfen, nütze wenig, wenn keine „Maßnahmenuntersetzung“ erfolge. Lemke lobte zwar den Kohleausstieg, der weltweit einzigartig sei, kritisierte aber, dass etwa die neu eingeführten Preise für Kohlendioxidemissionen viel zu niedrig seien.

Vieles sei in Gang gekommen, sagte Lemke, aber die Botschaft von Papst Franziskus ziele auf weitaus tiefergreifende Veränderungen. Lemke zitierte: „Es genügt nicht, die Pflege der Natur mit dem finanziellen Ertrag oder die Bewahrung der Umwelt mit dem Fortschritt in einem Mittelweg zu vereinbaren. In diesem Zusammenhang sind die Mittelwege nur eine kleine Verzögerung des Zusammenbruchs.“ Gegenwärtig, so Lemke, seien wir auf dem Mittelweg. Beim Klimawandel stünden gravierende Veränderungen unmittelbar bevor, „aber im Bereich des Biodiversitätsverlustes haben wir die planetaren Grenzen längst überschritten“. Es sei dringend an der Zeit, die Aufmerksamkeit auch auf das Artensterben zu richten und die Zusammenhänge zwischen Klimawandel, Artensterben, Hunger und daraus folgenden Migrations- und Fluchtbewegungen deutlich zu machen und international gemeinsam zu bearbeiten. Auch in dieser Hinsicht habe sie die Enzyklika „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ als sehr hilfreich und inspirierend wahrgenommen, weil in ihr Ökologie, Wirtschaft, Soziales und Frieden gemeinsam bedacht würden.

Wie wichtig das sei, illustrierte Lemke am Beispiel des Holzmarktes. Holz sei ein Hoffnungsträger des Klimaschutzes, weil es Kohlendioxid speichere. Aber der globale Holzmarkt sei „naturzerstörend, unkontrolliert und teilweise kriminell“. Wenn sich der Deutsche Bundestag in der nächsten Legislaturperiode mit der Umsetzung der Klimaschutzziele befasse und die komplexen Zusammenhänge dabei nicht berücksichtige, dann würde zur Mitte des Jahrzehnts die Bilanz zu ziehen sein: „Wir sind auf dem Mittelweg, der laut Papst Franziskus ins Verderben führt“.

Der Theologe Professor Dietrich Werner, Grundsatzreferent für Theologie und Ökumene bei der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt, beleuchtete die Reaktionen auf die Enzyklika Laudato si‘ in der weltweiten Ökumene. Seinem Eindruck nach sei diese Enzyklika ein „extrem wichtiger Beitrag zu einer theologischen Begründung einer ganzheitlichen Ökologie“. Sie sei – wie Christoph Bals von der Nichtregierungsorganisation Germanwatch geschrieben habe – ein „Weckruf zur Umkehr vom suizidalen Kurs der Menschheit und eine gelungene Provokation im Blick auf eine neue Debatte über die Wegwerfkultur unserer westlichen Zivilisation“. Dem Papst sei es wichtig, so Werner, die kulturelle Dimension der Umweltkrise zu betonen. Es gehe nicht nur um politische, ökonomische und soziale Veränderungen, sondern auch um „einen fundamentalen Werte-, Orientierungs- und Mentalitätswandel“. Deshalb sei Laudato si‘ nicht in erster Linie eine politische, sondern eine spirituelle Schrift. Dadurch, dass sie Stimmen aus den Naturwissenschaften, aber auch der Ökumene – etwa den orthodoxen Kirchen – einbeziehe, sei sie ein wichtiges Signal. Ihre globale Ausrichtung käme auch darin zum Ausdruck, dass sie in acht Sprachen erschienen und mittlerweile in mindestens fünfzehn Sprachen verfügbar sei, auch in Arabisch.

Zu den markanten Kernthesen des Papstes gehöre auch, dass ein alternatives Verständnis von Wirtschaft und Fortschritt nötig sei. Die Aussage „die Klage der Armen ist ebenso zu hören wie die Klage der Erde“ lasse klare Bezüge zur Befreiungstheologie Leonardo Boffs erkennen. Auch die wichtige Rolle des Rechts werde herausgestellt: „Die Menschheit steht vor der Aufgabe, ein internationales Umweltrecht zu entwickeln, das den Schutz der ökologischen Gemeingüter gewährleistet und einer Privilegierung von Sonderinteressen einzelner Länder entgegentritt.“ Damit habe Franziskus einen wichtigen Beitrag zum weltweiten Dialog über ein „erd-zentriertes Recht“ auf Ebene der Vereinten Nationen geleistet, der hierzulande noch viel zu wenig wahrgenommen werde. Theologisch bedeutsam sei in diesem Zusammenhang, dass der Papst die Tradition des „dominium terrae“, also des vermeintlichen Herrschaftsauftrages des Menschen über die Erde, revidiert habe. Die Aufgabe des Menschen, die Erde zu bebauen und zu bewahren, sei vielmehr als „verantwortungsvolle Wechselseitigkeit“ zu verstehen. Im Kern sei die Enzyklika eine Kritik des „jahrhundertealten anthropozentrischen Reduktionismus“ und der Fehldeutung von Technologie als Instrument allein der Herrschaft über die Natur. 

Innerhalb der Katholischen Kirche sei Laudato si‘ eine wichtige Programmschrift für das Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. In diesem Zusammenhang sei es wichtig, daran zu erinnern, dass der Vatikan als Staat auch einen Sitz bei den Vereinten Nationen habe. Bei regionalen Bischofskonferenzen in Lateinamerika – etwa der Amazonas-Synode –, aber auch in Afrika und Asien habe Laudato si‘ eine extrem wichtige Wirkung gehabt. Sie strahle auch auf die Päpstliche Akademie der Wissenschaften aus, von der immer wieder wichtige Impulse für den weltweiten wissenschaftlichen Diskurs ausgingen, etwa zu Nachhaltigkeitsstrategien für Städte oder zur Transformation des internationalen Finanzsystems. Und nicht zuletzt gebe es inzwischen einen „Laudato si‘ Global Action Plan“, der für alle Handlungsebenen im römischen Katholizismus Umsetzungsschritte formuliere.

Außerhalb der Katholischen Kirche habe es in den Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland eine große Resonanz gegeben, ebenso in ökumenischen Netzwerken wie dem Ökumenischen Prozess „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“ oder dem Ökumenischen Netzwerk für Klimagerechtigkeit. In der weltweiten Ökumene seien die Impulse des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel durch Lautato si‘ verstärkt worden, insbesondere die Aktion „Schöpfungszeit“, durch die das Anliegen der Schöpfungsbewahrung in den Kirchengemeinden in jedem September stärker bedacht werden solle. Auch die Wuppertal-Konferenz 2019 sei eine direkte Reaktion auf die Enzyklika von Papst Franziskus gewesen, verbunden mit dem Aufruf zu einer Dekade für Ökologie und Nachhaltigkeit von 2022 bis 2032.

Erwähnenswert sei auch, dass Laudato si‘ – nicht zufällig am ersten Tag des Ramadans veröffentlicht – von wichtigen islamischen Gelehrten als „ein Eckstein für eine neue Allianz von Christen und Muslimen“ gesehen werde, „um ein neues Paradigma zu entwickeln für die Beziehung der Menschheit zur Natur“. Und schließlich habe auch „Religions for Peace“, die Weltplattform für interreligiösen Dialog, auf ihrer letzten Konferenz Laudato si‘ als wichtigstes Hintergrunddokument gewürdigt.

Am Ende seines Vortrags machte Dietrich Werner auf einen Schwachpunkt sowohl der evangelischen Theologie als auch der päpstlichen Enzyklika aufmerksam: Es fehle nach wie vor eine hinreichende Reflexion des Wachstumsbegriffs, insbesondere fehlten Indikatoren für ein menschenwürdiges und naturverträgliches Wachstum, die politisch Geltung finden könnten. Daran sollten die evangelischen und katholischen Kirchen verstärkt gemeinsam Arbeiten, auch im Hinblick auf die Fortschreibung der Agenda 2030 auf UN-Ebene.

Die Perspektive der Wirtschaft brachte Dr. Florian Reißmann in die Tagung ein. Er ist Geschäftsführer der Landesgruppe Mitteldeutschland (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW) und Geschäftsführer des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e. V. – Technisch-wissenschaftlicher Verein (DVGW). Reißmann wies zunächst daraufhin, dass der BDEW nur einen Ausschnitt des wirtschaftlichen Geschehens repräsentiere, aber einen für den Klimaschutz durchaus relevanten. Immerhin seien 90 Prozent aller Unternehmen in Deutschland, die Strom und Gas verkauften, im BDEW zusammengeschlossen.

Für die Energie- und Wasserwirtschaft seien drei Faktoren handlungsleitend: Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und Versorgungssicherheit. Dies mache zugleich das Spannungsfeld deutlich, in dem sich der BDEW bewege und in dem es gelte, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Auf EU-Ebene sei dazu mit dem „Green Deal“, auf deutscher Ebene mit dem Klimaschutzgesetz und dem Kohleausstieg der politische Rahmen gesetzt worden. Was aber fehle, sei die Beschreibung eines konkreten Weges, wie das Ziel der Klimaneutralität erreicht werden solle. Überdies fehle oft der geeignete gesetzlicher Rahmen. Ein Beispiel seien die gesetzlichen Abstandsregeln bei Windkraftanlagen, die den Ersatz alter Anlagen durch stärkere und höhere neue unmöglich machten.

Unumstritten sei, dass der Energiemarkt 2030 vorrangig aus erneuerbaren Energien bestehen werde. Diese müssten dazu aus BDEW-Sicht auf 70 Prozent ausgebaut werden. Dazu gebe ein klares Bekenntnis des Verbandes. Dieser Ausbau müsse aber versorgungssicher und wirtschaftlich erfolgen, was auch für andere Bereiche – etwa den öffentlichen Nahverkehr – wichtig sei. Dieser nämlich profitiere über den steuerlichen Querverbund im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs von den Gewinnen aus der kommunalen Energieversorgung.

Um die Versorgung mit erneuerbarem Strom sicherstellen zu können, müssten dringend die Netze ausgebaut werden, sinnvollerweise auch unter Berücksichtigung der Gasnetze. Das sei eine Aufgabe für Jahrzehnte und bis 2045 – dem Jahr, in dem Klimaneutralität erreicht werden solle – kaum zu schaffen. Hinzu komme, dass die Energiewende nicht nur eine Stromwende, sondern auch eine Verkehrs- und Wärmewende bedeute. Der Ausbau der Elektromobilität wirke aber wiederum auf den Ausbau der Netze – Stichwort Ladeinfrastruktur – und die Produktion von erneuerbarem Strom zurück. In all diesen Bereichen seien enorme Investitionen nötig.

Mehr als die Hälfte des Verbrauchs fossiler Energieträger in Deutschland finde zudem im Industriebereich statt. Dieser lasse sich nicht ohne Weiteres durch Strom ersetzen, insbesondere in der chemischen Industrie. Man setze deshalb auf „grünen Wasserstoff“, der mit Hilfe von erneuerbarem Strom per Elektrolyse aus Wasser hergestellt werden würde. Bereits heute könne Wasserstoff in die Gasnetze eingespeist werden, und zwar bis zu 20 Prozent. Wichtig sei diese Option auch für das Beheizen von Gebäuden, das bereits heute zu mehr als 50 Prozent mit Erdgas erfolge. Alle Heizungen auf elektrisch betriebene Wärmepumpen umzustellen, sei aus Sicht des BDEW nicht sozialverträglich, da zu teuer.

Damit der erforderliche massive Ausbau der erneuerbaren Energien möglich werde und nicht allein zu Lasten des Naturschutzes gehe, müssten sich andere Akteure am Markt bewegen, sagte Reißmann – auch im Blick auf die Kirchen. Als in kirchlichen Gremien Engagierter mache er immer wieder die Erfahrung, dass es äußerst schwierig sei, eine Kirchengemeinde dazu zu bewegen, eine Photovoltaikanlage in ihr Gebäude oder ihre Liegenschaft zu integrieren.

Mit Blick auf den Kohleausstieg und die Frage der Arbeitsplätze äußerte sich Reißmann optimistisch. Der „Green Deal“ der Europäischen Union sei ein Konjunkturmotor, denn er werde Investitionen von etwa 320 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030 zur Folge haben. Diese würden mindestens zu einem Drittel der regionalen Wirtschaft zugutekommen und etwa 450.000 Arbeitsplätze schaffen oder sichern. „Deshalb sollten wir die Energiewende als Chance be- und ergreifen“, sagte Reißmann.

Die Frage, ob das Bekenntnis der Energiewirtschaft zur Energiewende und zur Klimaneutralität auch eine Folge der Enzyklika Laudato si‘ sei, konnte Reißmann nicht beantworten. Seiner Erfahrung nach könnten solche Impulse auf der individuellen Ebene zwar motivierend sein, sie würden aber nicht nach außen kommuniziert. Seiner Ansicht nach sollten Kirchen den Unternehmen nicht vorschreiben, wie sie konkret zu agieren hätten, aber sie sollten ihren Einfluss geltend machen, die Entwicklung in die richtige Richtung zu lenken.

In der Diskussion zu den Impulsvorträgen wurde kritisch angemerkt, dass beim Aspekt der Wirtschaftlichkeit die Frage der Gewinnverwendung unzureichend oder gar nicht beleuchtet werde. Neben den Chancen der Energiewende müsse ihr Ziel noch deutlicher gemacht werden. Es könne nicht darum gehen, die heutige Lebens- und Wirtschaftsweise auf dem bestehenden Konsumniveau mit erneuerbaren Energien zu realisieren. Das werde die natürliche Mitwelt überfordern. Vielmehr müsse eine Reduktion des Energie- und Stoffumsatzes angestrebt werden. Dazu sollten aus der Wirtschaft mehr Impulse kommen, das könnten die Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppen allein nicht schaffen.

Sehen, Urteilen – Handeln!
Welcher „Ruck“ muss jetzt durch Kirchen, Politik und Gesellschaft gehen?

von Kathrin Natho


Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, die von Dr. Hans-Joachim Döring, Mediator Wirtschaft und Umwelt und ehemaliger Beauftragter für Umwelt und Entwicklung in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, moderiert wurde. Diskussionsteilnehmer waren Wendelin Bücking, Umweltbeauftragter im Bistum Magdeburg, Bernhard Pötter, Autor und Journalist bei der taz, Sebastian Striegel, Landtagsabgeordneter von Bündnis90/die Grünen, und Daniel Trutwin, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer.

Die Diskussion wurde eingeleitet mit der Frage, welche Wirkung die Enzyklika Laudato si‘ im Umfeld der Teilnehmenden entfaltet habe. Dabei kam es zu unterschiedlichen Einschätzungen. Einige empfanden sie als Bestärkung, weiterhin für Klima- und Umweltschutz zu streiten, wenngleich Sebastian Striegel Bedauern äußerte, dass sie im politischen Raum wenig reflektiert worden sei. Andere schätzten die Wirkung als bedeutender ein. Laudato si‘ habe die Debatte weltweit und vor Ort verändert, so Bernhard Pötter. Die Enzyklika finde deutliche Worte für den Zustand der Erde und zeichne ein klares Bild der Gesellschaft, wie wir sie organisiert hätten. Und sie stelle die Frage, wie wir die Gesellschaft umgestalten müssten, damit die Welt nicht „gegen die Wand fährt“.

Für den Raum der Kirchen wurde die Kluft zwischen Wissen und Handeln kritisiert, insbesondere in der Katholischen Kirche. Sie sei eher „ein Zug, der ruckelt, als ein Zug, der fährt“, sagte Wendelin Bücking. Einig waren sich die Podiumsteilnehmer, dass der „Faktor Zeit“ ein Problem darstelle. Einerseits müsse der Wandel schnell erfolgen, andererseits brauche die Transformation Zeit, so Daniel Trutwin. Und Bücking betonte, dass auch die Menschen vor Ort „mitgenommen“ werden müssten. Pötter äußerte sich optimistischer. Man unterschätze, wie „änderungswillig“ die Menschen eigentlich seien.

Auf die Frage, welche Akzente die Kirchen in den anstehenden Transformationsprozessen setzen sollten, antwortete Trutwin, dass sie eine viel klarere Position in der Verzichtsdebatte einnehmen sollten. „Anstelle von Verzicht sollte aber eher von Wohlstandsverlusten gesprochen werden“, ergänzte er. Striegel verwies in diesem Zusammenhang auf die christliche Überlieferung, etwa den Heiligen Johannes, der sein Vermögen den Armen gegeben habe. 

Und was wird gebraucht, um das „gemeinsame Haus“ zu sanieren? Dazu machten die Podiumsteilnehmer einige Vorschläge. Bücking etwa schlug vor, die hierarchischen Strukturen in der Katholischen Kirche für konsequenten Umwelt- und Klimaschutz zu nutzen – anstatt bloße Handlungsempfehlungen herauszugeben. Pötter regte an, ökologische, vielleicht sogar interreligiöse Orden zu gründen. Auch das jüngst verabschiedete Klimaschutzgesetz der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz wurde angesprochen und dessen Verbindlichkeit gelobt. Einig war sich das Podium, dass die Kirchen die Kraft hätten, eine Transformation herbeizuführen. Offen blieb, ob dazu eine traditionelle Sprache wie die Rede vom „Bewahren der Schöpfung“ oder eher neuere Wendungen wie „Paradising“ hilfreich seien, ob es „mehr Mut in den Träumen und Worten“ brauche oder „ein bisschen mehr Pfingsten“ oder gar „die Einberufung eines weltweiten ökumenisch-ökologischen Konzils“.

Die Tagung endete mit einem Verweis auf die 2020 erschiene Enzyklika „fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“. In ihrem Geiste formulierte Dr. Reinhard Grütz, Direktor der Katholischen Akademie im Bistum Magdeburg und einer der Veranstalter der Tagung: „Niemand kann sich alleine retten. Die Zeit ist gekommen, um von einer einzigen Menschheit zu träumen, in der wir alle Geschwister sind. Wir werden daran arbeiten, dass die Welt bleibt.“

Die Vorträge und die Abschlussdiskussion dieser Online-Tagung wurden aufgezeichnet. Sie stehen auf der Internetseite der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt als Videos zur Verfügung:
www.ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/abrissreif-oder-noch-sanierbar/


Dipl.-Ing. Jörg Göpfert
Studienleiter Umwelt & Soziales
Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.
Schlossplatz 1d | 06886 Lutherstadt Wittenberg
Tel.: 03491 4988-41
| www.ev-akademie-wittenberg.de

Kathrin Natho
Referentin für Umwelt und kirchlichen Entwicklungsdienst
Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum
Am Dom 2 | 39104 Magdeburg
Tel. 0391 5346-395
| www.oekumenezentrum-ekm.de

Niklas Wagner
Akademieleiter
Katholisches Forum im Land Thüringen
Akademie des Bistums Erfurt
Farbengasse 2 | 99084 Erfurt
Tel.: 0361 6572-370 | Fax: 0361 6572-374


1 Veranstalter der Tagung mit dem gleichnamigen Titel waren:
• Katholisches Forum im Land Thüringen/Akademie des Bistums Erfurt
• Katholische Akademie des Bistums Magdeburg
• Lothar-Kreyssig-Ökumene-Zentrum der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
• Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.
• Evangelische Akademie Thüringen
• Seelsorgeamt des Bistums Erfurt, Bereich Bildung und Spiritualität
• Umweltbeauftragter des Bistums Magdeburg
• Bischöfliche Fachkommission „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ im Bistum Magdeburg
• Ökumenischer Prozess „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“

2 Das „Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ ist eine Behörde der römischen Kurie, in der im Vatikan die Arbeitsbezüge weltweit im Blick auf Entwicklung, Migration und soziale Gerechtigkeit zusammengeführt werden.

Buchvorstellung

Ausflug aufs Land

von Christoph Kuhn1


Vor dem Besuch bei Ernst Paul Dörfler muss ich mich erst einmal auf eine Terminsuche mit ihm einlassen, die nicht leicht ist, weil er seit einigen Wochen mit seinem Buch „Aufs Land“ zu Lesungen unterwegs ist und Absprachen trifft für Interviews und Gesprächsrunden. Wir finden einen Tag Ende Oktober. Gut, dass es ein relativ milder, sonniger Tag ist, denn wir werden im Freien sein, sagt er mir am Telefon. 

Mit dem Zug geht es zur seinem Wohnort Steckby nächstgelegenen Bahnstation Zerbst, von da aus 10 km mit dem Fahrrad über die Landstraße. Das Dorf liegt im Biosphärenreservat Mittelelbe, zählt 250 Seelen, hat eine Radfahrerkirche, eine Storchenmühle und mehrere Vereine. Auf die Frage nach Dr. Dörflers Haus wird mir mehrfach bereitwillig Auskunft gegeben. Der Ökochemiker ist prominent und offensichtlich geschätzt. 

Zuerst führt er mich durch den Garten hinterm Haus. Hier stehen Apfel-, Pfirsich- und Feigenbäume, Sonnenblumen, Himbeer-, Andenbeeren- und Blaubeersträucher, Tomatenstauden. Bohnenpflanzen winden sich am Gestänge, Wein rankt an der Fassade. Am Boden wachsen Zucchini, sogar Wassermelonen, darunter roter Rettich und natürlich Möhren – oder Kartoffeln, davon gibt es gleich welche zum Mittagsmahl. Für den Quark dazu sammeln wir Dill, Petersilie, Kerbel und mir bislang ganz unbekannte Kräuter. Wir schneiden Zwiebeln und Knoblauch. Der Gartentisch ist gedeckt, und wir reden beim Essen schon über das Landleben, wie es im Buch beschrieben ist und wie es der Autor selbst praktiziert. Sein Garten versorgt ihn, saisonbedingt, mit fast allen nötigen Nahrungsmitteln.

Wer das vorhergehende Buch „Nestwärme“ und die älteren vogelkundlichen Bücher von ihm kennt, wird erstaunt sein, dass es jetzt ums große Ganze geht: um die vielfältige und rasante Naturzerstörung in Stadt und Land und um Auswege aus der Klimakrise, der Monokultur und dem Konsumzwang. 

Am 29. Juli war der diesjährige Erdüberlastungstag; seitdem lebt die Menschheit selbstzerstörerisch von den Ressourcen, die den nächsten Generationen zustehen. Die Gründe sind komplex: Wachstumszwang, Überkonsum, verhängnisvolle Produktionsketten, falsche Preispolitik, Entfremdung von der Natur, Denaturierung der Landschaft …

Von der Landschaft, den Elbauen, kann ich mir beim gemeinsamen Spaziergang ein Bild machen. Im UNESCO-Biosphärenreservat soll Harmonie zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung hergestellt werden – eine löbliche Absicht, deren Umsetzung immer wieder, zum Beispiel durch den Ausbau der Flussufer, behindert wird.

Dörfler beschäftigt sich nicht nur mit dem Einfordern staatlicher Aufgaben und mit dem Versagen der Politik. „Aufs Land“ richtet sich an alle – ein Titel ohne Ausrufezeichen. Es geht um Aufmerksamkeit und eine andere Blickrichtung im Bestreben, das Aussterben des ländlichen Raums umzukehren, Fehlentwicklungen rückläufig zu machen, zu erkennen, was Wälder und biologische Vielfalt für das Lebensnotwendige bedeuten – für die Lebensmittel, die die Stadt verbraucht und „ökoparasitär“ nicht angemessen honoriert. Letztlich postuliert Dörfler, dass der Mensch auf dem Land stressfreier und – auch seelisch – gesünder lebt. Dafür muss das Landleben attraktiver werden, zum Beispiel mit besserem öffentlichen Verkehr und leichterem Zugang zum Internet. Jugendliche können bei Ernst Paul Dörfler im Freiwilligen Ökologischen Jahr einen Workshop besuchen, wo sie erfahren, wie ein ökologisches Dorf beschaffen sein sollte, wie Biodiversität zu bewahren und der Boden agrargiftfrei und zum Tierwohl nachhaltiger zu bewirtschaften ist.

In dem teilweise sehr persönlichen Buch wird – global und regional – der Begriff Natur in Beziehung gesetzt zum Wohnen, zum Geld, zum Haustier, zum Müll, zur Kindheit, zur Arbeit, zur Psyche. Nicht zu Religion, zum Christentum – warum nicht? Er habe sich beschränken müssen, sagt Dörfler; es würde für ihn fast ein weiteres Buch bedeuten. Er sei Mitglied der Kirche, höre aber die Stimme Gottes eher in der Natur als im Gottesdienst. Liegt es an der besonderen DDR-Situation, dass vor Jahrzehnten Ökologie für die Kirche wichtiger war als heute, obwohl sich die Lage verschärft hat? Die Thesen des Konziliaren Prozesses „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ werden immer dringlicher, aber nur selten und kleinlaut vorgebracht. Beim tätigen Klimaschutz ist die Kirche nicht vorbildhaft, sagt Dörfler.

Aber: „Noch ist es nicht zu spät zum Handeln“, schreibt er. Das gilt für Einzelne, Paare, Familien, Wohngemeinschaften, Freundeskreise, Kommunen, Institutionen – für alle Verantwortlichen in der Gesellschaft.

Christoph Kuhn
Advokatenweg 3A | 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2026073










Ernst Paul Dörfler:


Aufs Land
Wege aus Klimakrise, Monokultur
und Konsumzwang

Carl Hanser Verlag, 2021
351 Seiten, 22,00 €
ISBN 978-3-446-27095-4


1 Christoph Kuhn, 1951 in Dresden geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in Halle. Mitglied des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di und des PEN. Zuletzt veröffentlicht: Kein Weg zurück, Erzählungen, 2018; Poesiealbum 348, Gedichte, 2019.

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Jörg Göpfert

Studienleiter, Arbeitsbereich Umwelt und Soziales
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