Diskurs

Mensch sein

Diskurs zur Demokratie

Zur Tagung Demokratie – wir müssen reden … hatte ich auf einige Bücher aufmerksam gemacht. Eins möchte ich noch einmal herausgreifen: Mensch sein von Carel van Schaik und Kai Michel.

Warum zu einer Demokratie-Tagung das Buch eines Evolutionsbiologen und eines Kulturwissenschaftlers besonders erwähnen? Weil die beiden in ihrem Buch mit ein paar Narrativen aufräumen, die für unsere Gesellschaft eher lähmend sind – und aber als natürlich und damit als Beschreibung des Gegebenen gedacht werden.

Was ist damit gemeint. Van Schaik und Michel erzählen eine Naturgeschichte des Menschen, indem sie den Begriff Natur klären und differenzieren. Natur ist ein hochartifizieller Begriff. In seiner Gesamtheit steht er für alles, also für nichts – denn was wäre nicht Natur? Im Einzelnen verweist er auf etwas, das die Begründung für sich in sich selbst trägt. Die Natur des Menschen ist … Die Natur des Mannes ist … Die Natur der Frau ist … Die Ehe zwischen Mann und Frau ist natürlich, weil der Natur entsprechend. – Das wäre dann ein normativer Satz, der sich aus einem Begriff ableitet, der scheinbar objektiv und unbezweifelbar ist.

Mit dem Begriff Natur wird nicht nur etwas als gegeben beschrieben, sondern es wird eine gesellschaftliche Praxis etabliert und begründet. Das ist natürlich hochproblematisch, weil das Verständnis von dem, was wir Natur nennen, immer kulturell-gesellschaftlich konstruiert wird. Das gilt vollumfänglich natürlich auch für das, was in dem Buch formuliert wird.

Wenn wir heute etwa über die Konkurrenzgesellschaft sprechen und behaupten, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf – weswegen es das Gesetz, den Staat und die Polizei brauche, begründen wir mit der quasi naturgegebenen Verfasstheit des Menschen Gewaltverhältnisse gegen Menschen zu deren eigenem Besten. Was aber, wenn das Konkurrenzverhältnis unnatürlich wäre? Wenn uns die Genese des Menschen als »Naturwesen« etwas ganz anderes zeigte?

Und genau das leistet das Buch Mensch sein. Der Begriff Natur wird differenziert und in einer Analogie zu Aristoteles dreifachem Seelenvermögen in drei Bereiche unterteilt, die für Menschen prägend sind.

Die erste Natur – Menschen als Gattung, die sich über Jahrhunderttausende entwickelt hat. Also der Mensch als Teil der belebten Natur, der Säugetiere, der Primaten – das ließe sich natürlich auch noch weiter differenzieren. Die Natur-Geschichte des homo sapiens sapiens ist unsere Geschichte. Und sie ist uns tief eingeschrieben. 

Die zweite Natur – Menschen sind Kulturwesen. Es ist kontingent, wie die Kultur ist, aber sie kommt notwendig dazu. Menschen sind im Unterschied zu Tieren (ob das so ganz stimmt, scheint zumindest wieder eine offene Frage) nicht selbstverständlich in der Welt. Sie müssen sich zu ihrer Welt und zueinander verhalten. Und dabei neigen wir dazu, unsere vorherrschende kulturelle Praxis für normativ und natürlich zu halten. Was sie natürlich nicht ist. Sie kann sich ändern. Ganz konkret im Blick auf unsere Gesellschaft muss sie sich ändern, wenn wir nicht den Kollaps unserer Lebenswelt bewirken wollen.

Die dritte Natur – wir sind rationale Lebewesen (so unglaubwürdig das scheinen mag). Wir sind nicht nur in der Lage, eine Kritik der reinen Vernunft zu schreiben, in der wir uns Rechenschaft ablegen über unser Vernunftvermögen und dessen Grenzen, sondern wir können uns zu dieser Kritik der reinen Vernunft kritisch ins Verhältnis setzen. Und das bedeutet, dass wir in der Lage sein sollten, gesellschaftliche Praktiken als Irrwege zu entlarven und uns anders zu verhalten, weil wir weder unserer Natur- noch unserer Kulturgeschichte ausgeliefert – wenn auch nicht gänzlich unabhängig von ihr sind.

Und – und das halte ich für den wichtigsten Aspekt des Buches – weil unsere Naturgeschichte uns eine ganz andere Geschichte über das erzählt, was wir Menschen sind.

Menschen sind keine Konkurrenzwesen, sondern hoch kooperativ. Menschen sind nicht auf Herrschaft und Unterdrückung angelegt und auch nicht auf himmelschreiende Ungerechtigkeit im Blick auf die Verteilung von Ressourcen. Wir leben in einer im Sinne der Naturgeschichte – der Genese des Menschen vollkommen widernatürlichen Welt. 

Weder ist der Mensch des Menschen Wolf noch ist die Unterordnung der Geschlechter noch die Herrschaft Einzelner im Sinne der Naturgeschichte natürlich. Wir können uns und unsere gesellschaftliche Praxis ändern, weil wir anders sind.

Und der Wert des Buches liegt darin, dass sie dies nicht als quasi theoretische Überlegungen vorlegen, sondern evolutionsanthropologisch-naturwissenschaftlich argumentieren und dies mit neusten archäologischen und neubewerteten älteren Funden belegen.

Und daraus Hoffnung schöpfen für die Fähigkeit unserer Gattung, mit Hilfe unseres rationalen Vermögens eine Kultur zu etablieren, die ein Miteinander und eine Zukunft ermöglicht.

Es ist ein Sach- und kein Fachbuch. Das macht das Lesen zum Vergnügen und öffnet Raum für manchen Widerspruch und Diskussionen. Aber was mehr kann ein Buch leisten? Ich empfehle nachdrücklich die Lektüre und das Weiterdenken.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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