Diskurs

… und wenn die Demokratie das Problem wäre?

Die Frage nach der Antwort auf die Erfolge der AfD

Deutschland im Jahr 2023 und eine zutiefst rassistische und rechtsnationalistische – kurz: eine nach meiner Überzeugung faschistische – Partei erlebt einen Aufschwung in Wahlprognosen und Wahlen.
Die Reaktion der etablieren Parteien ist der Ruf danach, die Demokratie zu stärken. Das ist in der Tat verblüffend, da in der parlamentarischen Demokratie doch die Abgabe der eigenen Stimme die herausgehobene Art der Beteiligung am demokratischen Prozess ist. Wer also wählt, ist demokratisch vorbildlich. Allerdings und offensichtlich im Duktus der etablierten Parteien und des Feuilletons nur, wenn die Person die Stimme an die richtigen Parteien abgibt. Die Stimme einer falschen Partei zu geben oder sie einfach zu behalten, ist dann Zeichen des Mangels an demokratischer Gesinnung.

Um es ganz deutlich zu sagen: Natürlich ist die AfD eine Partei, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Nur greift der Vorwurf zu kurz, dass ihre Wähler*innen demokratisch unreif und deshalb Programme zur Demokratie-Förderungen nötig seien.

Denn – und das ist die These, die ich zur Diskussion stelle – vielleicht ist die (realexistierende) Demokratie selbst das Problem. Der Begriff »Demokratie« benötigt dabei natürlich eine Spezifizierung. Was ist gemeint, wenn wir im Konkreten von Demokratie reden? Das ist nämlich alles andere als klar. Konkret geht es hier um die Unterscheidung von Gattung und Art. Dafür verweise ich auf den Beitrag zu den Demokratie-Wochen: https://ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/demokratiediskurse-einige-versuche-ueber-die-realexistierende-demokratie/

Die AfD feiert ihre Erfolge, indem sie den Regeln des demokratischen Prozesses folgt. Sie macht dem Wahl-Volk ein Angebot mit entsprechendem Erfolg. Daran zeigen sich zwei grundsätzliche Probleme der Demokratie, wie wir sie in Deutschland kennen. Das Angebot der AfD richtet sich an die niederen Instinkte des Wahlvolkes und ist genau darum erfolgreich. Das unterscheidet sie allerdings nicht von der FDP, die bei der letzten Wahl genau damit bei der Wähler*innengruppe besonders erfolgreich war, deren Zukunft durch die Politik der FDP bedroht wird. Die Abgabe der Stimme hat ja noch keine Konsequenz für die, die ihre Stimme abgeben. Sie ist erst einmal nur ein Statement. Die Konsequenzen, die in der Zukunft folgen werden, reichen aber über die niederen Instinkte hinaus – und zumeist auch über die Legislaturperiode. 

Das verweist auf ein Problem, auf das Alain Badiou hingewiesen hat, wenn er sagt, dass das Subjekt der Demokratie ein egoistisches ist. (https://ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/demokratie-eine-debatte-2/ – »Die zerstörerische Kraft des demokratischen Wahrzeichens konzentriert sich in dem von ihm geprägten Subjekt-Typus, dessen wesentliche Eigenschaft – um es mit einem Wort zu sagen – der Egoismus, das Begehren des kleinen Genusses ist.«) Was in Zeiten allgemeinen Wohlstandes und der Möglichkeit, diesen in den entscheidenden Milieus zu verteilen, kein Problem ist (Oder wie ein Liedermacher einmal sang: »Ja wer reich ist und satt, der ist so gerne ein Demokrat.«), wird in Zeiten der Krise hoch brisant. Und das hängt mit einem weiteren fundamentalen Problem zusammen, der im Begriff »Demokratie« steckt – dem »Demos«; also Volk. 

Demokratie – und darauf hat Stephan Lessenich hingewiesen – lebt immer von Aus- und Abgrenzung, also von einem Innen und einem Außen. Wer zum »Volk« gehöre und damit gleiche Rechte habe, kann unterschiedlich definiert werden. Aber immer gibt es ein Gegenüber von Volk und Nicht-Volk. Während es die AfD faschistisch über Blut definiert, mögen andere Parteien es über das Staatsbürger*innenschaftsrecht bestimmen und dieses nach Geburt oder Nützlichkeit zuteilen oder im weitesten Fall über Einwohner*innenschaft. Aber immer besteht das Innen und das Außen. Was sich auch am Recht zeigt, die eigene Stimme abzugeben. Denn von allen, die etwa in Deutschland leben, haben viele gar nicht das Recht dazu, weil sie keine deutschen Staatsbürger*innen sind. Das Ressentiment der AfD gegen diese Menschen macht diese für die Menschen attraktiv, die in den Verteilungsängsten alle Konkurrenz zu eliminieren bereit sind. Von Abschiebung sind ja immer die anderen betroffen. Und dass die reaktionären Teile der CDU (und der CSU) hier eine große Schnittmenge zur AfD haben und sich faktisch im Geiste vergeschwistern, darf vor allem in den östlichen Bundesländern beunruhigen.

Also: Da das demokratische Subjekt vom Egoismus bestimmt ist, führt Demokratie, in der Macht durch Wahl generiert wird, zum Faschismus. 
Wir können diese These Badious natürlich steil finden. Aber es war vor zehn Jahren wesentlich einfacher als heute, darüber zu lachen.

Ein zweites Problem hängt damit zusammen, dass die Repräsentant*innen der Volkssouveränität gewählt werden – und zwar über Parteien. Natürlich steht es allen offen, in eine Partei einzutreten oder eine zu gründen. Aber für Menschen, die das nicht wollen, ist der Zugang zur Repräsentanz ausgeschlossen. Dazu kommt, dass in Parteien ein bestimmter Typus Mensch Karriere zu machen pflegt und Quereinsteiger*innen selten sind. (Was vor allem auf Parteien mit einer wirklichen Machtperspektive zutrifft.) Das bedeutet aber, dass sich das System beständig reproduziert – noch von der Logik dessen abgesehen, was als Realpolitik bezeichnet wird, die zu Entscheidungen nötigt, die im äußersten Konflikt zu den Grundüberzeugungen einer Partei führen können (was vor allem eine Problem für die Grünen und die Linke ist, die im höheren Maße Gesinungsparteien waren). 

Um also Karriere – und damit die Chance, Macht zu bekommen – zu machen, ist die Binnenlogik der Partei wesentlich wichtiger als eine Orientierung etwa am Gemeinwohl.

Neben dem bestimmten Typus, den Parteien hervorbringen und fördern, ist es auch ein bestimmtes Milieu, welches in den Parlamenten vertreten ist. Zwar kann prinzipiell (fast) jede gewählt werden, aber eben nicht alle. Und so sind in den Parlamenten vor allem Vertreter*innen der sogenannten Mittelschicht vertreten, die von Anfang an über bestimmte Ressourcen verfügen, die sich durch die offensichtliche Ungleichheit in der Gesellschaft generieren. Sie repräsentieren Milieus, entscheiden für alle, aber sprechen bei weitem nicht (mehr) für alle. Und auch da sehen wir ein Reproduktionsphänomen. (Dazu: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2020-1-68/wer-ist-der-ideale-kandidat-auswahlkriterien-bei-der-kandidatenaufstellung-zum-deutschen-bundestag-jahrgang-51-2020-heft-1?page=1)

In den Politikwissenschaften wird schon seit längerer Zeit wieder diskutiert, ob Demokratien, in denen Repräsentanz durch Wahlen legitimiert wird, geeignet sind, soziale Gerechtigkeit (wenigstens innerhalb des Demos – die globale Ungerechtigkeitsdimension bleibt davon ohnehin unberührt) zu befördern. Wahldemokratien sind anfällig für Korruption und befördern den schon erwähnten Typus Politiker*in. Außerdem verhindert die Konkurrenzlogik die kooperative Lösung von Problemen. Wo von Mitkonkurrent*innen und Gegner*innen gesprochen wird, ist die Idee des Wettbewerbs und des Sieges leitend. 

Wahldemokratien sind im hohen Maße ungerecht, weil Menschen auf unterschiedliche Weise ausgeschlossen werden – von der Möglichkeit gewählt zu werden und/ oder zu wählen. Was de jure selbstverständlich ausgeschlossen ist, lässt sich faktisch nicht leugnen. Damit haben auch nicht alle Menschen die gleichen Möglichkeiten, ihre Interessen in den politischen Diskurs zu bringen.

Und die, die gewählt werden wollen, müssen die kurzfristigen Bedürfnisse der Wählenden zum Maßstab ihrer Handlungen machen, was verhindert, dass sie legitime Interessen kommender Generationen, die aber noch keine Stimme zum Abgeben haben, entsprechend der dringlichen Notwendigkeit berücksichtigen. Denn Wahlen entscheiden sich über Versprechungen, nicht über Umsetzungen. Irritierenderweise auch Wiederwahlen. 

Die Ungerechtigkeiten, die einer Wahldemokratie immanent sind, sind solange kein Problem, solange diejenigen nicht relevant sind, die von der Ungerechtigkeit betroffen sind oder sich betroffen fühlen. Also Marginalisierte, die nicht wählen dürfen (Nichtstaatsbürger*nnen, Kinder) oder ohnehin nicht wählen (sozial Marginalisierte).
Wenn die gefühlte Ungerechtigkeit aber die sogenannte Mitte der Gesellschaft trifft, erleben wir das Phänomen einer Radikalisierung der Gesellschaft mit einer Tendenz zu Nationalismus und Faschismus, wie wir es in Deutschland seit 2015 (wieder) beobachten können. Die AfD ist ja nicht am unteren Rand erfolgreich. Diese Beobachtung stützt die These Badious – und wirft ein Licht auf die »Grenzen der Demokratie«, die Stephan Lessenich in seinem Buch analysiert.

Was meint nun aber in diesem Zusammenhang der Satz: »Wir müssen die Demokratie stärken!«? Von welcher Demokratie ist da die Rede? Von der, wo am Wahlabend gesagt wird: Der (!) Wähler hat uns den Auftrag gegeben? Die Demokratie, in der eine höhere Wahlbeteiligung der rechtsnationalistischen AfD zugute kommt?
Nach meiner Überzeugung muss die parlamentarische Demokratie, in der durch Wahlen Macht generiert wird, überwunden werden. Ob eine durch Losverfahren zufällig zusammengestellte Versammlung oder eine durch konsensuale  Bestimmung ausgewählter Vertreter*innen der verschiedenen Milieus oder ein anderes Modell sinnvoll wäre, müsste ausführlich diskutiert werden. Aber die Aporien des gegenwärtigen Systems lassen sich nicht auflösen – weder in der Binnenperspektive noch im globalen Maßstab.

Oder mit anderen Worten: Die realexistierende Parteiendemokratie ist – wie auch der realexistierende Sozialismus – gescheitert. Nur merken wir es noch nicht. Aber wir sehen, dass sie weder für die Gegenwart noch für die Zukunft Antworten auf die drängenden Gerechtigkeitsfragen hat.

Nachgedanke: Unberücksichtigt in diesen Überlegungen bleibt dabei die Frage, inwieweit die niederen Instinkte und Bedürfnisse aus den Menschen kommen oder ob sie gesellschaftlich produziert werden. Das ist die Frage nach einem Wirtschaftssystem, welches eine adäquate Herrschaftsform hervorgebracht hat, welche diese Bedürfnisse in Permanenz reproduziert.

Und noch ein gedanklicher Sprung, der aber in einem fundamentalen Zusammenhang zu den Überlegungen steht: Es ist meine tiefste Überzeugung, dass das Grundübel nicht die Demokratie, sondern das Privateigentum ist.

Dieser Debattenbeitrag ist ein Angebot zur Auseinandersetzung.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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