Am 24. April hielt Nils Richber einen Vortrag zum Begriff
Aufklärung, den Sie hier nachlesen und nachhören können.
Zum Nachhören:
Zum Nachlesen:
Der Begriff der Aufklärung erzeugt einen enormen Sog; und das in verschiedenerlei Hinsicht – er hat eine Art ethisches Pathos und eine Tiefenwirkung, denen wir uns nicht so ohne Weiteres entziehen können. Wenn man sich aktiv als „Gegenaufklärer“ identifizieren wollte, müsste man es schon sehr ernst meinen. Und der Begriff hat, so könnte man sagen, einen hermeneutischen Sog, d.h. der Begriff Aufklärung verleitet dazu, die ganze Geschichte menschlichen Denkens als Geschichte der Aufklärung – und eng damit verbunden: als Fortschrittsgeschichte, als Geschichte eines ständigen „Damals dachte man noch…, heute aber wissen wir“, als Geschichte der Entwicklung von Wissen und Vernunft in der Zeit zu begreifen, in der es gar nicht anders kann, als immer klarer zu werden; entsprechend schwierig ist es, nebenbei bemerkt, das Thema einzugrenzen – dabei diesen Sog des Begriffs weder beiseite zu schieben und ihn zu kastrieren – das Exzessive, Überschüssige, das uns daran in den Bann zieht, wegzuschneiden – noch, ihm einfach unkritisch nach- und sich dem Rausch des Begriffs hinzugeben. Der Versuch einer solchen Gratwanderung in meinem Vortrag ist also auch der Versuch einer kritischen Treue zur Aufklärung.
In welchem Kontext sprechen wir hier über Aufklärung? Die Veranstaltung heute hat natürlich einen ein wenig bildungsbürgerlichen Rahmen und wenn in einem solchen Rahmen von Aufklärung die Rede ist, verbinden wir damit selbstverständlich eine sehr konkrete historische Epoche im 17. und 18. Jahrhundert, über die es ein wohlgeordnetes, sortiertes, kanonisches Wissen gibt. Dieses existiert auch darum, weil die Epoche der Aufklärung für das Bürgertum bis heute identitätsstiftend ist und zur Bildung von Gründungsmythen und Selbstvergewisserungsritualen dienen muss. Denn sie wurde seinerzeit vom Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums getragen – und in einer bürgerlichen Gesellschaft leben wir ja bis heute: Erinnert man sich im Rahmen des Bildungsbürgertums an die Aufklärung, dann oft so, wie man sich an seine „besten Jahre“ oder an die „wilde Zeit“ erinnert. Die Aufklärung ist die Philosophie der bürgerlichen Revolution, oder das Bewusstsein des revolutionären Bürgertums von sich selbst – und zwar zu dem Zeitpunkt, da es im Begriff ist, Adel und Klerus als gesellschaftlich herrschende Gruppen mitsamt ihren Leitideen abzulösen. Das ist ein Merkmal, das an der historischen Aufklärung hervorgehoben werden kann: Der Begriff des Bürgers, bzw. des Bürgertums, der Bürgerrechte und der des Menschen, der Menschenrechte und der Menschheit wurden auf eine Weise miteinander verdichtet, die das Bürgertum zum Träger eines neuen Universalismus machte; d.h. das Bürgertum hatte den Anspruch für alle und im Interesse aller zu sprechen und zu handeln und bezog daraus das Pathos seiner Ideen, sowie die politische Unterstützung für die soziale Umwälzung, aus der es als neue „herrschende Klasse“, wie man marxistisch so schön sagt, hervorgegangen ist. Das hätte es nicht tun können, hätten sich nicht auch die Unterschichten zu diesem Zeitpunkt in entscheidendem Maße durch das Bürgertum vertreten gefühlt.
Dieses Selbstverständnis des Bürgertums, für alle zu sprechen, hing auch mit dessen Bildungs-Anspruch zusammen. Denn es begründete seine Führungsrolle, seine Legitimation als Avantgarde, als revolutionäre Vorhut eines allgemeinen Fortschritts der Menschheit, auf ein neues Prinzip: das autonome, also nicht von anderswoher, sondern durch eigene Überlegung und Beobachtung ratifizierte Wissen (Überlegung und Beobachtung sind Stichworte, die jeweils auf die rationalistische und die empiristische Vorstellung darüber hinweisen, wie an ein solches Wissen zu gelangen ist – in beiden Fällen ist aber das Individuum – eine ebenfalls durch das Bürgertum eingeführte Leitkategorie – Ausgangspunkt des Wissenserwerbs). Lucien Goldmann (ein marxistischer Philosoph und Literaturtheoretiker aus dem 20. Jh.) schreibt über dieses neue, den Führungsanspruch des Bürgertums legitimierende Prinzip des Wissens:
„Die Bestimmung des Menschen, der Sinn des Lebens, liegt für sie im Streben, ein Wissen zu erreichen, das quantitativ so ausgedehnt, qualitativ so autonom und so kritisch [was das bedeutet, dazu werde ich auch noch kommen] wie nur möglich ist, und liegt weiterhin in der technischen und moralischen Anwendung dieses Wissens auf die Natur und in der menschlichen Gemeinschaft.“[1]
Dieses Streben wurde schon einige Jahrzehnte vor Kants berühmter Aufforderung „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen!“ durch die sogenannten Enzyklopädisten vertreten. Sie kennen wahrscheinlich den Begriff der „Enzyklopädie“, stammend vom griechischen ἐγκύκλιος παιδεία, sowas wie „Allgemeinbildung“ und Bezeichnung für ein Nachschlagewerk, das eine möglichst große Breite an Themen abdeckt – zur Zeit der Aufklärung, genauer zwischen 1751 und 1780, arbeiteten um die 140 Autoren unter der Leitung von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert an einem Enzyklopädienprojekt, das formgebend war für das, was wir heute klassischerweise unter einer Enzyklopädie verstehen – heute, wo diese klassische Form im wesentlichen durch das Internet ersetzt wurde. Goldmann war der Auffassung, dass dieses Projekt, das bloß das Flaggschiff einer Reihe vergleichbarer Bemühungen gewesen ist, repräsentativ für „die Weltanschauung der [historischen] Aufklärung“ gewesen ist, weil sie zum einen für eine Kollektivierung des Wissens und eine Demokratisierung des Zugangs dazu steht – und zwar sollte dieses Wissen gerade seiner Autonomie wegen allgemein zugänglich sein, d.h. hier: seiner abgelöst von der Vermittlung durch die autorisierten Institutionen zugänglichen Form – letztlich: der Warenform. Denn gerade seine aus dem Zusammenhang seiner Produktion herausgelösten Erscheinungsform als Ding, das über den Markt formell jedem und jeder zugänglich ist, macht dieses Wissen anscheinend zu einem, das auf alles und durch jeden angewandt werden kann. Gleichzeitig steht sie damit auch für die verdrängte innere Beschränkung dieses Wissens auf den Teil der Menschheit, der am bürgerlichen Wohlstand teilhat und für seine Indifferenz. Die Enzyklopädie war ein Werk, das hauptsächlich von wohlhabenden, aufstrebenden Bürgern oder fortschrittlich eingestellten Aristokraten erworben wurde – und die Spannung zwischen dem Elitären und dem Egalitären kehrt in der Geschichte aufklärerischen Denkens immer wieder und kennzeichnet es nicht nur im 17. und 18. Jh..
Zugleich steckt mehr in dem Begriff der Aufklärung als dieses historische Ideal der Anhäufung von statisch festgehaltenem Wissen.
Die Veranstaltungsreihe handelt ja nun auch von der „Geschichte der Begriffe“: Ginge es bloß um Geschichte, dann könnte man denken, man hätte es mit etwas Vergangenem zu tun, mit der Frage „Was war Aufklärung/die Aufklärung?“, als wäre sie abgeschlossen oder würde uns nichts mehr angehen, es sei denn als Bildungsgut für Bildungsbürger. Aber wir fragen noch heute: „Was aber ist Aufklärung?“, im Präsens – das „aber“ weist dabei auf einen Konflikt, einen Widerspruch hin. „Was aber“ – wie als Einwand dagegen, dass ständig davon geredet wird, aber doch aufgeklärt werden müsste, wovon eigentlich die Rede ist bei Aufklärung – wo sie doch schon zu einem stehenden Begriff geworden ist, der von verschiedenen Menschen (von linken Gruppen über die vor allem antireligiös ausgerichtete Giordano Bruno-Stiftung bis hin zu Verschwörungstheoretikern wie Attila Hildmann) zu verschiedenen Zwecken in Anspruch genommen und umkämpft wird, dass wir uns immer wieder nach seiner Bedeutung fragen müssen. Der Begriff ist nicht ausgeschöpft und wir beteiligen uns am Versuch, ihn zu deuten und weiterzuentwickeln. Aufklärung ist also ein problematischer Begriff, aber ein Begriff, zu dem wir uns – gerade wegen der Probleme, die mit ihm anklingen und die er uns ins Gedächtnis ruft – nicht neutral verhalten können. Aufklärung ist nicht bloß ein Studienobjekt, nicht bloß die Aufklärung – Aufklärung ist ein Prozess, in den wir hineingezogen werden – ich hatte vom „Sog“ gesprochen –, wenn wir uns mit ihrem Begriff beschäftigen. Der Begriff richtet einen Anspruch an uns, dem wir uns nicht einfach entziehen können, ohne uns dabei eine Art schlechtes Gewissen zuzuziehen.
Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich, der eine seiner Vorlesungen in den Siebzigerjahren über den Begriff der Aufklärung in den Religionen gehalten hat, weist auf die erstaunliche Widerstandsfähigkeit dieses Anspruchs, unserer Ansprechbarkeit durch ihn hin. Er sagt: „Obschon […] das Pathos des Zeitalters der Aufklärung fragwürdig wurde“ – warum das fragwürdig wurde, dazu werde ich noch kommen, auch wenn es sich schon ein wenig angedeutet hat –, „ist ‚Aufklärung‘ in der Umgangssprache eine große Vokabel geblieben.“ Sogar den direkten Versuch der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, der den Begriff in der Gründung des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ mit seinem Gegenteil zusammenbrachte, also mit der bewussten und absichtlichen Unterordnung der Vernunft unter ein politisches Programm, das selbst nicht durch Vernunft gerechtfertigt werden muss – selbst diesen Vereinnahmungsversuch habe er überlebt: Man sehe, dass
„die Vokabel ‚Aufklärung’ trotz zahlreicher Versuche, sie durch Ministerialerlasse, die prompt in der gleichgeschalteten Presse erschienen, zuzurichten, im Vergleich zu vielen Begriffen, die in jener Zeit okkupiert wurden, überlebt hat, so daß es sofort nach Neunzehnhundertfünfundvierzig wieder möglich war, ‚Aufklärung‘ ohne falschen Zungenschlag zu sagen. Die Implikationen, die unter dieser Vokabel mitgehört wurden, waren offenbar nicht durch die es diskreditierende Verwendung des Begriffs ‚Volksaufklärung‘ vernebelt worden.“[2]
Man könnte sagen, dass selbst bei dem Versuch, das Potential, welches in dem Begriff steckt, durch so eine Verkehrung ins Gegenteil zu neutralisieren, allein die Erinnerung, die in der bloßen Nennung des Begriffs geweckt wird – das, woran man dabei dann eben doch unweigerlich denken muss –, sich gegen den übergestülpten Propagandazweck sträubt. Wir werden den normativen Anspruch, die Herausforderung der Aufklärung nicht so einfach los, selbst wenn wir es – nach dem Muster „Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten“ – mit aller Gewalt darauf anlegen.
Es lässt sich daher zur Aufklärung vielleicht etwas ganz Homologes festhalten, wie das, was Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz zum Begriff des Fortschritts anmahnt:
„Was man zu dieser Stunde unter Fortschritt sich zu denken hat, weiß man vag, aber genau: deshalb kann man den Begriff gar nicht grob genug verwenden. Pedanterie in seinem Gebrauch betrügt bloß um das, was er verheißt, Antwort auf den Zweifel und die Hoffnung, daß es endlich besser werde, daß die Menschen einmal aufatmen dürfen.“[3]
Also: Adorno wehrt sich bei so einem Begriff dagegen, dass er gleich spezialisiert, eingegrenzt, definiert, ideengeschichtlich zu Tode kontextualisiert und dabei sozusagen das abgewürgt wird, was er ganz allgemein auslöst, transportiert. Und er hält daran einmal das ganz Allgemeine, Vage fest: Bei Fortschritt gehe es nicht um Sonderbedeutungen, sondern um die Hoffnung, dass es – ganz allgemein, universell – besser werde und dass es einmal ein Aufatmen geben könnte. Und: Konkretisieren, definieren, festhalten, was genau das bedeutet, kann man das auch gerade darum nicht ohne Weiteres, weil der Begriff für ein Problem steht, etwas Uneingelöstes, der Name, der für die nicht gefundene Antwort auf eine Not einsteht, die gefühlt wird. Das schöne Kierkegaard-Zitat aus der Ankündigung der Veranstaltungsreihe, drückt das ja auch aus: Die Gewalt der Zeit geht an den Begriffen nicht vorbei und sie haben Teil an unserer Zerrissenheit in der Zeit – im Wort „Begriff“ steckt von dieser Zerrissenheit ja auch etwas, etwa in der Redensart „im Begriff sein/stehen, etw. zu tun“ – eine Übergangskategorie, ein Zwischen zwischen zwei Bedeutungen, das wohl auch dem Augenblick des Begreifens, des „Einleuchtens“ entspricht (dass einem etwas einleuchtet), der sich nicht festhalten lässt, sondern in der Bewegung des Denkens selbst und im Übergang liegt. Der Begriff ist immer schon unrein, mit Wirklichkeit kontaminiert. Also: Das vorschnelle Definieren zerstört das Begriffliche am Begriff, das Begreifen, das in der Denkbewegung mit dem Begriff und dem Entwickeln, Bewusstmachen, Ausdrücklichmachen dessen einhergeht, was in ihm transportiert wird.
Wenn ich vom „Einleuchten“ spreche, dann ist das eine Metapher für Erkenntnis und für Einsicht, die sie als ein Geschehen versinnbildlicht, das mit Licht zu tun hat. Diese Lichtmetaphorik gehört nun zu dem Bedeutungsmaterial, das der Begriff der Aufklärung mit sich führt. Die „Klarheit“, um die es beim Aufklären geht, ist dabei nicht nur die logische, auf die sie oft heute reduziert wird – ‚klare Aussagen, keine Mystifikationen, keine schlecht definierten Begriffe, kein unnützer Zierrat im Denken, lieber Formeln statt schlechte Poesie‘ – so etwas hört man oft bei Leuten, die sich heute „Rationalisten“ nennen, aber dabei vom utopischen Esprit des Rationalismus zur Zeit der Aufklärung meist nur wenig übrig ist. Anders als in diesem eher bürokratischen Ideal von Klarheit, liegt im Begriff der Aufklärung auch etwas, was eher ins religiöse Register gehört: „Es klart auf“ sagt man auch, wenn sich die Dunkelheit und die Bedrohung und die Angst, die mit ihr assoziiert wird, zurückzieht – ähnlich wie das heute sprichwörtliche „Licht am Ende des Tunnels“. Aufklärung heißt auch, dass es noch Hoffnung gibt, für die es sich lohnt, einzustehen. Ein „Aufatmen“, wie es Adorno sagt, ein Heraustreten aus dem Dunkel und der Orientierungslosigkeit (englisch/jugendsprachlich spricht heißt Orientierungslosigkeit „lost“, also verloren zu sein) – und mit diesem Moment verbunden schreibt Adorno zusammen mit Max Horkheimer in dem berühmten ersten Satz ihres gemeinsam 1939-1944 im Exil verfassten Werkes Dialektik der Aufklärung, Aufklärung habe „seit je“ „das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“[4]. Also: Aufklärung ist auch ein säkularisiertes Bild für das in der Bibel vielfach vertretene „Fürchtet euch nicht“ – ein Satz, der für das steht, was für Klaus Heinrich, der sein eigenes Unternehmen „Religionsphilosophie“ genannt hat, in den verschiedenen Philosophien und Erkenntnislehren mehr oder minder verdrängt ist, aber sie doch grundsätzlich antreibt – der Kampf gegen die Angst. – Angst im Zustand des Ausgesetztseins gegenüber den Naturmächten, Zerrissensein in der Zeit und zwischen den kaum auszutarierenden Anforderungen des Lebens, dem Tod verfallen sein – und in dem sich das „Religiöse“ an ihnen verdichtet. Im Ideal von Klarheit, das ich vorhin karikiert habe, ist diese Angst so weit verdrängt, dass sogar die Erinnerung daran, dass es dabei um die Bewältigung von Angst ging, verdrängt wurde.
Heinrich bringt darum die Aufklärung mit dem Bewusstsein in Verbindung, dass die Finsternis kein Schicksal, sondern überwindbar ist:
„Herum ranken sich um diesen Begriff vergleichsweise vage Metaphern […], die sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in allen europäischen Sprachen eingebürgert haben: im Französischen das ‚siècle éclairé‘ (das erleuchtete Zeitalter) und ‚les lumières‘ (die Lichter, die die Aufklärer ihm aufgesteckt haben und die sie selber sind), im Italienischen ganz ebenso ‚i lumi‘ und das ‚secolo di luce‘, im Englischen das ‚age of enlightment‘ (wobei ‚enlighten‘ ebenso erhellen wie erleuchten bedeutet); Metaphern, die insgesamt das verbindet, wogegen ‚Aufklärung‘ protestiert: gegen die finsteren Zeiten als Inbegriff einer nachwirkenden Vorgeschichte, gegen das sich noch immer durchsetzende ‚finstere‘ Mittelalter (noch Brecht wird in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen sagen: „Wahrlich, ich lebe in finsteren Zeiten!“), und zwar mit dem Akzent, daß die Verfinsterung keine natürliche und keine schicksalhafte (um noch einmal Brecht zu zitieren: „Die dunklen Mächte haben Name, Anschrift und Gesicht“), sondern eine durch feudale Territorialherren und den mit Territorialherreneigenschaft ausgestatteten Klerus, der zusätzlich zum Land die Gnadenmittel verwaltet, in Gang gehaltene und nur durch nur durch Zerbrechen dieser Instanzen zu beseitigen sei. Vorgebildet ist dieser Protest das ganze Jahrhundert hindurch in einer revolutionären Lichtmetaphorik: im Namen eines lumen naturale (eines natürlichen Lichts) hat jeder Mensch, der es nicht nur in sich trägt, sondern letztlich selber ist, das Recht, sich gegen Institutionen zu verwahren, die den Anspruch erheben, allein sie könnten ihn erleuchten, und dafür müsse er einen gehörigen Preis zahlen.“[5]
Das Licht als Leitmetapher ist in der Geschichte des abendländischen Denkens an unzähligen Stellen vertreten: in Platons Höhlengleichnis, im Prometheus-Mythos (das Symbol der Fackel und des Fackelträgers führt darauf zurück), im Johannesevangelium, in der sogenannten Gnosis und ihrem „Funken“ – man könnte schon beinahe fragen, wo das Versprechen von Aufklärung im Sinne des Versprechens, aus der Finsternis ins Licht zu treten, nicht vorkommt. Da würde man unter anderem auf die Mystik stoßen (die „dunkle Nacht“ des Johannes vom Kreuz, paradox bei Dionysios Areopagita „das Dunkel […], das heller ist, als alles Licht“[6]), deren Wirkungsgeschichte sich zur Romantik erstreckt, die sich ja als Gegenbewegung zur, bzw. Vollendung der Aufklärung verstand.
Heinrich verweist hier aber spezifizierend auf einige weitere Aspekte: Da ist einmal der Geschichtsbezug, also das Heraustreten aus einer finsteren Vorzeit hinein in eine aufgeklärte Zukunft – der Fortschritt in der Zeit, von dem schon die Rede war. Nachdrücklich ist das in Kants Formulierung benannt, derzufolge wir (ich schließe uns heute da mal mit ein) nicht „in einem aufgeklärten Zeitalter“, sondern „in einem Zeitalter der Aufklärung“ lebten[7]. Wir sind ‚im Begriff‘ der Aufklärung – Aufklärung ist nicht abgeschlossen und darum handelt sie von uns. Damit steht Aufklärung im Kontrast zu verschiedenen Lehren, die ich im Kontrast dazu der Einfachheit halber einmal „Erleuchtungslehren“ nennen will, die die Erkenntnis und die Befreiung von Angst und Finsternis im Jenseits der Zeit, also auch jenseits der Geschichte gesucht haben – die Gnosis wäre dafür ein Beispiel. Es scheint außerdem einen Zusammenhang zwischen diesem Ausstieg aus der Geschichte und dem Elitarismus, also der Vorstellung zu geben, dass die rettende Erleuchtung nicht der breiten Masse, sondern einigen wenigen vorbehalten ist.
Heinrich führt als Beispiel hierfür an anderer Stelle Friedrich Schillers Gedicht über die „Glocke“ an[8], mit dem er aus der Jakobinerherrschaft im Gefolge der französischen Revolution, die die Werte der Aufklärung politisch verwirklichen sollte, die Schlussfolgerung zieht, man dürfe die prometheische Fackel der Vernunft nicht ohne ordnungssichernde Vorsichtsmaßnahmen dem gemeinen Volk in die Hände geraten lassen, sonst breche eine Feuersbrunst los[9], die das im Gedicht beschriebene spießbürgerliche Idyll zu zerstören droht. Terry Eagleton (noch ein marxistischer Literaturtheoretiker, aber aus der Gegenwart) beschreibt zudem, wie es schon den Denkern der Aufklärung selbst oft mulmig wurde bei dem Gedanken, die gemeine Menge könnte sie all zu sehr beim Wort nehmen und die deswegen vertraten, etwa die althergebrachte Frömmigkeit, der man selbst den Kampf angesagt hatte, könnte doch zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nützlich bleiben. Der bürgerliche Wert der Toleranz – Toleranz gegenüber den kruden Vorstellungen und Lebensweisen der Unterschicht, an die man großmütig nicht dieselben Maßstäbe anzulegen bräuchte, wie an sich selbst als gebildeten Menschen –, der für die Aufklärung ebenfalls als charakteristisch gelten kann, hat sich zur Rechtfertigung dieser Art Doppelmoral als überaus brauchbar erwiesen. Mit der geschichtlichen Dimension dagegen ist die Hoffnung verbunden, dass diejenigen, die bislang von den materiellen und geistigen Privilegien der herrschenden Schicht ausgeschlossen waren, in der Zukunft daran teilhaben könnten.
Der Religionsphilosoph Jacob Taubes hat zu zeigen versucht, dass dieser egalitäre Geschichtsbezug nicht denkbar ist ohne die Tradition des sogenannten Chiliasmus oder Millenarismus, der maßgeblich auf Joachim de Fiore im 12. Jahrhundert zurückgeht. Der Begriff enthält das griechische bzw. lateinische Wort für „Tausend“ und bezieht sich auf die Prophezeiung eines tausendjährigen Reiches in der Johannesapokalypse, das nach der Endzeit anbrechen und in dem Christus gemeinsam mit den Heiligen herrschen werde. Für Taubes, einen Historiker und Philosophen der Apokalyptik, ist der Versuch der Aufklärung, das „finstere Mittelalter“ hinter sich zu lassen – eine Ausdrucksweise, die sich ja bis heute als eine Art Bekenntnis- oder Abwehrformel gehalten hat – nicht denkbar ohne die apokalyptische Tradition, die vom Judentum her auch das Christentum fundamental kennzeichnet und die ihm zufolge durch die Lehre des heiligen Augustinus – dem vielleicht wichtigsten Denker der westlichen Kirchengeschichte für das Mittelalter und die Kirche als etablierte innerweltliche Institution – neutralisiert wurde. „Neutralisiert“ heißt: Der Konflikt zwischen der unerlösten Gegenwart und der rettenden Zukunft wird entschärft – und damit ein prägender Antwortversuch auf einen das Christentum grundlegend strukturierenden Widerspruch gegeben.
Seit es besteht – Taubes sieht dieses Problem bereits in den Evangelien selbst vorliegen[10] –, gibt es für das Christentum nämlich das grundsätzliche Problem, dass es eigentlich auf einer apokalyptischen Verkündigung basiert – nämlich der jesuanischen Predigt des nahenden Gottesreiches, das die Unterdrückung des Volkes Israel beenden sollte –, dass sich aber diese Verkündigung schlicht nicht erfüllt hat; denn wir sind immer noch hier und die Welt ist noch immer, wie sie eben ist, obwohl das Heilsereignis schon stattgefunden hat. Augustinus löst dieses Problem seinerzeit dadurch, dass er die Kirche selbst, die nach dem Erscheinen Christi auf der Erde gegründet wurde, zur Statthalterin und innerweltlichen Verwirklichung dieses tausendjährigen Reiches erklärt, das gleichzeitig im Jenseits situiert und das folglich nicht mehr von der Zukunft erwartet werden konnte. Er neutralisiert Taubes zufolge damit die soziale und historische Sprengkraft der apokalyptischen Naherwartung:
„Damit ist die Hoffnung auf das tausendjährige Reich endgültig aus der Kirche verdrängt und wird fortan die Sache von Sekten. An die Stelle der allgemeinen [sprich: kollektiven, für die Allgemeinheit geltenden] Eschatologie tritt die individuelle Eschatologie [Eschatologie hier als die Frage nach der letztlich entscheidenden, absoluten Wirklichkeit]. In der Mitte steht jetzt das Schicksal der Seele, und die Endzeit ist verdrängt vom letzten Tag des menschlichen Lebens. Die individuelle Eschatologie beherrscht von Augustin an die christliche Religion der katholischen und protestantischen Konfession. Die allgemeine Eschatologie, die in sich die Hoffnung auf das Reich trägt, tritt im christlichen Raum von nun an als Häresie [also Ketzerei, Irrlehre] auf.“[11]
Darauf fußt dann die mittelalterliche Einheit von Kirche und Staat. Den Grundstein für den Auszug der Aufklärung aus dieser durch Klerus und Adel regierten Finsternis wird nun durch Joachim de Fiore gelegt, indem er die apokalyptische Prophezeiung des tausendjährigen Reiches neu deutet und wieder in die Geschichte einführt: Er teilt die Geschichte in drei Zeitalter, die von der göttlichen Dreieinigkeit abgeleitet sind: Das Zeitalter des Vaters entspricht dem des Alten Testaments, das des Sohnes dem der Herrschaft der Kirche und das Zeitalter des Heiligen Geistes, das er für die Nahe Zukunft vorhersagt, beendet die geistliche Autorität der Kirche und leitet das Zeitalter des Heiligen Geistes ein. Joachim interpretiert also die Trinität apokalyptisch und historisch. Wie wirkmächtig dieses Gedankengut ist – auch wenn der Name Joachims anders als der Kants nur sehr wenigen bekannt sein dürfte –, zeigt unsere nach wie vor übliche Dreiteilung der Geschichte in Altertum, bzw. Antike, Mittelalter – denn in der Mitte zwischen was und was befindet sich das denn eigentlich? – und Neuzeit, bzw. das, was wir heute Moderne nennen. Der Heilige Geist Joachims ist das Prinzip einer ecclesia spiritualis, einer geistlichen Kirche, in welcher der Unterschied zwischen Laien und Priestern aufgehoben wird. Darauf gründet sich in der Nachfolge Joachims die Bewegung der Spiritualen und revolutionären Sekten, an deren historischer Spitze dann Thomas Müntzer in der Reformationszeit steht – also der von Luther geschmähte Reformator, der als Protagonist der Bauernkriege tatsächlich aus dem Programm einer geistlichen Gleichheit auch die Forderung nach sozialökonomischer Gleichheit ableitete, der also als Reformator auch Revolutionär sein wollte. Er bestritt mit Joachim die kirchlich gegründete Hierarchie und deren Anspruch auf „Eigentum an Gnadenmitteln und ihrer Verwaltung“[12] – wie Heinrich es an die marxistische Formel vom Eigentum an den Produktionsmitteln formuliert – und ging darin weiter als Luther, dass „man es nicht nur den predigenden Theologen, sondern jedem gestatten müsse, das Evangelium und sein Licht allen zugänglich zu machen, daß daraus das Recht auf Gleichberechtigung und der Kampf gegen reale Ungleichheit, insbesondere gegen Frondienst und Abgaben, abzuleiten sei“[13] – so Heinrich, der wie Taubes in dieser revolutionären Pneumatologie, also dieser revolutionären Lehre vom Heiligen Geist den unmittelbaren Wegbereiter des lumen naturale, des natürlichen Lichts der Vernunft bestimmt, das das leitende Prinzip der Aufklärung werden und die Selbstlegitimierung des revolutionären Bürgertums tragen sollte: Nicht länger steht das lumen supernaturale/das übernatürliche Licht geoffenbarter Wahrheiten im Zentrum der Weltdeutung und der Organisation von Gesellschaft, das nur vermittelt durch die Kirche als autorisierte Heils- und Wahrheitsverwalterin zugänglich war (in der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils gibt es hierfür den schönen, an das Finanz- und Bankenwesen erinnernden Ausdruck „depositum fidei“, „Glaubensrücklage“). Stattdessen wird der Heilige Geist verstanden als einer, der allen ohne Anleitung eines anderen zugänglich sein sollte, der die Verheißung des Reiches Gottes wieder auf die Erde und in die Geschichte platzierte, der sich dann in der bürgerlichen Gesellschaft „nicht in Form einer intelligentia spiritualis verwirklicht, nicht als Spiritualität, sondern als spiritus scientiae, als Wissenschaft, zum Zuge kommt.“[14] So, wie es ja auch in unserem heutigen Begriff des Geistes oder des Geistigen noch anklingt, kann man die Vernunft – die große Lichtspenderin der Aufklärung – als Säkularisat des Heiligen Geistes verstehen.
„Der zunehmende Schwund der Transzendenz des Lichtes innerhalb der Neuzeit ist begleitet von einer Aufwertung des natürlichen Lichtes des Verstandes oder der Vernunft in ein Licht des menschlichen Geistes.“[15]
Die durch den kirchlichen Heilsverwaltungsapparat vermittelte übernatürliche Vernunft tritt aus der Transzendenz in die Immanenz ein und man traut ihr zunächst zu, wie in Gestalt der Enzyklopädie, die auch stark durch Anwendungs-, also technologisches Wissen geprägt war,
„in einer ganzen Reihe von für das Leben wichtigen Fragen zu positiven Ergebnissen [also zu Ergebnissen mit einem den vormaligen Vorschriften und Dogmen äquivalenten Orientierungswert] zu gelangen, die keiner auf Glauben begründeten Korrektur mehr bedürfen, wobei für die radikalen Vertreter der Aufklärung, vor allem in Frankreich, die Behauptung hinzukommt, daß der Verstand in allen für das menschliche Leben wichtigen Fragen solche Ergebnisse erreichen kann.“[16]
Gerade in Frankreich traut man der Vernunft also zunächst recht unbefangen die Fähigkeit zur Welterklärung zu – die angelsächsische Schule etwa ist da traditionell skeptischer – und die Vernunft übernimmt zudem die Ordnungsfunktion, die vorher der kirchlich autorisierten theologisch-philosophischen Welterklärung – der sogenannten Scholastik – zukam. Bei Ordnungsfunktion denke man nicht bloß an logisches Denken, sondern auch an das Chaos revolutionärer gesellschaftlicher Umwälzungen und nicht zuletzt den 30-jährigen Krieg, mit dem die Erfahrung einhergeht, dass die Religion sich nun nicht mehr als stabilisierende, einheitsstiftende und Konflikte vermittelnde Macht, sondern als Quelle von Konflikt und Krise erwiesen hat – und die folglich durch etwas anderes gezähmt werden musste. Thomas Hobbes, der große Theoretiker des modernen Staates, entwickelte zu dieser Zeit die Idee des Staates als eines künstlichen, durch einen Vertragsschluss statt durch göttliche Autorität begründeten Gebildes, das als menschlich konstruierter „sterblicher Gott“[17] zusammenhalten soll, was ohne die bindende Kraft religiöser Autorität zu zerfallen droht. Eine analoge Aufgabe im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben der nun als Individuen in Erscheinung tretenden Bürger erfüllt die Vernunft: „Im Hinblick auf das Individuum spielt die Vernunft jetzt dieselbe Rolle wie der souveräne Staat in der Politik, der sich um das Wohlergehen des Volkes kümmerte und Fanatismus und Bürgerkrieg bekämpfte“[18], so schreibt Max Horkheimer. Allerdings stellt sich nun die Frage: Was genau ist die Vernunft und wie stiftet sie den Zusammenhalt der entstehenden und nicht mehr ein Ganzes darstellenden, sondern aus einzelnen Individuen bestehenden bürgerlichen Welt, den die Religion nicht mehr stiftet?
„Dem Schwinden der umfassenden innen- und außenpolitischen Funktion der Kirche in der europäischen Gesellschaft entsprach das Schwinden des Allgemeinen als genuinen Moments der philosophischen Theorie. Die Einzelnen gelangten zu ihrer von den anderen beschränkten Selbständigkeit.“[19]
Nicht zufällig ist es Kant, der sich diese Frage in Deutschland mit einer Dringlichkeit stellt, die die französischen und englischen Aufklärer zunächst nicht so sehr beschäftigt, da das Bürgertum dort stark genug ist, sie sich nicht stellen zu müssen, so lange es den Anspruch erheben kann, im Namen der Allgemeinheit für die Überwindung der überkommenen Ordnung zu kämpfen. Im der historischen Entwicklung notorisch hinterherhängenden Deutschland liegen die Dinge etwas anders und Kant stellt sich die Aufgabe, nicht bloß sich des eigenen Verstandes zu bedienen und damit vorurteilsfrei die Welt zu erkennen – sondern die Vernunft als Vermögen selbst einer vernünftigen Erfassung zugänglich zu machen und so gegen Willkür zu sichern, also die Vernunft zu begründen, indem sie sich selbst – vergröbernd gesprochen ‚abtastet‘. Die Vernunft wird bei Kant reflexiv, sie ist nicht mehr unmittelbar das Vermögen, das alles erklären kann, sondern sie muss zunächst selbst erklärt werden. – Hier liegt Kants berühmte „kopernikanische Wendung“, die er in Anlehnung an den Perspektivumkehrung im Übergang vom ptolemäischen oder geozentrischen zum kopernikanischen oder heliozentrischen Weltbild für sich in Anspruch nimmt – die „veränderte Methode der Denkungsart“, derzufolge „wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“[20], statt davon auszugehen, dass unsere Vorstellungen von den Dingen direkt von diesen selbst herrührten. Die Vernunft ist also in dem, was sie erkennt immer schon tätig – sie erkennt nicht einfach die Natur, wie sie an sich ist, sondern diese spiegelt ihr ihre eigene Natur zurück: Wir erkennen einen Kausalzusammenhang in der Natur nicht etwa, weil es ‚da draußen‘ Kausalität gäbe, sondern weil es die Natur der Vernunft ist, kausal zu verfahren. Kant will also fort vom ‚direkten’ Versuch, die Wirklichkeit mittels Vernunft zu erkennen, da ohne die Stütze der Religion die Gefahr des Relativismus droht (die für Kant mit David Humes Skeptizismus verbunden war), also die Gefahr, dass nichts sich mehr mit logischer Notwendigkeit, also allgemein verlässlichfeststellen lässt, da ein Denken, das keine verbindlichen allgemeinen Prinzipien mehr zur Verfügung hat, auf die immer unzuverlässige Erfahrung in der Zeit verwiesen ist – wie sich bei Hume niemals mit Sicherheit sagen lässt, ob etwa das Gravitationsgesetz auch morgen noch und für einen Gegenstand genau so wie für einen anderen gelten mag.[21] Sondern der Vernunfterkenntnis muss nach Kant eine „Kritik ihres eigenen Vermögens“[22] vorausgehen. Die Vernunft fügt die Wirklichkeit, anders ausgedrückt, immer schon nach Prinzipien zusammen, die ihr unbewusst sind – der Begriff bei Kant und im Anschluss an ihn dafür ist „Synthesis“, also „Zusammenfügen“ – und darin steckt auch die Bedeutung, dass die Wirklichkeit, wie sie uns selbstverständlich erscheint, wie wir sie spontan wahrnehmen, wie sie uns durch den „gesunden Menschenverstand“ erscheint, schon synthetisch, also gewissermaßen künstlich, hergestellt, konstruiert ist. Kant will die Prinzipien, nach denen diese Synthese stattfindet, aufklären und auf diese sich selbst erkennende Vernunft ein System von Erkenntnis und Moral aufbauen, das nicht beansprucht, die Welt, wie sie wirklich an sich ist zum Gegenstand zu haben, sondern sich allein dadurch legitimiert, dass sie allen vernunftbegabten Wesen, weil ihr Zugang zur Wirklichkeit eben durch die Vernunft strukturiert ist, so erscheinen muss. – „Erscheinung“ ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff Kants für eine ebensolche Wirklichkeit, die in sich strukturiert ist und sich also mit einer inneren, verbindlichen Notwendigkeit darstellt, zugleich aber zwischen der Wirklichkeit als solcher und ihrer Erkenntnis steht, diese also ebenso sehr verunmöglicht, wie sie der einzig vernünftige Weg dahin ist. Das Ergebnis ist dann bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft eine Sammlung von formalen logischen Prinzipien und Kategorien, die deshalb einen allgemeinverbindlichen Zusammenhang stiften können sollen, weil sie formale, nicht von historischen Umständen oder anderen Erfahrungs-Zufälligkeiten abhängige Gültigkeit für alle Vernunftwesen beanspruchen.
Ich will von hier aus abschließend – natürlich sehr grob – skizzieren, was ich für das doppelte Erbe der Kantischen Versuchs, die Vernunft über sich selbst aufzuklären, halte:
Einmal dient er der Legitimation und Rationalisierung der Preisgabe der alten, metaphysischen Frage nach dem Wesen der Dinge selbst, um die man sich dann nicht mehr kümmern muss (diese Preisgabe hat natürlich eine Vorgeschichte im Spätmittelalter und im sogenannten Universalienstreit, auf die ich nicht weiter eingehen kann[23]). Die Frage „Was ist das?“ stellt sich dann nicht mehr, sondern nur die: „Was machen wir daraus?“ Kant setzt die Natur, die ja nicht an sich selbst, wie sie „wirklich“ ist erkannt werden kann, darum als unbestimmten Stoff, als chaotische Mannigfaltigkeit, als „Gewühle von Erscheinungen“[24] der ordnenden und strukturierenden Vernunft entgegen. Die Natur hat keine eigene Beschaffenheit mehr, da diese nur von der Vernunft herkommt. Sie ist dadurch beteiligt an der von Horkheimer und Adorno benannten Dialektik der Aufklärung, also an einer Dynamik, in der Aufklärung als Befreiung der Menschen aus Angst, Knechtschaft und Finsternis in ihr Gegenteil umschlägt: Vernunft wird zu Herrschaft, da als erkennbar und sinnvoll nur das gilt, was durch sie hergestellt werden kann. Sie sollte, wie Horkheimer und Adorno schreiben, „die Menschen als Herren“ einsetzen, aber der Entsubstantialisierung der Dinge, die ihnen keine Eigenständigkeit, sondern bloß durch den Menschen aufgeprägte Bestimmungen zugesteht, trifft auch den Menschen selbst, der zum Knecht der Vernunft wird – die gerade dadurch wieder zu einem fremden Schicksal, einer mythischen Zwangsgewalt wird. (Das sehen wir heute an unzähligen Stellen: die Dialektik der Selbstoptimierung, bei der der Verdacht aufkommt, die Optimierung diene nicht dem Selbst, sondern umgekehrt solle sich das Selbst möglichst spurlos hinwegoptimieren; die dazu passende, auf die künstliche Intelligenz projizierte Sehnsucht, kein Triebwesen mehr sein zu müssen, sondern reibungslos, ‚rational’ zu funktionieren, oder – kürzlich wieder virulent geworden und zum Kern der Sache führend – das Opfer der eigenen Lebenszeit, psychischen und körperlichen Gesundheit, sowie der ökologischen Grundbedingungen zivilisierten Lebens zugunsten des Weiterfunktionierens der „Wirtschaft“ im Arbeitsprozess). Diese Logik richtet sich also gegen die Vernunft selbst: Nicht umsonst erscheint „Vernunft“ uns heute als großes, pathosbeladenes Wort, in dem Wahrheits- und Absolutheitsansprüche nachklingen, die wir heute quasi als theologische Restbestände wahrnehmen, die durch kein „wissenschaftliches“ Verfahren als zwingend nachgewiesen werden können und die uns daran hindern, noch „rationaler“ zu werden (wir sprechen heute oft eher von „Rationalität“, die eher mit Effizienz und Funktionalität konnotiert ist, als mit Wahrheit, Aufklärung, Freiheit und all diesen sentimentalen Überbleibseln) und selbst der Mensch „vorm Menschen zum Anthropomorphismus“[25] wird. Der Mensch, der die Natur zum bloßen neutralen durch Rationalität zu ordnenden Stoff macht, bezieht sich als reines Vernunftwesen auf sich selbst als reines Naturwesen und dadurch ebenfalls auf bloßen, beliebig formbaren Stoff. Es sei hier hervorgehoben, woran Klaus Heinrich erinnert: Die Widerständigkeit und bleibende Aktualität des Begriffs der Aufklärung hängt auch damit zusammen, dass er für uns – wenn wir wiederum nicht bildungsbürgerlich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen – ganz selbstverständlich mit dem Bereich der Sexualität, also mit „Sexualaufklärung“ verbunden ist und daran erinnert, dass wir Triebwesen sind – auch im Sinne von „getriebene Wesen“ –, erotische Wesen, die in der „reinen Vernunft“ nicht aufgehen – dass die Sexualität zuinnerst zusammenhängt mit dem, was sich im Leben nicht verstehen oder auf Wissen reduzieren lässt, über das wir immer wieder – wie die Psychoanalyse zeigt – stolpern: die Differenz zwischen mir und dem Anderen bzw. meinem Körper und dem des Anderen, die Frage woher wir kommen und was das Leben ist, ob es lohnt, gelebt zu werden, was uns an- und umtreibt, wonach wir uns sehnen und – buchstäblich – wovon wir träumen. Taubes erinnert in einem kleinen, aber genialen Essay über die Geschichte der Vernunft, im Angesicht der Dialektik der Aufklärung, also des Umschlagens der Vernunft in Herrschaftstechnik und ihrer Neutralisierung gegenüber den Lebensinteressen und Leidenschaften der Menschen, daran, dass für Kant Aufklärung als – wie Taubes es ausdrückt – „Exegese“ der drei Fragen: „Was können wir wissen?“, „Was sollen wir tun?“ und „Was dürfen wir hoffen?“ bestimmt ist, dass aber die letzte Frage, ohne die die zusammenfassende Frage „Was ist der Mensch?“ nicht beantwortet werden kann, der Verdrängung anheim gefallen ist[26] – mit dieser Frage sind, so will ich hier unkonventionellerweise verdichten, der Verdrängung also anheimgefallen die religiöse Hoffnung – ich erinnere an das apokalyptische, chiliastische Erbe der Aufklärung – und das sexuelle Begehren. (Die Verbindung von Religion und Erotik war das erklärte Lebensthema des Philosophen Georges Bataille, das er der bürgerlichen Aufklärung und ihrem Rationalitätsideal als deren „verfemten Teil“ entgegenhielt.)
Das führt mich zur anderen Seite des Erbes der Kantschen Kritik der reinen Vernunft: Ich sprach von Verdrängung und ich sprach von Apokalyptik und das verweist auf Freud – zu dem ich nun schon etwas gesagt habe – und Marx. Beide können – und ich würde sagen: müssen – in einem entscheidenden Sinne als aufklärerische Vernunftkritiker in der Tradition Kants verstanden werden (häufig in den Lehrbüchern und in den offiziellen Erzählungen hört die aufklärerische Tradition ja schon bei Kant auf und danach geht es abwärts). „Kritik“ heißt bei Kant ja nicht „Ablehnung“ oder „Denunziation“, sondern vom griechischen „κρίνειν“etwa „unterscheiden“ oder auch „prüfen“ und ich hatte gesagt, dass Kant darauf zielt, die unbewussten Voraussetzungen unserer Denkakte der Vernunft zugänglich zu machen. Kant kann aber das Gegebensein dieser Voraussetzungen selbst nicht weiter erklären, sondern behauptet eben, wir können nun einmal nicht anders, als so und in diesen Kategorien zu denken. Das Wort „Kategorie“ – das sich vom öffentlichen Sprechen, genauer der Anklage im öffentlichen Interesse auf der Agora im Rahmen der antiken Gerichtsprozesse herleitet[27] – deutet aber bereits darauf hin, dass diese Kategorien, dass die Begriffe eine Geschichte haben – vielleicht der entscheidende, schon von G.W.F. Hegel gegen Kant formulierte Einwand –, dass sie nicht nur Formen, sondern auch Inhalte sind, die in den Rang einer strukturierenden Allgemeinverbindlichkeit erhoben werden, die also als „geltend“ anerkannt und bestimmt worden sind. Die Vernunft hängt mit der Geschichte und dem Sprechen zusammen, dadurch aber zeigt sich, dass sie etwas Soziales ist:
„Vernunft ist eine soziale Kategorie: sie setzt voraus, das Menschen sprechen. Die logischen Regeln sind in Sprache verkörpert. Sprache jedoch vermittelt zwischen dem isolierten Individuum und der Gemeinschaft, zwischen Mensch und Gesellschaft.“[28]
Die bürgerliche Aufklärung, die ihre Erkenntnistheorie und Moral stets vom Individuum aus entwickelt, ist blind für den gesellschaftlichen Zusammenhang, der dieses Individuum erst zum maßgeblichen Akteur autorisiert. Sie verdrängt den gesellschaftlich-historischen Rahmen, der die Vernunft des bürgerlichen Individuums zu einer allgemein gültigen macht – und sie verdrängt den Preis, den sie und den andere dafür zahlen müssen, denen die Privilegien dieser Autorisierung als bürgerliches Subjekt vorenthalten bleiben. Die Kategorien der Vernunft sind also nicht selbstgenügsam und Vernunftkritik für Marx besteht darin, die Kategorien, in denen wir selbstverständlich denken, durch kritisches Denken auf etwas zu beziehen, dass nicht selbst Denken ist, sondern materiell – und das ist die gesellschaftliche Praxis, das heißt: Während wir für Kant beim Denken immer schon die Wirklichkeit in die Form unserer Vernunftkategorien zu bringen, ohne das zu wissen, ist diese Zurichtung der Wirklichkeit bei Marx immer schon eine, die in der gesellschaftlichen Praxis passiert, bevor sie im Denken stattfindet – wir tun immer schon, was wir denken, bevor wir es denken, oder wie Marx es formulierte: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“[29] Die formale Rationalität, die technisch-machtförmige Vernunft, die aus der Dialektik der Aufklärung resultiert, wird bei Marx erkennbar alsRepräsentantin des kapitalistischen Arbeitsprozesses, der die gesellschaftliche Synthesis, den Zusammenhang der Gesellschaft stiftet, der zwischen den Dingen an sich nicht mehr besteht – die Arbeit, die den naturwissenschaftlich organisiserten Gewaltapparat von Industrie und Technik am Laufen hält, richtet die Dinge zu einer „ungeheure[n] Warensammlung“[30] zu, die immerfort zirkulieren muss – Arbeit, Konsum, Kauf, Verkauf. Der Sog der Warenform, alles quantifizier-, miteinander vergleich- und durch einander austauschbar zu machen, die praktisch erfolgende Gleichsetzung von Unterschiedlichem im Tausch, ist die Praxis, die derjenigen Vernunft vorgelagert ist, die alles zu begriffs- und geschichtslosen Elementen derselben formalen Logik erklärt.[31] Die bürgerliche Vernunft ist bewusster Ausdruck einer unbewusst ablaufenden gesellschaftlichen Praxis – und als solche ist sie notwendig-falsches Bewusstsein, Ideologie.
Aufklärung heute in der Tradition der Vernunftkritik Kants ist also nach Marx als Ideologiekritik fortzusetzen: Sie stellt an uns den Anspruch, die Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft, der die Menschen opfern wie einem finsteren Götzen, als unvernünftig, also als menschenfeindlich zu kritisieren – und zwar, indem sie kritisch aufzeigt, wie die Formen unseres Denkens notwendig unserer gesellschaftlichen Praxis verhaftet bleiben, diese Praxis selbst aber keineswegs notwendigerweise so sein müsste, wie sie es ist – auch wenn wir an ihr hängen, weil sie uns Orientierung in der Welt stiftet. Diese feste Orientierung in einer vom Chaos bedrohten Welt wäre der Preis, den wir auch heute zu zahlen hätten, um hoffen zu dürfen auf einen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
[1] Lucien Goldmann Der christliche Bürger und die Aufklärung (München: Luchterhand, 1968), S. 6.
[2] Klaus Heinrich Aufklärung in den Religionen und der Religionswissenschaft. Dahlemer Vorlesungen 8 (Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld, 2007), S. 20.
[3] Theodor W. Adorno Fortschritt inders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977), S. 615.
[4] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Frankfurt a.M.: Fischer, 1969), S. 9.
[5] Heinrich Aufklärung in den Religionen, S. 18f.
[6] Dionysios Areopagita Mystische Theologie in ders.: Mystische Theologie und andere Schriften (München: Otto Wilhelm Barth-Verlag, 1956), S.165.
[7] Immanuel Kant Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783) in Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen (Stuttgart: Reclam, 1974), S. 15
[8] S. Klaus Heinrich Vom Bündnis denken. Religionsphilosophie. Dahlemer Vorlesungen 4 (Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld, 2000), S. 86f.
[9] „Weh, wenn sich in dem Schooß der Städte/der Feuerzunder still gehäuft, /Das Volk, zerreissend seine Kette,/Zur Eigenhilfe schrecklich greift!/Da zerret an der Glocke Strängen/Der Aufruhr, daß sie heulend schallt,/Und nur geweiht zu Friedensklängen/Die Losung anstimmt zur Gewalt./Freyheit und Gleichheit! hört man schallen,/Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,/Die Straßen füllen sich, die Hallen,/Und Würgerbanden ziehn umher,/Da werden Weiber zu Hyänen/Und treiben mit Entsetzen Scherz,/Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,/Zerreissen sie des Feindes Herz./Nichts heiliges ist mehr, es lösen/Sich alle Bande frommer Scheu,/Der Gute räumt den Platz dem Bösen,/Und alle Laster walten frey./Gefährlich ist’s den Leu zu wecken,/Und grimmig ist des Tigers Zahn, /Jedoch der schrecklichste der Schrecken/Das ist der Mensch in seinem Wahn./Weh denen, die dem Ewigblinden/Des Lichtes Himmelsfackel leihn!/Sie leuchtet nicht, sie kann nur zünden/Und äschert Städt’ und Länder ein.“
[10] Jacob Taubes Abendländische Eschatologie (Berlin: Matthes & Seitz, 1991), S. 77f.
[11] Taubes Abendländische Eschatologie, S. 109.
[12] Heinrich Aufklärung in den Religionen, S. 19.
[13] Ebd.
[14] Taubes Die Intellektuellen und die Universität in ders.: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft (München: Wilhelm Fink, 1996), S. 320.
[15] Werner Beierwaltes/ Redaktion (1980): «Lumen naturale», in: J. Ritter/K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Sp. 547-, Basel: Schwabe Verlag.
[16] Goldmann Der christliche Bürger und die Aufklärung, S. 7.
[17] S. Thomas Hobbes Leviathan (Hamburg: Felix Meiner, 1996 [1651]), S. 145.
[18] Max Horkheimer Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Frankfurt a.M.: Fischer, 1967), S. 27.
[19] Karl Heinz Haag Kritik der neueren Ontologie in: Kritische Philosophie. Abhandlungen und Aufsätze (Stuttgart/München: edition text + kritik, 2012), S. 26.
[20] Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft [1781/1787] (Hamburg: Felix Meiner, 1998) ), S. 22/B XVII.
[21] Dies mag als an den Haaren herbeigezogene Position erscheinen, sie erwächst aber aus der realen Erfahrung und der Furcht des – auch gesellschaftlichen und psychischen – Chaos.
[22] Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 34/B XXXV.
[23] Vgl. dazu vor allem die Schriften Karl Heinz Haags.
[24] Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 218/A 111.
[25] Horkheimer/Adorno Dialektik der Aufklärung, S. 64.
[26] Taubes Vier Zeitalter der Vernunft in: Vom Kult zur Kultur, S. 317f.
[27] S. Klaus Heinrich tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik. Dahlemer Vorlesungen 1 (Freiburg/Wien: ça ira, 2021 [1981]), S. 36f.
[28] Taubes Vier Zeitalter der Vernunft, S. 307.
[29] Karl Marx Das Kapital I: Der Produktionsprozeß des Kapitals [1867] (Frankfurt a.M./Wien/Berlin: Ullstein, 1969), S. 53.
[30] A.a.O., S. 17.
[31] Ausführlich herausgearbeitet hat dies Alfred Sohn-Rethel.