Diskurs

Von Gott, Objektivität und Gegenwart – oder vom Ausweg aus dem Fliegenglas

der objektive standpunkt und ich

ein sommer vor ein paar jahren
der kleine laden für antiquitäten 
in einer der gassen von buenos aires 
und dort fand ich gut versteckt
den objektiven standpunkt 

in einer kiste mit muschelschalen
lag er neben dem glasperlenspiel 
ganz unscheinbar 
doch unverkennbar

dann schob ich das kistchen 
zwischen die regale und verließ 
laden stadt und land

den weg zurück würd 
ich wohl nicht mehr finden
aber freundlich lächle ich
wenn einer seine wahrheit mir 
als unumstößlich präsentiert

 (©️ Charlotte van der Mele, mit freundlicher Genehmigung) 

Am Beginn dessen, was wir in Europa Neuzeit nennen, stehen zwei folgenschwere Veränderungen des Weltbezuges – die kopernikanische Revolution des Weltbildes, welches die Erde aus dem Zentrum des Kosmos rückt, und die cartesianische, welche das ICH ins Zentrum stellt. Während also die Erde an den Rand des kosmischen Geschehens versetzt wird, rückt das erkenntnisbegründende ICH in die Mitte und wird zum Ausgang der Welterkenntnis.
Nicht mehr Gott, nicht mehr die Dinge sind voraussetzungsloser Punkt der Gewissheit und des Wissens, sondern das denkende ICH.
Immerhin bemerkt Descartes, dass ein archimedischer Punkt ihm nicht hilft, um die alte Welt aus den Angeln zu heben. Denn entweder steht er auf diesem Punkt oder er setzt auf ihm seinen Hebel an. Er benötigt einen zweiten objektiv gegebenen Punkt außerhalb des ICH und findet diesen in Gott, der denknotwendig ist, also notwendig sein muss.
Auf diesen beiden objektiv gegebenen Punkten baut Descartes ein Weltwissen auf, dass irrtumsfrei ist, solange er seine Zustimmung dem ver-weigert, was nicht intuitiv evident ist oder sich notwendig ableiten lässt aus dem, was als wahr erkannt wurde.

Immanuel Kant zerstört diese schöne Vorstellung in der Kritik der reinen Vernunft, indem er deutlich macht, dass Gott nicht beweisbar sei (womit er den Atheismus für widerlegt erklärt). Dadurch aber fielen sowohl Gott als auch objektive Erkennbarkeit der Welt aus den Möglich-keiten der Menschen. Wir erkennen die Welt, wie sie für uns, aber nicht, wie sie an sich ist. Damit entlässt Kant uns in die Moderne. 

Und hier stehen wir also: Mit einem ungezügelten Subjektivismus und einer objektiv nicht fassbaren Wirklichkeit. Die Idee, dass es keinen objektiven Standpunkt gäbe, hat sich verwandelt in die nunmehr postmoderne Erfahrung, dass jedes ICH seinen objektiven Standpunkt in sich trüge und – so scheint es – diesem unbedingte Geltung verschaffen müsse.
War die Moderne noch geprägt von dem Impetus einer kommunikativen Verständigung auf das beste Argument und die Akzeptanz seines zwanglosen Zwanges, stehen wir heute wieder vor der Frage nach der Macht, die eigenen Überzeugungen durchsetzen zu können.
Weil es aber keinen objektiven Standpunkt gibt, gibt es keine objektive Möglichkeit, dem ganzen subjektiven Sinn und Unsinn, der sich Bahn bricht, objektiv zu begegnen – das postmoderne Dilemma des anything goes, aus dem wir ohne weiteres nicht herauskommen.

Gibt es einen Ausweg aus dem Fliegenglas? Nun, das erste wäre der Versuch, sich vom Subjektivismus zu verabschieden.
Menschen, die ihr Selbst so ernst nehmen, dass sie meinen selbst zu denken, sind natürlich rührend. Aber ihr Selbstdenken ist ja immer wie bei allen Menschen im besten Falle ein Selbstnachdenken. Dann ginge es also darum klarzumachen, welche Grundannahmen und unbegründeten Überzeugungen dem jeweiligen Nachdenken zugrunde liegen, welche Evidenzen diese haben und ob sie für eine gesellschaftliche Praxis normativ gemacht werden sollen.
Als zweites wäre mit dem Subjektivismus auch der Objektivismus zu verabschieden. Das Wort objektiv bezeichnet im besten Falle, ob etwas aufgrund geltender Regeln allgemeingültig ist oder nicht. Diese Regeln unterscheiden sich, weil es natürlich auch keine objektiven Regeln für alles gibt. Wittgenstein spricht von Sprachspielen oder alternativ von Lebenswelten. Was bei Schach objektiv gilt, gilt nicht bei Skat – wie der Schachkönig ja auch ganz anderen Regeln folgt als der König beim Skat. In gleicher Weise sind die Objektivitäten der Wissenschaften nur eine der Regeln, die gerade gelten. Sie beschreiben nicht, wie es objektiv ist, sondern was objektiv als Methoden einer wissenschaftlichen Wissens-gewinnung anerkannt ist. Objektiv notwendige Folgen aus diesen Erkenntnissen für ein gesellschaftliches Leben gehören nicht dazu. Das wäre dann wieder ein anderes Sprachspiel. Und Wissenschaften sind Konventionen. Es ist denkbar, dass andere Methoden zu wesentlich besseren und genaueren Abbildungen der Wirklichkeit führen – die heute aber als unwissenschaftlich gelten.
Was für die Wissenschaften spricht und dafür, ihre Ergebnisse als Grundlage gesellschaftlicher Praxis zu beachten, ist die Transparenz ihres Methodenkastens und ihre Evidenz, die sich aus der Überprüfbarkeit dieser Ergebnisse ergibt. Aber auch das macht sie nicht objektiv an sich. Sie haben keinen Anspruch auf begründungslose Umsetzung in gesellschaftliche Regeln. Sie haben jedoch wirklich sehr starke Argumente, die von denen, die sie ablehnen, erst einmal widerlegt werden müssten, wenn diese ihre Überzeugungen normativ machen wollen.
Und damit sind wir bei dem Punkt, der das Wort objektiv so problematisch macht. Verbunden mit der Idee der Objektivität ist die der Macht. Wenn Descartes Gott als objektiven Punkt seiner gesamten Wirklichkeitskonstruktion wählt, wählt er die Macht schlechthin – und im Umkehr-schluss bekommt die Idee der Objektivität quasi eine göttliche Qualität.
Wenn Kant nun aber die Idee der göttlichen Objektivität aus den Möglichkeiten des Menschen im Blick auf die reine Vernunft ausschließt, schließt er in gewisser Weise die Möglichkeit der Objektivität aus (Objektiv sind nur noch die Strukturen menschlicher Erkenntnismöglich-keiten). Er versetzt dann jedoch die Erkenntnis Gottes in den Bereich der praktischen Vernunft.
Ohne das weiter auszuführen – das wäre dann der Ort des Glaubens. Gott sichert keine Objektivität, aber SIE bedingt mich. Ist Grund meines Lebens und meiner Überzeugungen und meiner Haltung. Die ich nicht begründen kann. Die ich daher auch nicht zum Maßstab machen kann. Aber die ich erklären – bezeugen – leben kann. Und die dann im besten Falle auch überzeugend sind. Damit wird sie zu einer Absage an Macht und an Durchsetzbarkeit. Aber nicht in einem passiven Sinne, sondern als radikal kritische Infragestellung aller, die präfaktisch, faktisch oder postfaktisch argumentieren, um eigene  — und zwar nicht nur religiöse, sondern auch gesellschaftliche — Ansprüche durchzusetzen. 

Was das im einzelnen heißt, ließe sich an Beispielen diskutieren: Coronaleugnung, Kapitalismus, Asylpolitik, Patriotismus, oder Wissen-schaften und ihre Inanspruchnahme für irgendwelche Thesen. Und das ganze mit einem Lächeln für all die, die alles ganz genau wissen.

Dieser Text ist ein Beitrag für die „Briefe“.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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