Diskurs

Gegenwartslyrik VI

Wann sich im Herd die Asche wellt

Wann sich im Herd die Asche wellt
und durch das kalte Gitter fällt
und sich im Winkel find’t kein Scheit,
ist es die allerbeste Zeit,
um von der Glut zu schreiben.

Wann Tag wird es in dem Hotel
und knarrt das leere Bettgestell
und seufzt der Flur vor Einsamkeit,
ist es die allerbeste Zeit,
um von der Glut zu schreiben.

Wann still es wird im fremden Land
und der Kumpan, wozu er stand,
verriet und gut dabei gedeiht,
ist es die allerbeste Zeit,
um von der Glut zu schreiben.

„Wenn sich im Herd die Asche wellt…“
Aus: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Herausgegeben von Erwin Chvojka. Band 3, Seite 598 © Paul Zsolnay Verlag Wien 1997 und 2004 – mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Theodor Kramer (1. Januar 1897 – 3. April 1958) war ein österreichischer Lyriker. Er schrieb rund 12.000 Gedichte, von denen nur ein kleiner Teil veröffentlicht wurde. Als Jude und Sozialdemokrat hatte er nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland im Jahr 1938 ein Arbeits- und Berufsverbot. Im Jahr 1939 emigrierte er nach London und erhielt 1946 die britische Staatsbürgerschaft. Nach dem Ende des Krieges lehnte er es ab, nach Österreich zurückzukehren. Erst 1957 schwerkrank kehrte er nach Wien zurück und starb am 3. April 1958 an den Folgen eines Schlaganfalls.

Hans-Eckart Wenzel hat einige Gedichte Kramers vertont.

Paul F. Martin

Studienleitung Theologie/ Gesellschaft/ Kultur
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