Ansprache zum Volkstrauertag 13.11.2022 in Lutherstadt Wittenberg
(Es gilt das gesprochene Wort)
Wer noch nie auf seinem Lager
frierend oder hungernd saß,
wem noch niemals die Verzweiflung
lähmende in die Hoffnung fraß,
wen Gewissen nie gepeinigt
und kein Unmensch jemals quälte,
wen nicht die verstummten Freunde
fragten, wenn er klagend zählte,
wer noch niemals um sein Leben
angstgewürgt geflohen:
Weiß der ums Glück
des Friedens schon?
(Frieden, von Hans-Armin Weirich)
Sehr geehrter Herr Landrat,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,
wenn es die Zeit erlaubte, habe ich in den letzten Wochen Friedhöfe besucht. In den Städten, in die mich meine Dienstgeschäfte führten, habe ich nach den Kriegsgräbern gesucht und vor Mahnmalen gestanden. Ich wollte mich vorbereiten auf den heutigen Tag. An den Gräbern verweilen, vor denen wir auch heute stehen.
Noch im letzten Jahr konnte ich die Worte aussprechen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Gewaltherrschaft! Nie wieder Opfer!
Was sollte ich in diesem Jahr sagen? Was sagen, angesichts des eklatanten Bruchs des Rechtes, des brutalen Überfalls Russlands vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine? Was sagen, angesichts von Butscha und Irpin? Was sagen, angesichts über 7 Millionen Menschen die ihre Heimat zwischenzeitlich verlassen haben, um ihr Leben zu schützen? Was sagen, angesichts der Gesichter junger Männer beim Abschied von Ihren Lieben, die – mobil gemacht – Kanonenfutter werden? Was sagen angesichts der Liste deutscher Rüstungslieferungen:
- 30.000 Schuss Munition 40mm Granatwerfer*
- 30 Flakpanzer GEPARD inklusive circa 6.000 Schuss Flakpanzermunition*
- 13.500 Schuss 155 mm Artilleriemunition
- 5 Mehrfachraketenwerfer MARS II mit Munition
- 14 Panzerhaubitzen 2000 (gemeinsames Projekt mit den Niederlanden)
- Luftverteidigungssystem Iris-T SLM*
- usw.
(kleine Auswahl. Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine -2054514)
Mit diesen Gedanken im Kopf stehe ich in den Anlagen der Kriegsgräber. Ich sehe sowjetische Ehrenmäler und mir ist klar, dass jedes fünfte Kriegsopfer in Europa ein Ukrainer oder eine Ukrainerin war. Die Ukraine verlor im deutschen Vernichtungskrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. Eine der vielen Nationen, deren Opfer wir heute gedenken.
Was sollte ich da bloß sagen? Nie wieder???
Ich muss weiter. Im Nacken drängt der nächste Termin und im Kragen der nasskalte November. Und es denkt sich in mir, so aufdringlich wie still, der Gedanke: Schon wieder. Schon wieder Krieg in Europa.
20.000, 25.000, 70.000 Opfer, vielleicht sogar noch mehr. Auf welcher Seite Mütter weinen ist egal, wenn du an den Gräbern stehst. Wenn wir an die Opfer erinnern und ihr gedenken, ist es egal, wofür Sie gekämpft haben. Von der Leiblichkeit eines Menschen, von der Leiblichkeit der Männer wird Gebrauch gemacht. Das ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar. Da hilft es auch nicht, die Männer in der feuchten blutgetränkten Erde zu Helden umzudekorieren. Wer einen Krieg beginnt, hat schon verloren.
Immer dort wo Kinder sterben
werden die leisesten Dinge heimatlos.
(Nelly Sachs)
Heimatlos – fast unaussprechbar – der Ruf zum Frieden. In weiter Ferne die Option des Gesprächs. Die Wut und der Hass, mit jedem Kind, um das eine Mutter trauern muss, größer und mächtiger. So wird unsere schreiende Klage um die Toten und unsere mahnende Trauer zum Frieden heute noch stiller als sonst.
„Die große Mahnung: ‚Nie wieder Krieg‘, die sich über den Trümmerfeldern Europas erhob, scheint inzwischen an Strahlkraft verloren zu haben.“
(Friedrich Kramer, Friedensbeauftragter der EKD)
Meine Damen und Herren,
ich möchte uns heute ermutigen, den leisesten Dingen Heimat zu geben. Die leisen Töne anzuschlagen, genau hin zu hören. Und das auch dann, wenn in der Dynamik des Gebrülls unserer Zeit alles in die Empörung gezerrt wird.
So war es zum Beispiel am Reformationstag. Ich erinnere mich an die leise und nachdenkliche Predigt von Anette Kurschus, der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, in der Schlosskirche. Sie sagte: „Niemals darf Krieg die Politik ersetzen. Darum: Verachtet Verhandlungen nicht. Glaubt an die Kraft des geistesgegenwärtigen Wortes. Traut den kleinsten Schritten etwas zu.“ Und sie erntet dafür einen wahren Shitstorm. Angeführt von einem hohen Diplomaten, der mit lautem Gebrüllt twittert: „Euren heuchlerischen Verrat am ukrainischen Volk werden wir Euch, Dienern von Judas, NIE verzeihen.“
Meine Damen und Herren,
ich möchte uns heute ermutigen, den leisesten Dingen Heimat zu geben. Die leisen Töne anzuschlagen, genau hin zu hören. Frieden kann und wird, auch in unserer Stadt, erst werden, wenn das Getöse und Gebrüll auf der Straße aufhören. Nicht wer am lautesten schreit hat Recht! Unsere Antwort muss sein, die leisen Töne zurück zu holen. Ihnen wieder Heimat zu geben in unserer Mitte. Es ist die leise Mehrheit, die durch das Gebrüll der Wenigen kaum noch gehört wird. Das Gebrüll von Mainstream und Spaltung der Gesellschaft übertönt die Vielfalt der Gedanken, Worte und Meinungen in der breiten Mitte unserer Gesellschaft.
Aber unsere Gesellschaft ist stark. Unsere Fähigkeit zur Auseinandersetzung und zur Meinungsvielfalt ist stark. Unsere Fähigkeit zur friedlichen Gestaltung unserer Zukunft ist stark.
Packt eure Trommeln ein! Wir haben euch gehört. Aber nicht der, der am lautesten schreit, hat Recht. Wir haben euch schon verstanden, aber es sind die leisen Töne, die zur Verständigung führen.
Ich möchte uns ermutigen, den leisesten Dingen Heimat zu geben. So wie heut unserer stillen Trauer um alle Opfer
Immer
dort wo Kinder sterben
werden die leisesten Dinge heimatlos.
Der Schmerzensmantel der Abendröte
darin die dunkle Seele der Amsel
die Nacht heranklagt –
kleine Winde über zitternde Gräser hinwehend
die Trümmer des Lichtes verlöschend
und Sterben säend –
Immer
dort wo Kinder sterben
werden Stein und Stern
und so viele Träume
heimatlos.
(Nelly Sachs)
Friede sei mit euch!