Liebe Mitmenschen,
wir stehen heute hier, an diesem Ort, unter dem Schandmal der Kirchensau von Wittenberg, an diesem Mahnmal, weil wir noch immer vor den Konsequenzen erschrecken die es hat, wenn Mitmenschen, wenn Gruppen, von Mitmenschen zur Sau gemacht werden, in Gruppen gepresst, mit Sternen, Etiketten oder anderen Labels versehen, gleichgemacht, bewertet, abgewertet, abtransportiert und entsorgt werden.
Das ist die Dynamik vor der wir heute erschrecken. Ein Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Ein Tag, der sich der immer gleichbleibenden Wiederholung entzieht, ein Tag, der widerständig bleibt für Ritualisierung und der doch erinnert und begangen werden muss.
Aber wir dürfen sie nicht wieder gleich machen. Wir wollen sie nicht wieder gleichmachen, auch nicht dem Label des „erinnerten Opfers“ unterwerfen. Jüdinnen und Juden als mahnende Opfer zu erinnern wäre freilich der Versuch, es ins Positive zu wenden – aber trotzdem dieselbe Dynamik. Die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen … bitte überlassen wir ihnen selbst ihre Namen, sie sind schon lange nicht mehr nur die Opfer. Sie leben mit uns, sie leben unter uns, sie tragen keine Label, Sterne oder Dreiecke mehr, um abgewertet zu werden. Sie wollen die Zeichen ihrer Identität mit Stolz, den Davidstern als Schmuck, den Regenbogen oder die Kippa als Bekenntnis tragen und Respekt dafür bekommen, dass Sie sind, wer sie sein wollen.
Wie dann erinnern? Bleiben wir bei uns! Hören wir auf, andere zu Opfern zu machen. Erinnern wir uns an diesem Tag daran, wer wir sein wollen! Oder auch daran, wie wir vermeiden, so zu werden, wie wir nicht sein wollen.
Vor 90 Jahren fing es an. Am 30. Januar endete die erste deutsche Demokratie. Es dauerte nicht lange, bis die letzten Pfeiler einer demokratischen Ordnung ausgehebelt waren. Die Meinungsvielfalt war geleichgeschaltet, auch die Kirche marschierte mit im Takt unter einem starken Führer. Wenn heute viel von Diversität die Rede ist, dann sind das keine gesinnungsethischen Schlachtrufe, sondern sichere Indizien dafür, dass sich Leben in Pluralität und Freiheit entfalten kann.
Misstrauisch müssen wir überall dort sein, wo Meinungsvielfalt in Polarisierungen zugeklappt wird, wo man sich nur noch mit einer Sprache und unter einem Zeichen bewegen kann. Beispiele für diesen Mechanismus gibt es im gesellschaftlichen Diskurs im Moment zuhauf. Wir erleben das gerade auch an diesem Ort immer wieder. Wo die Orientierung schwer fällt, der Druck wächst, die Verunsicherung groß wird, neigen wir dazu, uns an den Gegensätzen zu orientieren, statt auf die Vielfalt und Diversität dazwischen zu achten. Nicht selten werden Gegensätze auch erst konstruiert. Da funktioniert das Spiel der Gleichmacherei besser. Dann schließen sich Diskursräume und Entfaltung weicht der Vorsicht, Vielfalt der Zurückhaltung.
Mark Roseman, Professor für Neuere europäische und jüdische Geschichte, schreibt dazu unter der Überschrift „Alles erstirbt in Angst“ in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“.
„Die Nationalsozialisten stellten „den Juden“ als einheitliche Sache dar, durchweg böse und auf verschwörerische Weise mit seinesgleichen verbunden. Tatsächlich aber war die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sehr divers: Es gab akkulturierte Juden, orthodoxe Juden, Zionisten, Juden in Mischehen, konvertierte Juden und viele andere mehr. Ein Fünftel waren neue Einwanderer aus Osteuropa, die sogenannten Ostjuden. 60 bis 70.000 Jüdinnen und Juden waren im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) organisiert, einem 1893 gegründeten Interessenverband, der gegen Antisemitismus ankämpfte, aber stark patriotisch eingestellt war. Die ein Jahr später gegründete Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD), die etwa 20.000 Mitglieder hatte, strebte wiederum danach, eine jüdische Heimat in Palästina zu erschaffen, allerdings nicht mit dem Ziel, jüdisches Leben in Deutschland ganz und gar aufzugeben. Die jüdische Veteranenorganisation Reichsbund jüdischer Frontkämpfer (RjF) hatte die größte Breitenwirkung auf der rechten Seite des jüdischen Spektrums.“
(CC BY-NC-ND 3.0 DE Mark Roseman für „Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de)
Mark Roseman zeichnet am Beispiel dieser Organisationen nach, wie alle Vielfalt in Angst erstirbt und wie wenig es brauchte, um alles in atemberaubender Geschwindigkeit im Antisemitismus zu ersticken.
Liebe Mitmenschen,
es braucht immer wieder unsere Anstrengung und den Mut, die Vielfalt zu entdecken und zu ertragen. Unter Druck und in Verunsicherung helfen kluge Kartierungen der Konflikte mehr als polarisierte Debatten. Das Ziel muss es sein, eine freiheitliche und plurale Ordnung weiter zu entfalten. Denn nur so kann sich größtmögliche Vielfalt entfalten.
Auch daran erinnert dieser Tag heute. Wo eine vielfältige Ordnung zur Bedrohung oder gar zum Feind erklärt wird, da dauert es nicht lange und die ersten Opfer sind gefunden.
Bleiben Sie aufmerksam! Ich danke Ihnen für dieselbige!