Der Reformationstag am 31. Oktober ist wohl einer der wenigen Tage, an denen in der Lutherstadt Wittenberg so richtig was los ist. Im Jahr 1517 schlug Martin Luther an diesem Tag seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg. Damit ist nicht nur die Thesentür, die zwar nicht mehr das Original ist, eine Attraktion. Sondern auch der Reformationstag selbst ist für viele ein Grund in die Stadt zu kommen. Neben dem Mittelaltermarkt in der Altstadt und auf der Schlosswiese, bietet auch die Evangelische Akademie in Zusammenarbeit mit der Stiftung Luthergedenkstätten eine Veranstaltung an, die Lutherstudientage am Reformationswochenende, die den akademischen Teil zum Reformationstag beitragen sollen. In diesem Jahr fanden die Lutherstudientage zum Thema „Priestertum aller Gläubigen oder landeskirchliche Ordnung? Eine Konfliktgeschichte“ statt.
Im Folgenden möchte ich über die Veranstaltung berichten und das ein oder andere aus meiner Sicht beleuchten. Mein Anspruch ist es dabei nicht, das Inhaltliche, das im Laufe der Tagung Raum fand, hier in Gänze aufzugreifen. Denn wer würde das alles lesen wollen? Falls Sie das doch möchten, finden Sie alle Vorträge der Tagung zum Nachlesen auf unserer Webseite. Aber nun zum Eigentlichen…
Muttersprache in Bildern
Muttersprache – so nennt sich die Ausstellung, mit der die Tagung am Freitag begann. Muttersprache, die „Sprache, die ein Mensch als Kind (von den Eltern) erlernt [und primär im Sprachgebrauch] hat“, so lautet die Definition laut Duden.[1] Die Sprache, die ein Mensch so gut spricht, wie er keine andere in seinem Leben erlernen kann. Die, die ihm so vertraut ist, wie wahrscheinlich keine andere jemals sein wird, aber die dennoch Grenzen hat, das Gesehene, Gehörte oder Gefühlte auszudrücken.
Claudia Hauptmann, die in der Evangelischen Akademie zurzeit ihre Werke ausstellt, überträgt eben jene Muttersprache in ihre Bilder. Eine beeindruckende, tiefgreifende Einführung in die Werke Hauptmanns gab Prof. Dr. Ulrike Krenzlin in ihrem Vortrag zur Ausstellungseröffnung, den Sie hier nachlesen können. Zudem gibt Paul Martin, Studienleiter Theologie, Gesellschaft und Kultur in der Evangelischen Akademie hier einen Eindruck der Ausstellung. Auch deshalb äußere ich an dieser Stelle nicht noch zusätzlich meine persönliche Interpretation. Dennoch sei gesagt, dass einige Bilder die spannende Wirkung haben, Irritationen in mir auszulösen. Maria, die andächtig auf ein Handy schaut oder Jesus mit einer Dornenkrone aus Kabeln sind dafür nur zwei Beispiele. Die insgesamt 29 Werke der Ausstellung sind noch bis zum 16. Januar in der Evangelischen Akademie ausgestellt. Bei Interesse können Sie sich gerne anmelden.
Das Priestertum aller Gläubigen
Am Samstag startete dann die eigentliche Tagung unter der Überschrift „Priestertum aller Gläubigen oder landeskirchliche Ordnung? Eine Konfliktgeschichte“. Dass ich zugegebenermaßen zuvor noch nichts vom Priestertum aller Gläubigen gehört hatte, spricht womöglich schon für dessen Verbreitung und Umsetzung in den evangelischen Gemeinden oder aber für meinen dafür zu geringen Bezug zur evangelischen Kirche und Theologie. Der Begriff erklärte sich mir im Laufe der Tagung allerdings recht schnell und vermutlich wissen Sie bereits, worum es dabei geht. Aber falls nicht und der Vollständigkeit halber, sollte an dieser Stelle eine Begriffserklärung nicht fehlen.
Das Priestertum aller Gläubigen geht auf Martin Luther zurück, der vom Priestertum aller Getauften spricht. Ein oder eine Priester:in vermittele zwischen Gott und den Menschen. Laut Luther sei allein Jesus Christus Priester. Da Gott in ihm Mensch geworden und so selbst zu den Menschen gekommen sei, brauche es keinen Vermittler. Demnach sei jede getaufte Christin und jeder getaufte Christ zur Priesterin und zum Priester geweiht. [2]
Luthers Traum und die Realität 500 Jahre danach
Das hört sich ja schön und gut an, aber nun von der Theorie zur Realität. Prof. Dr. Alexander Deeg, praktischer Theologe an der Universität Leipzig macht schon zu Beginn seine Meinung deutlich. Das Priestertum aller Gläubigen sei noch nicht die gelebte Realität in den evangelischen Gemeinden.
Aber inwieweit ist das Thema überhaupt von aktueller Relevanz, inwieweit ist es entscheidend für die kirchliche Arbeit? Wird es nur angesichts der dringenden Probleme der evangelischen Kirche wie den sinkenden Mitgliedszahlen und knapper finanzieller Mittel angesprochen? Deeg betont, dass genau das nicht der Fall sein dürfe. Es dürfe nicht nur deshalb zum Thema gemacht werden, weil es eine Notlösung für die Probleme der Kirche ist oder sein könnte. Bezüglich dessen spricht auch Axel Noack, Altbischof der EKM, von der Notwendigkeit, dem Ehrenamt nicht nur bloße Wertschätzung entgegenzubringen, sondern das Amt als solches zu sehen und Verantwortung zu übertragen.
„Alle sind Priester – aber warum eigentlich sind manche Pfarrer?“
Angesichts der Rede vom Priestertum aller Gläubigen lässt sich die Frage stellen, wozu es überhaupt noch Pfarrer:innen braucht, wenn jede:r als Priester:in eine Bindung zu Gott aufbauen kann, es keinen Mittler braucht. „Alle sind Priester – aber warum eigentlich sind manche Pfarrer?“, diese Frage stellt auch Deeg und bezeichnet sie als eine der Grundfragen der Reformation. Rein formal brauche es Pfarrer:innen der Ordnung willen. Auch Noack hebt hervor, dass es wichtig sei, die Ordnung innerhalb der Kirche zu wahren. Er macht deutlich, dass für ihn die Entweder-Oder-Formulierung im Tagungsthema „Priestertum aller Gläubigen oder landeskirchliche Ordnung?“ einen falschen Eindruck vermitteln würde. Es müsse eine Ordnung geben, um das allgemeine Priestertum zu wahren und zu stärken.
Aus inhaltlicher Perspektive seien Pfarrer:innen notwendig, da sie das äußere Wort sagen, so Deeg. Durch das Pfarramt werde garantiert, dass Handlungen wie das Abendmahl, die Trauung oder die Predigt ausgeführt werden. Nach Luther sei das Amt des Pfarrers oder Pfarrerin als Dienst an alle anderen zu verstehen.
Pfarrer:innen im Mittelpunkt
Verwunderlich ist, dass es trotz des allgemeinen Priestertums Elemente in Kirche und Gottesdienst gibt, die teils fest verankert sind und diesem Anspruch fundamental widersprechen. Deeg spricht hierbei zum einen die Predigt an. Als fester Bestandteil des Gottesdienstes spielt sie eine entscheidende, wenn nicht die zentrale Rolle. Als Prediger:in oben auf der Kanzel stehend, ist der oder die Pfarrer:in schon symbolisch überlegen und nehme seit der flächendeckenden Einführung der Predigt zunehmend eine belehrende und damit übergeordnete Rolle ein, so Deeg. Mein Eindruck ist, dass in heutigen Gottesdiensten vielleicht auch deshalb nur noch selten von der Kanzel aus gepredigt wird. Viel häufiger steht der oder die Pfarrer:in unten am Pult, auf einer Ebene mit der Gemeinde.
Aber dennoch richtet sich der Fokus häufig weiterhin auf den Pfarrer oder die Pfarrerin. Diese zentralisierte Rolle des Pfarramtes wird in den Assoziationen deutlich, die die Menschen mit der Kirche in Verbindung bringen. Der Pfarrer oder die Pfarrerin sei in vielen Fällen das Erste, an das in Bezug zur Kirche gedacht werde. Auch wenn es nicht mein erster Gedanke zum Wort Kirche ist, der mir in den Sinn kommt, würde ich dem grundsätzlich zustimmen.
Zeig mir dein Brustkreuz und ich sage Dir dein Gehalt!
Auch das Brustkreuz sei laut Deeg ein Widerspruch zum allgemeinen Priestertum. Die provokante Bemerkung, die Gehaltsklasse sei an der Größe der Brustkreuze erkennbar, ist mir bezüglich dessen besonders im Gedächtnis geblieben. Es scheine eine Kleinigkeit zu sein, die aber durchaus symbolische Bedeutung und so auch Einfluss auf die Wahrnehmung des Amtes habe.
Etwas amüsant fand ich es dann, dass am Reformationssonntag diverse Brustkreuze im Gottesdienst und auch noch danach bestaunt werden konnten. Ohne hier Personen im Konkreten kritisieren zu wollen, hat es mich durchaus zum Nachdenken gebracht und ich frage mich nach dem Grund, sich mit einem solch prunkvollem Symbol zu schmücken, das den Anschein einer Überlegenheit gegenüber der Gemeinde ausstrahlt.
Das Problem mit den Medien
Neben Brustkreuzen und anderen internen Widersprüchen in der Kirche, haben auch die Medien eine problematische Rolle in Bezug auf das Priestertum aller Gläubigen, auf die sowohl Deeg als auch Noack zu sprechen kommen. Immer mehr werde das Priestertum aller Gläubigen durch die Medien gefährdet, die sich in ihrer Berichterstattung allzu oft auf bestimmte Amtsträger konzentrieren. Noack kritisiert zudem, dass bei großen Gottesdiensten z.B. bei Gedenkfeiern zu Unglücken Priester:innen vor Ort durch höhere Amtsträger ersetzt werden. Dies widerspreche dem allgemeinen Priestertum grundlegend und komme hierarchischen Verhältnissen gleich.
Dem Gedanken folgend widerspricht dann wohl der Programmpunkt am Reformationstag, der Gottesdienst mit Bischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, dem allgemeinen Priestertum. Ein wichtiger Amtsträger der Kirche ersetzt an einem wichtigen Tag der evangelischen Kirche und der Stadt Wittenberg, die Person vor Ort. Die Medien haben selbstverständlich aus der vollen Kirche berichtet. Aber nun ja, eine Bewertung dessen, sollte wohl jede:r für sich treffen. Für die Tagungsteilnehmenden war es sicherlich ein Highlight im Programm, zumal im Anschluss der virtuelle Rundgang durch die Schlosskirche mit dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff eröffnet wurde.
Priestertum aller Gläubigen nach Bremischen Vorbild?
Über das Besondere an der strukturellen Ordnung innerhalb der Bremischen Landeskirche referierte Edda Bosse, Präsidentin der Bremischen Evangelischen Kirche. Ob diese als Vorbild angesehen werden kann und das Priestertum aller Gläubigen vor Ort umgesetzt wird, ist fraglich. Aber was feststeht ist, dass die Struktur ein hohes Potenzial dafür bereithält. Das betont Bosse schon zu Beginn, mit der prägnanten Formulierung, dass es die EINE Bremische Evangelische Kirche in ihrer Einheitlichkeit gar nicht gebe. Die Gemeinden und die Vielfalt haben eine bedeutende Rolle in der Landeskirche, was auch in der Verfassung festgehalten sei. Auf landeskirchlicher Ebene dominieren Ehrenamtliche im Parlament der Landeskirche, dem Kirchentag und in dessen Vorstand. In den Gemeinden könne dem Ehrenamt ebenfalls eine große Rolle zugeschrieben werden. Dort seien die Aufgaben klar verteilt und ein Konkurrenzdenken gebe es nicht, so Bosse. Man sei dankbar für jede und jeden der sich in für die Kirche schwierigen Zeiten einbringt.
Denn auch die Bremische Landeskirche hat mit Problemen zu kämpfen. Die irrtümliche Annahme austretender Mitglieder, „die Kirche werde es immer geben“, ist eines davon, berichtet Bosse. Auch ich kann mir Gegenteiliges nicht vorstellen. Aber warum dieser naive Glaube an das ewige Bestehen der Kirche? Vielleicht weil es das Grundverständnis und das Versprechen von Glauben und Kirche ist, immer da zu sein – auch in schweren Zeiten als ein Fels in der Brandung, als ein Zufluchtsort? Vielleicht führt eben genau dieses Bild, dass zumindest ich von der Kirche habe, dazu, dass sie als Institution beständig und unauflöslich scheint. Es gab sie schließlich schon immer. Dabei sollte uns bewusst sein, dass auch das Fortbestehen der Kirche von Mitgliedszahlen und der Finanzierung abhängig ist.
Diese Herausforderungen von gegenwärtiger und zukünftiger Bedeutung müsse die Landeskirche annehmen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir hier der Aufruf, die kirchliche Arbeit von einer „Komm- zu einer Geh-Struktur“ zu verändern – rausgehen, aktiv auf andere zugehen und sich für die Kirche einsetzen, sei gefragt, so Bosse.
Was sich daraus lernen lässt
Die Tagung ist vorbei. Aber was lässt sich nun aus den Einschätzungen der Referierenden und dem Beispiel der Bremischen Landeskirche lernen? Wie kann das Priestertum aller Gläubigen gelebte Realität in den Gemeinden werden?
„Vielleicht kommt eine Sache auch dadurch wieder zustande, dass man sie voraussetzt“, ein Satz des Theologen Friedrich Schleiermacher mit dem Deeg seinen Vortrag resümiert. Pfarrer:innen müssen alle Menschen in der Gemeinde als Priester:innen wahrnehmen, sich ihnen gegenüber entsprechend verhalten und das Priestertum aller Gläubigen selbst vorleben – „Leitung als Empowerment“ nennt er es. Vielleicht ist auch das Modell aus Bremen die Lösung oder zumindest ein Teil davon – Vielfalt leben, obwohl es mühselig ist und aktiv auf andere zugehen. „Bremisch-Evangelisch hat Zukunft“ – so die Hoffnung der Präsidentin.
Vielleicht ist auch keiner oder die Mischung von beiden Ansätzen der richtige Weg. Fest steht, so mein Eindruck, dass sich wieder einmal gezeigt hat, wie wichtig es ist über Themen ins Gespräch zu kommen und Defizite anzusprechen. Nun gilt es, daraus Lösungen zu entwickeln, wie das Priestertum aller Gläubigen umgesetzt und den gegenwärtigen Problemen der Kirche begegnet werden kann. Ich für meinen Teil bin dankbar, dass ich erneut Einblicke in kirchliche Strukturen und Diskurse gewinnen konnte.
Alle Vorträge und auch die Redebeiträge, die unerwähnt blieben, finden Sie hier zum Nachlesen.
Hier können Sie sich über kommende Veranstaltungen informieren.
[1] Duden | Muttersprache | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft