Diskurs

Gesellschaft und ihre Subsysteme

Landkarten für den öffentlichen Raum II

Gesellschaft und ihre Subsysteme lassen sich auf ganz unterschiedliche Weisen beschreiben.
Knüpfen wir noch einmal an an die Definition von Gesellschaft als Kommunikationszusammenhang. Kommunikationszusammenhänge, die auf Dauer gestellt sind, nennt man Interaktionsordnungen. Und gehen wir davon aus, dass die vier im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Interaktionsordnungen gleich wichtig, weil gleich ursprünglich sind. Trotzdem bilden sie ja unterschiedliche Sprachspiele aus, weil sie eben auch unterschiedliche Funktionen in der Gesellschaft übernehmen.

Nun konkurrieren Subsysteme miteinander um Einfluss und Deutungshoheit über das Ganze. Es fällt offensichtlich schwer, andere Sprachspiele anzuerkennen und jeder Player möchte gerne nach seinen eigenen Regeln spielen. Heute sind Wirtschaft und Politik dominant. Oft wird sogar verkürzt von Wirtschaft und Politik gesprochen, wenn man eigentlich den ganzen öffentlichen Raum meint. Privates oder bürgerschaftliches Engagement wird dann diesen Bereich einmal entgegengestellt, als Zivilgesellschaft (noch deutlicher ablesbar wird das in dem Begriff NGO, also einer Nichtregierungsorganisation), oder aber man spricht vom sogenannten dritten Sektor und spielt damit auf die Finanzierungsform eines Systems an, das nicht gewinnorientierte Organisationen wie Vereine, Stiftungen und Verbände enthält.

Auffällig bleibt in diesen Bezeichnungen auf jeden Fall die Zu- oder Unterordnung zu einem der dominanten Sprachspiele Politik oder Wirtschaft. Dieses Streben nach Dominanz des eigenen Sprachspiels scheint etwas ganz natürliches zu sein, was wir als wahr erkannt haben, muss auch für alle gelten. Wir finden Begriffe vor für diese Bestrebung nach Dominanz des eigenen Sprachspiels über alle anderen:

  • Mission (in der Religion)
  • Propaganda (in der Politik)
  • Werbung (in der Wirtschaft)
  • Evidenz (in der Wissenschaft)

Letztere ist in ihrem Dominanzbestreben als sogenannte Agenda-Wissenschaft besonders auffällig.
Wahr ist aber auch, dass alle vier Bereiche bereits nach innen selbstbeschränkende Mechanismen erfunden haben, um die eigene Dominanz heilsam zu begrenzen. Wir kennen die soziale Marktwirtschaft, die Gewaltenteilung der Demokratie, die Freiheit des Denkens der Wissenschaft und das Konzept der Geschöpflichkeit aller Menschen oder, um es  religionsneutral zu sagen, der allgemeinen Menschenwürde.

Auch beschränkende Konzepte nach außen lassen sich in der Geschichte finden. So sieht der Blick des Theologen, dass es bis in die frühe Neuzeit hinein zwei andere Sprachspiele waren die diesen Kampf um die Vorherrschaft und Dominanz der Gesellschaft ausgetragen haben, nämlich Religion und Politik, Thron und Altar. So hat unter anderem Martin Luther von Wittenberg aus mit seiner berühmten Zwei-Reiche-Lehre (besser bezeichnet als Zwei-Regimenten-Lehre) einen kooperativen Regelmechanismus gefunden, um den Versuch der Dominanz des einen über das Sprachspiel des anderen zu beenden. Da sowohl die Wissenschaft als auch das Wirtschaftssystem zu dieser Zeit gerade erst begonnen hatten, sich auszudifferenzieren, müsste heute ein Regelsystem gefunden werden, das in der Lage ist alle gleich ursprünglichen Interaktionsordnungen einer Gesellschaft, hier also unserer vier Sprachspiele, in selbstbestimmter Kooperation aufeinander zu beziehen, ohne sie in ihrem jeweiligen Sprachspiel selbst zu behindern. 

Ideal wäre auf dieser Ebene gesellschaftlicher Systeme der Zustand der Anarchie, der an-archia (gr. nicht-herrschen; Herrschaftslosigkeit), also im strengen Wortsinne der Abwesenheit von Herrschaft des einen über den anderen.  

Ein Video zu dieser II. Landkarte für den öffentlichen Raum finden Sie hier

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
mehr erfahren

Diskurs-Beiträge

Skip to content