In der vom Trubel des Reformationsfests langsam müde werdenden, abendlichen Lutherstadt Wittenberg luden die Stiftung Evangelische Akademie in Lutherstadt Wittenberg und deren Vorsitzende Frau Anne-Marie Keding zur alljährlichen Tischrede am 31. Oktober ein. Die lutherische Tradition verspricht einen Abend, der geprägt ist von einer kurzen, aber dennoch klaren und würzigen Rede in bester Gesellschaft, so der Akademiedirektor Christoph Maier. Und dieser Anspruch konnte auch dieses Jahr erfüllt werden. Professor Doktor Wolfgang Sander bereicherte den Abend mit seinen streitbaren Thesen zum Thema „Europäische Identität und Christentum – im Spannungsfeld zwischen Ost und West in der EU“, die zu angeregten und kontroversen Tischgesprächen einluden. Umrahmt wurde der Abend von Michael Stolle am Konzertflügel und einem Dreigangmenü.
Im Anschluss trat Professor Doktor Sander hinter das Rednerpult, begrüßte die Zuhörenden und kam im Sinne Martin Luthers direkt zu seinen Thesen.
Die europäische Integration ist notwendig, aber bedroht.
Notwendig, weil Europa ohne Zusammenhalt wirtschaftlich und (welt)politisch nicht nur unbedeutsam werde, sondern auch, weil Probleme wie Klimaschutz, Migration und Energieversorgung auf einem zersplitterten Kontinent unlösbar würden.
Bedroht aber, durch Krisen und Ernüchterungen. Im Besonderen stelle die Eingliederung östlicher Staaten in die Union einer Herausforderung durch etliche Differenzen dar.
Eine gemeinsame europäische Identität ist eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Weiterentwicklung der europäischen Integrationspolitik.
So sei für politische Verbündete eine kollektive Identität unerlässlich, um sie nicht mit purem Zwang zusammenhalten zu müssen, sondern auf Akzeptanz der Mitglieder und gemeinsamen Vorstellungen beruhe. Sander sieht in den aktuellen Ansätzen zum Finden einer solchen gemeinsamen Identität – Betonung der Diversität oder Berufung auf europäische Werte – jedoch gleichermaßen Schwächen, da sie keine Unterscheidung zu anderen Teilen der Welten bieten oder kaum definierbar sind.
Eine gemeinsame europäische Identität bedarf der Fundierung in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte.
Kollektive Identität entwickle sich aus geteilten Erinnerungen, Erzählungen und Vorstellung über heute und morgen. Sander blickt hierbei über die gemeinsame Vergangenheit bis hin zur Aufklärung hinaus und richtet seinen Blick auf die christliche Geschichte Europas. So beruhe das Sammelsurium der europäischen Werte auf dem frühen Christentum und schon Paulus entwarf ein Konzept der moralischen Gleichheit aller und spiegelte die Werte von Freiheit und Solidarität wider. Dies führt Prof. Dr. Sander zu seiner vierten und letzten These.
Europa braucht eine christliche Renaissance, die die christliche Tradition wiederentdeckt, um sie für heute weiterzudenken.
Mit Zuversicht blickt der Redner auf eine Überwindung der Ost-West-Teilung in der EU, welche durch eine christliche Renaissance geschaffen werden soll. Diese solle keine verbindliche Weltanschauung erwirken, sondern viel mehr Freiheit als Element zu verstehen geben, welches gleichzeitig als Verpflichtung zu betrachten ist. Ebenso ziele es auf Selbstbestimmung und geförderte Verantwortung durch Bildung und auf das Zugänglichmachen einer transzendenten Wirklichkeit für ein modernes Weltverständnis.
Besonders diese letzte These warf in den folgenden Tischgesprächen Fragen auf und ließ rege Diskussionen entstehen.
So diskutierten die Beteiligten, dass die westliche Demokratie und Kultur nur schwer auf andere Länder übertragbar sei und diese Länder zumeist aus der Geschichte heraus auch einen Souveränitätsverlust fürchten. Auch gelte die undurchsichtige Bürokratie Europas für andere als unattraktiv. Zudem kristallisierte sich heraus, dass einige Gäste zum Entschluss kamen, dass das Christentum in der heutigen, diversen Gesellschaft als Identitätsstifter nur schwer Fuß fassen könne. Hinzu kam die Sorge, dass andere Religionen als minderwertig betrachtet werden könnten, woraufhin Prof. Dr. Sander entgegnete, dass diese Religionen als Minderheiten und im Einklang mit dem Christentum weiterhin existieren sollten. Auch fragten sich Teilnehmende, ob es wirklich ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis in Europa gäbe und welches Christentum denn die Renaissance beginnen und leiten solle.
So war auch dieses Jahr das Thema der Tischrede zum Reformationsfest mehr als streitbar und konnte in einer gemeinschaftlichen und vor allem fremde Meinungen akzeptierenden Atmosphäre begangen werden.
Die ganze Rede Prof. Dr. Sanders zur Tischrede finden Sie hier: