Diskurs

Ansprache zum Volkstrauertag 2024

„Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis laufen sich den Rang ab“ (Friedrich Schorlemmer)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Zugehör,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Seidig,
sehr geehrte Mitglieder der Stadtratsfraktionen,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesenden,

um die Toten zu betrauern sind wir heute hier. Wir trauern öffentlich. Wir trauern als Repräsentantinnen und Repräsentanten, als Bürgergesellschaft. Wir tun das, um der Trauer im Bewusstsein unserer Gesellschaft einen festen Platz zu geben. Darum ist der Volkstrauertag ein öffentlicher Feiertag, einer der stillen Feiertage, die gesetzlich unter besonderem Schutz stehen. So bleibt der öffentliche Charakter der Trauer gewahrt auch für die, die heute nicht an Gedenkveranstaltungen teilnehmen.
Wir trauern nicht privat um die Liebsten, wir trauern öffentlich, weil Menschen als Soldatinnen und Soldaten, als Opfer von Krieg und Gewalt gestorben sind und immer noch sterben. Der Tod riss sie mitten aus dem Leben, weil Feindschaft herrscht, weil wir es noch nicht geschafft haben, im Frieden zu leben.

Friedrich Schorlemmer, um den wir jüngst ebenfalls trauern mussten, begann seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1993 mit den Worten, die Sie schon auf der Einladung lesen konnten:
„Es ist wieder komplizierter geworden, dem Frieden das rechte Wort zu reden, wo sich Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis den Rang ablaufen. Mehr denn je spüre ich, wie wahr Satz und Gegen-Satz sind, wie Licht zu Zwie-Licht wird, wie wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirksamen Weg zum Frieden den Frieden verlieren.“

Das klingt auch nach über 30 Jahren noch sehr aktuell. Wortgewaltig, wie wir ihn kannten, erinnert der Theologe mit seiner Alliteration der Wirrnis um Welt und Wort an den Anfang der Bibel, an das Tohuwabohu, das lebensfeindliche Chaos des Naturzustandes.
Schorlemmer spielt auch auf das Gebabbel von Babel an, wo mit Wolkenturmprojekten die Vielfalt der Menschheit unter einen einzigen Befehl versammelt wurde.

Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis:
Da sind die Worte der starken Männer, die die Welt mit ihrem Worten so biegen und verzeichnen, dass sie nach ihrem Willen neu entsteht. Aus dem Licht des ersten Schöpfungstages, dass das Chaos ordnete, wird das Zwielicht einer neuen Weltordnung, die uns schon dämmert.
Da wird die Landnahmen zum Siedlungsprojekt, ein brutaler Krieg zur Spezialoperation und ein Nachbar zum Migranten, der dein Haustier aufessen wird.

Wort-Wirrnisse, die Ausdruck einer Welt-Wirrnis sind, die nach Orientierung schreit. Im Schatten der Wort-Wirrnis fällte es leicht, der Welt-Wirrnis eine neue Richtung zu geben. Das einfache Schema von Freund und Feind, es sortiert und orientiert die Welt, nach dem Willen derer, die Freunde und Feinde taufen.

Dem Freund kannst du vertrauen. Den Feind musst du bekämpfen.

„Es ist wieder komplizierter geworden, dem Frieden das rechte Wort zu reden, wo sich Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis den Rang ablaufen. Mehr denn je spüre ich, wie wahr Satz und Gegen-Satz sind, wie Licht zu Zwie-Licht wird, wie wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirksamen Weg zum Frieden den Frieden verlieren.“

Wir trauern!

Wir trauern nicht um „unsere Toten“, auch nicht um die Toten der anderen. Da hätte ja die Wort-Wirrnis die Welt schon längst wieder in Freund und Feind geteilt. Wir trauern um den einzelnen Menschen, der sterben m usste, weil Krieg herrscht.
Sind 300.000 getötete und verletzte Ukrainerinnen und Ukrainer anders zu betrauern als die 700.000 auf russischer Seite?[i]
Sind die 1.200 Opfer des schlimmsten Massakers seit dem Holocaust an Jüdinnen und Juden anders zu betrauern als die 43.000 Todesopfer seit jenem 7. Oktober im Gaza-Streifen?[ii]
Noch die Toten eines Krieges zahlen ein auf die Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis, der sie zum Opfer gefallen sind. Dem Tod der einen wird der Tod der anderen entgegengestellt.

Wir trauern!

60 Millionen Tote. Opfer der Wirrnis der Welt zwischen 1939 und 1945.[iii] Die Wort-Wirrnis des starken Führers und das Gebabbel von einer rassenideologischen Volkseinheit ging dem millionenfachen Tod voraus.

Der Feind ist im Krieg nichts wert. Dem Feind wird die Zugehörigkeit zum gemeinsamen Menschlichen abgesprochen. Nur so kann überhaupt Krieg geführt werden. Wir machen uns unempfänglich für das Leid und die Trauer. Die Entwürdigung und Entmenschlichung des Anderen sind die Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis, die den Krieg bereitet. Deshalb heißt es in unserem Grundgesetz auch ganz am Anfang:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Am Anfang war das Wort.

Und deshalb geben wir mit diesem gesetzlichen Feiertag den Toten von Krieg und Gewalt ihre Würde zurück: Wir trauern.
Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis enden dort, wo wir aufhören, die Toten zu unterteilen, zu verrechnen oder zu Helden zu machen.

Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein und wo wir meinen, wieder kriegstüchtig werden zu müssen, sollte gleichzeitig immer gelehrt werden:
Krieg gibt es nur im Modus des Schuldig-werdens.

Wir werden schuldig an den Opfern. Wir haben sie um ihr Leben gebracht.

Wir trauern.

17.11.2024 in Lutherstadt Wittenberg
Pfr. Christoph Maier
Akademiedirektor Ev. Akademie Sachsen-Anhalt e. V.

(Es gilt das gesprochene Wort)


[i]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1349877/umfrage/monatliche-verletzte-und-getoetete-zivilisten-durch-ukraine-krieg/
https://www.fr.de/politik/russland-verluste-ukraine-krieg-putin-militaer-soldaten-zahlen-daten-aktuell-zr-93379376.html

[ii]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/

[iii]https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321505/zweiter-weltkrieg/#:~:text=Insgesamt%20wurden%20im%20Zweiten%20Weltkrieg,Minderheiten%20wurden%20verfolgt%20und%20get%C3%B6tet.

Schlagwörter: Frieden, Politik

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
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