Der Gedanke
Gelingende Demokratie braucht Orte der Auseinandersetzung und des Gesprächs zwischen allen Beteiligten. Demokratie ist ein Prozess im Suchen nach und Ringen um die besten Lösungen. Und: Demokratie ist gefährdet. Wenn Prozesse nicht transparent sind und/ oder Populist*innen auf Resonanz stoßen, müssen alle zusammenstehen, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen.
Die Idee
Es braucht Orte und Formen des Gespräches zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen in Politik, Kommune und Zivilgesellschaft, die Demokratie als einen Prozess verstehen und sich dafür engagieren. Was liegt also näher, als das erfahrbar zu machen in einer gemeinsamen Rad-Erfahrung, wo wir alle uns abstrampeln, um gemeinsam ans Ziel zu kommen im Austausch?
Die Umsetzung
Am 20. September fand in Bitterfeld-Wolfen im Rahmen des Projektes »Geht‘s noch« eine erste Rad-Erfahung statt — mit Abgeordneten der demokratischen Parteien des Landtags Sachsen-Anhalt, Kommunalpolitikern und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft. Und das ganze unter dem Motto: »Gemeinsam abstrampeln für die Demokratie«.
Um 09:00 Uhr traf sich die Gruppe am Bahnhof Bitterfeld. Begrüßt durch Oberbürgermeister Armin Schenk startete die Tour mit einer Fahrt zum Rathaus Wolfen. Gemeinsam unterwegs waren Hendrik Lange (Die Linke), Cornelia Lüddemann (Bündnis 90/ Grüne), Juliane Kleemann (SPD), die Pfarrerin Anna Mittermayer und ihr Kollege Martin Kabbitsch. Dazu noch Vertreter*innen der SPD, der CDU und der Zivilgesellschaft in Bitterfeld-Wolfen.

Im Rathaus sprachen wir über Möglichkeiten, Grenzen und vor allem Notwendigkeiten der Kommunen im Blick auf Frustrationserfahrungen von Bürgerinnen. OB Schenk sprach von den zwei »F« – Finanzen und Fachkräfte, die ein besonderes Problem darstellten. Die Kommune müsse in der Lage sein, Pflichtaufgaben und kurzfristige Probleme zuverlässig zu bewältigen. Bitterfeld war hochverschuldet und dadurch nur sehr eingeschränkt handlungsfähig. Durch einen deutlichen Sparkurs konnte der Haushalt saniert werden. Das hat aber die Stimmung in der Stadt nachhaltig beeinflusst. »Das System« wurde als dysfunktional empfunden. Zusätzlich zu den Verwerfungen in der Pandemie führte das Spannungen und Konflikten im Stadtleben. Ebenso ist es schwierig, wenn zu wenige Ärztinnen und Ärzte in der Stadt arbeiten oder auch andere Angebote knapp sind, die für eine Kommune wichtig sind. Auch, wenn dafür nicht unmittelbar »die« Parteien oder »die Politik« verantwortlich sind, sorgt dieser Zustand für Unmut. In der Diskussion beschäftigte uns die Frage, wie Bürgerinnen stärker beteiligt werden und wie sie für diese Beteiligung motiviert werden könnten. Dabei kam auch die Frage nach politischer Bildung auf.
Wie vertraut sind die Menschen in den östlichen Bundesländern mit demokratischen Prozessen, den Aufgaben und Möglichkeiten der Kommunen, Bundesländer und des Bundes? Und welche Formen der politischen Bildung sind möglich in einer Demokratie, die auf mündige Bürger*innen angewiesen ist, von ihnen ausgehen muss, aber eben auch in der Verantwortung steht, Angebote zur politischen Bildung zu machen.
Ein wichtiger Punkt wurde von einer Vertreterin des lokalen Bündnisses für Demokratie & Toleranz Bitterfeld-Wolfen angesprochen. Es brauche eine Haltung des gegenseitigen Respektes aller demokratischen Parteien und Initiativen. Bei allem, worin sie sich unterschieden, müsse es dennoch Konsens sein, im Sinne des Gemeinwohls zusammenzuarbeiten und sich fair zu begegnen. Allgemein wurde von allen betont, dass bei dieser Pflicht noch einiges möglich wäre.

Nach dem Besuch im Rathaus fuhren wir in Begleitung des Oberbürgermeisters nach Greppin in der Jugendclub der AWO (wo er uns für andere Termine verlassen musste) und tauschten uns nach einer Besichtigung mit den Jugendlichen und dem hauptamtlichen Mitarbeiter über die Situation vor Ort aus. Dabei wurde einmal mehr deutlich, wie wichtig eine kontinuierliche Jugendarbeit mit Personal und räumlichen Möglichkeiten ist. Als Probleme wurden neben dem baulichen Zustand vor allem die Unzuverlässigkeit des ÖPNV markiert. Diese Probleme sind nicht neu, aber nach dem Gefühl vor Ort werden sie nicht angegangen. Im Gespräch wurde auch deutlich, dass Angebote der politischen Bildung wichtig wären, weil diese nach Aussage der Jugendlichen auch im schulischen Kontext zu kurz kämen. Den Jugendklub selbst benannten die Jugendlichen als ein zweites Zuhause. Die Angebote von den wöchentlichen Treffs bis zu gemeinsamen Fahrten empfanden sie als wesentliche Bereicherung. Auch dabei war die Frage nach dem finanziellen Rahmen im Raum, in dem die Arbeit stattfindet. Das Gebäude benötigt einige bauliche Maßnahmen. Auch für die inhaltlich Arbeit und die Ausgestaltung sind die Mittel chronisch knapp. Aber das, was dort für ein gutes Miteinander und für Demokratiebildung geleistet werden kann und wird, ist sehr wesentlich gerade in Zeiten, in denen Populismus und Demokratieverachtung so erfolgreich scheinen.

Der Austausch zwischen Landtagsabgeordneten, Mitfahrer*innen und Jugendlichen ging bei einem gemeinsamen Mittagessen weiter. Dabei zeigte sich die Stärke des Ansatzes der »Rad-Erfahrung«. Gemeinsam unterwegs sein, sich
auseinandersetzen, sich um Verständnis bemühen – aber dann auch miteinander essen und reden – das schafft die Basis fürs Miteinander und die Idee, für ein gemeinsames Projekt engagiert zu sein.

Nach dem Essen fuhren wir nach Wolfen ins Haus Wichern, wo wir mit Frau Metz, der Geschäftsführerin der Diakonie Bitterfeld-Wolfen, Herrn Brandt, dem Bereichsleiter des Hauses und Mitarbeitenden ins Gespräch kamen. Frau Metz stellte die Arbeit der Diakonie in Wolfen vor, wies auf soziale Fragen hin und machte deutlich, wie wichtig eine verlässliche Politik für die Arbeit im sozialen Bereich sei. Die Allgemeine Menschenwürde mache sich auch konkret daran fest, wie Menschen mit Beeinträchtigungen leben können. Wie schon im Gespräch mit dem Oberbürgermeister wurde auch hier auf die Personalsituation hingewiesen. Sachsen-Anhalt ist dringend auf Zuwanderung angewiesen. Frau Kleemann, Frau Lüddemann und Herr Lange stellten die Positionen ihrer Parteien zur Diskussion und auch persönliche Überzeugungen.
Besonders spannend war ein Gedanke, den Herr Lange in den Raum stellte – was wäre, wenn alle Menschen mit Migrationsbiografie für drei Tage nicht arbeiten würden? Es würde sich sehr schnell sehr deutlich zeigen, was eine ressentimentbestimmte und migrant*innenfeindliche Politik für katastrophale Folgen haben würde.
Herr Brandt auf die Wünsche der Mitarbeitenden hin befragt, sagte, dass es nicht auf Worte sondern auf Handlungen ankomme – auch das korrespondierte mit dem, was OB Schenk sagte. Problematisch wird es, wenn die Demokratie als
dysfunktional erlebt wird – oder sie es ist.



In einer Abschlussrunde überlegten wir, wie die Gespräche weitergehen können und was geschehen kann, damit Sachsen-Anhalt ein weltoffenes, modernes Bundesland bleibt und das verfassungs- und rechtsstaatsfeindliche Parteien und Gruppierungen keine Chance bekommen, ihre Vorstellungen einer diskriminierenden Politik umzusetzen.
Dabei waren zwei Impulse besonders wichtig. Es bedarf einer Verabredung der demokratischen Parteien für einen in der Sache klaren, in der Form aber fairen Wahlkampf, in dem unterschiedliche Ideen konkurrieren, die demokratischen Mitbewerber*innen aber nicht bekämpft werden. Und: Die Gespräche über die unterschiedlichen Ebenen hinweg müssen
weiter gehen. Die Perspektiven der Kommunen und der sozialen Träger im Land sind dabei unabdingbar — das hat der Besuch in der Diakonie so deutlich gemacht wie das Gespräch mit dem Oberbürgermeister. Und ebenso sind die Gespräche mit Menschen der Zivilgesellschaft notwendig, die noch einmal eine andere Logik mitbringen. Das hat sich auch und vor allem in den Gesprächen mit den Jugendlichen gezeigt.
Bei dem ersten Punkt sind die demokratischen Parteien gefordert. Aber insgesamt ist es eine Aufgabe für uns alle, uns für eine offene, freie und soziale Gesellschaft abzustrampeln.
Und für die Fortsetzung der Gespräche zwischen den verschiedenen Ebenen gibt es erste Überlegungen zu einer weiteren Rad-Erfahrung in Dessau-Roßlau im nächsten Jahr.
