Diskurs

Wohin steuert die Kirche?

Thinktank zur spirituellen Transformation
"Kirche muss sich grundlegend ändern" sagen 80% der Mitglieder
Quelle: KMU 6, kmu.ekd.de

Die Frage nach der weiteren Entwicklung der Kirche ist emotional und wird oft von schmerzhaften Prozessen begleitet. Einen tieferen Blick in diese Prozesse als die jährlichen Austrittszahlen liefern die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU). Diese Langzeitstudie wird alle zehn Jahre durchgeführt. Im Jahr 2022 wurde die 6. KMU erhoben und die Daten wurden im Herbst 2023 veröffentlicht. Der Auswertungsband erschien im Dezember 2024 in der Evangelischen Verlagsanstalt unter dem Titel: „Wie hältst du´s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft“ und ist online abrufbar. Für ein breites Publikum macht ein spannender und niedrigschwellig gestalteter Internetauftritt die Ergebnisse zugänglich.

Die Auswertung einer so umfassenden Studie braucht nicht nur Zeit, sondern auch Räume zur Diskussion. Die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt beteiligte sich an diesen Diskussionen mit zwei Tagungen.

Im Februar 2024 diskutierten Kirchenmusiker:innen aus ganz Deutschland auf der Tagung „Da ist Musik drin. Vom Potential der Kirchenmusik nach der VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ über die Ergebnisse einer Teilnehmendenbefragung in ihrem Arbeitsfeld. Diese Sondererhebung zur KMU 6 wurde in Verantwortung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) durchgeführt.

Im Oktober 2024 wurde dann auf der Fachtagung „Mann mit Eigenschaften. Erkundungen im Spannungsfeld Männlichkeit – Religiosität – Kirche – Gesellschaft“ ein Forschungsprojekt, das die EKD in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Kirchensoziologie der Uni Leipzig und dem Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte der Universität Jena durchgeführt hatte, der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Auch für diese Tagung mit nationaler Reichweite konnten viele neue Tagungsgäste in Lutherstadt Wittenberg begrüßt werden. Der Ergebnisband zur Studie, der unter dem gleichen Titel wie die Wittenberger Tagung publiziert werden soll, ist noch nicht erschienen und für Ende 2025 in der Evangelischen Verlagsanstalt angekündigt.

Bereits Ende November 2023 wurde auf dem Forum Konfiarbeit in Wittenberg erstmalig die 3. bundesweite Konfi-Studie präsentiert. Im Berichtsjahr wurden dann Ergebnisse der Studie mit einem Kongress in Berlin vorgestellt. Konfi-Campleiterin Lea Weber als Teilnehmerin in Berlin brachte die Erfahrungen der Wittenberger Camps in das Gespräch ein. Die Ergebnisse wurden später im Jahr veröffentlicht.

Mit den drei genannten Veranstaltungen unterstreicht die Ev. Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg ihren Anspruch, einen Beitrag zur spirituellen Transformation von Kirche und Gesellschaft zu leisten. Die wichtigsten Erträge aus den Tagungen sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

Die genannten Studien verlinken wir hier:


Da ist Musik drin – Kirche im Osten

„In vielfaltiger Weise haben die ostdeutschen Kirchen offene Angebote entwickelt, die auch von Nicht-Mitgliedern genutzt werden, kirchenmusikalische Veranstaltungen sind ein weiteres Beispiel dafür.“
(KMU 6, S. 206)

Nachdem OKR Christian Fuhrmann die Tagungsgäste als Autor und Projektverantwortlicher begrüßt hatte, stellte Dr. Edgar Wunder, vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, die wichtigsten Ergebnisse der KMU 6 vor, die Daniel Hörsch, von midi, am späteren Nachmittag mit den Ergebnissen der Sondererhebung zur Kirchenmusik ergänzte.

Dr. Wunder machte zunächst deutlich, dass sowohl die Kirchlichkeit als auch die Religiosität über alle abgefragten „Items“ auf Talfahrt sind. Die Säkularisierung schreite ungebrochen voran. Doch an einem Punkt gab es eine Überraschung bei der Auswertung. Im Osten blieb die Kirchlichkeit der Mitglieder stabil. Der innere Zerfall der Kirche im Osten scheint gestoppt, während dieser im Westen unvermindert weiter fortschreitet. Einen Effekt, mit dem viele bereits in den 90er Jahren gerechnet hatten, der aber enttäuschender Weise nie eintrat. Mit der KMU 6 konnte das nun erstmalig gemessen werden. Könnte das auch etwas mit der Art und Bedeutung kirchenmusikalischer Angebote zu tun haben?

Kirchgemeinden bilden einen wichtigen Knotenpunkt im Netzwerk des ehrenamtlichen Engagements. Evangelische und religiös orientierte Menschen sind signifikant höher ehrenamtlich engagiert (61%) als säkular orientierte Menschen (33%). Der Kirchenmusik kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. 30% der Evangelischen sind in Chören und Musikgruppen engagiert. Die Sonderbefragung in Mitteldeutschland zeigt, dass Kirchenmusik darüber hinaus eine wichtige Brückenfunktion zukommt. Von den Befragten in der EKM ist ein Anteil von 21,8% der Besucher:innen  von kirchenmusikalischen Veranstaltungen und 12% der in der Kirchenmusik aktiven Menschen konfessionslos. Dieses und andere kirchliche Angebote, die weit in den säkularen Raum hineinreichen, tragen dazu bei, dass sich die Reichweite kirchlicher Angebote in die Gesamtbevölkerung in Ost (30%) und West (35%) kaum noch unterscheidet, obwohl die Ausgangslage der Kirche im Osten eine völlig andere ist als im Westen.

Im Auswertungsband der KMU widmet Dr. Wunder dem Ost-West Vergleich ein ganzes Kapitel und schreibt dort: „Die Kirche in Ostdeutschland überwindet die Dichotomie „Mitglied vs. Nicht-Mitglied“ in einer für Westdeutschland so bislang noch nicht vorstellbaren Weise. Es ist denkbar, dass die Stabilisierungseffekte in der ostdeutschen Kirchenmitgliedschaft mit dieser Art kirchlichen Handelns zusammenhängen, weil es einerseits binnenkirchliche Isolation vermeidet, andererseits so die Bedeutung kirchlicher Angebote auch jenseits der Mitgliedschaft für die eigenen Mitglieder plausibilisiert. (KMU 6, S. 206)


Mann mit Eigenschaften – im säkularisierten Osten anders

Es muss erklären „warum der Geschlechtereffekt bei der kirchlichen Religiosität im stark säkularisierten Ostdeutschland nicht nur nach wie vor existiert, sondern sogar stärker als in Westdeutschland ist. Dieser Befund steht dem säkularisierungstheoretischen Modell diametral entgegen.“
(KUM 6, S. 240)

Dem Säkularisierungs-Fahrplan scheinen die Daten der KMU 6 zunächst auch in einem anderen Bereich zu folgen. Bei vielen Fragen zur praktizierten Frömmigkeit, wie Kirchgang, Orientierung an der Bibel, Bedeutung von Religion für das tägliche Leben, oder dem Vertrauen in die Kirche, konnte die KMU 6 kaum noch Unterschiede zwischen Männern und Frauen messen (KMU, S. 235ff.). Der religiöse „gender-gap“ verschwindet.

Auf genau diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern legte aber die Tagung „Mann mit Eigenschaften“ ihren Fokus. Dabei war eine Spannung von Anfang an zu spüren: Die Daten der KMU 6 konnten noch nicht in das Studiendesign der Uni Leipzig und Jena eingebaut werden und führten so teils zu konträren Aussagen. Anschaulich machten die Tagungsvorbereitenden vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen und EKD, um Dr. Ruth Heß sowie Martin Rosowski, vom Fachbereich Männer des Evangelischen Zentrum Frauen und Männer, ihre Sicht auf den nach wie vor bestehenden Unterschied mit Zahlen aus den statistischen Berichten der Landeskirchen aus dem Jahr 2021. Demnach waren im kirchlichen Ehrenamt 31% Männer aktiv und 69% Frauen. An Veranstaltungen der Evangelischen Erwachsenbildung waren 27% der Teilnehmenden männlich und 73% weiblich. Eine deutlich höhere Austrittsneigung von Männern komplettierte die Illustration des „gender-gaps“ in Bezug auf Religion, der als Handlungsimpuls für die Tagung diente.

Prof. Dr. Gert Pickel, von der Universität Leipzig, räumte in seinem Vortrag Forschungslücken beim Thema ein, die vor allem bei emotionalen Einstellungen und Werten sowie der religiösen Sozialisation von Männern und Frauen lägen. Die vorgestellten Studienansätze sollen hier weiterhelfen. Pickel attestiert protestantischen Männern hohe Zustimmungswerte beim Thema gleichberechtigter Partnerschaft und familiärer Rollenaufteilung bei einer hohen Wichtigkeit des Netzwerkes zu den eigenen Eltern bzw. erwachsenen Kindern, je nach Alterskohorte, die hier einen leichten Überhang von über 75-Jährigen und eine Unterrepräsentation bei den 30 bis 44-Jährigen ausweist. Interessant wird es, wenn man die Gruppe der Männer noch einmal differenziert und unterschiedlichen Typen zuordnet. Prof. Dr. Sylka Scholz, von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, geht in ihrem Kommentar zum protestantisch religiösen Mann mit Eigenschaften darauf näher ein. Evangelische Männer sind weniger antifeministisch eingestellt. Nur 3% der Männer sind der AFD zugeneigt. Das Cluster der Antifeministen (15% / ohne Religionszugehörigkeit (RZ) 19%) lässt sich in seinen Einstellungen und Haltungen klar von den traditionell-rollenorientierten Männern abgrenzen (19%/ ohne RZ 15%). Der größte Anteil wird aber dem profeministisch-modernem Typus zugerechnet, der unter evangelischen mit 37% etwas weniger häufig vertreten ist als bei Konfessionslosen (40 %). Scholz sieht bei protestantischen Männern ein großes Potential zur Stärkung einer Idee des Mannes beizutragen, die in der Forschung mit „Caring Masculinities“, also sich kümmernder, oder sorgender Männlichkeit bezeichnet wird. Hier solle vor allem der Typ der unsicheren Männer 29% (ohne RZ 27) im Blick bleiben, die in ihren Orientierungen (noch) keine eindeutigen Tendenzen erkennen lassen.

Gibt es auf diesen Typus des unsicheren in der KMU 6 schon messbare Effekte? In der Rückschau auf die Tagungsergebnisse könnte man sich das fragen. Denn auch wenn die KMU 6 behauptet, der gender-gap würde sich schließen, zeigt sie sich im Hinblick auf die Ost-West Differenzen in dieser Frage erheblich irritiert und muss erklären „warum der Geschlechtereffekt bei der kirchlichen Religiosität im stark säkularisierten Ostdeutschland nicht nur nach wie vor existiert, sondern sogar stärker als in Westdeutschland ist. Dieser Befund steht dem säkularisierungstheoretischen Modell diametral entgegen.“ (KUM 6, S. 240)

Auch in dieser Frage ist also im Osten noch „Musik drin“. Es ist zu vermuten, dass hinter den Kulissen noch heftig weiter diskutiert und gerechnet wird. (4285)


KonfiCamp LAB – Chancen für Konfessionslose

„Bei keiner anderen konfessionellen Konstellation des Elternhauses spielen Kindheit und Jugend eine so bedeutsame Rolle für die evangelische Taufentscheidung wie bei Personen, deren Eltern beide konfessionslos sind.“
6. KMU, S. 348

Für die Bildungsarbeit und besonders für die Konfiarbeit brachte die KMU 6 ein weiteres überraschendes Ergebnis. So wurde die Mutter als bedeutsamster Faktor der religiösen Prägung erstmals durch den Konfiunterricht auf Platz zwei verdrängt. Der Befund gilt zwar zunächst nur für die Gruppe der evangelischen befragten, doch der vertiefte Blick der 3. Konfistudie, lässt auch für die Gruppe der Konfessionslosen aufhorchen.

Prof. Dr. Wolfgang Ilg, von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, erläuterte auf der Tagung in Wittenberg, warum er in der 3. Konfistudie seinen Blick auf eine Gruppe der ungetauften Konfirmand:innen lenkte, die bisher im gesamtdeutschen Monitoring kaum auftauchten, in den Ostkirchen aber durchaus überhaupt keine Unbekannte darstellen (vgl.: 3. Konfi-Studie, S. 224ff.). In einem Aufsatz für die Zeitschrift Pastoraltheologie fasst Ilg diese Ergebnisse wie folgt zusammen: „Die meisten ,Erwachsenentaufen´ betreffen 14-Jährige. […] Viele anfangs nichtgetaufte Konfirmand:innen [stammen] aus weniger religiösen Familien. Sie bringen eine hohe intrinsische Motivation mit und nutzen die Konfi-Zeit, um ihre Glaubensfragen zu klären. Am Ende der Konfi-Zeit weisen sie eine besonders hohe Verbundenheit zur Kirche und die Bereitschaft zu einem weiteren kirchlichen Engagement auf.“ (Pastoraltheologie März 2025, S. 80).

In den Ostkirchen machen Erwachsentaufen immerhin einen Anteil von 15,7% (EKD 6,9%) aus (ebd., S. 87). Berücksichtigt man dann noch, dass für eine nachhaltige Kirchenbindung und positives Erlebnis der Konfizeit die Teilnahme an einem KonfiCamp oder anderen Freizeiten mit mindestens zwei Übernachtungen von großer Bedeutung sind (3. Konfistudie S. 219ff.), wird deutlich welchen Beitrag gerade die zentralen KonfiCamps als Erprobungsraum neuer Angebote (KonfiCamp-LAB), Raum für Engagement (KonfiCamp-TEAM) und Erlebnisraum einer Erfahrungsbasierten Konfiarbeit (KonfiCamp-LIVE) haben.

Wenn es gelingt nach 2025 eine weitere Finanzierung durch die EKD zu akquirieren, soll die Arbeit mit den Camps in den nächsten Jahren mit diesen drei Säulen vertieft werden. Prof. Dr. Henrik Simojoki von der Humboldt-Universität zu Berlin schrieb uns im Nachgang zur Tagung in Wittenberg: „Dass Jugendliche auf Konfi-Camps Spaß haben und tiefe Gemeinschaftserfahrungen machen, ist ja angesichts des erfahrungsorientierten Settings fast schon erwartbar. Die Konfi-Studien zeigen aber, dass die Effekte von längeren Freizeitformen deutlich weiterreichen. Konfi-Camps wirken sich demnach nachweislich positiv auf die religiösen Einstellungen und das Kirchenverhältnis der jungen Menschen aus. Was besonders bemerkenswert ist: Je länger die Freizeitdauer, desto höher ist der Anteil derer, die ihre Konfi-Zeit nicht nur insgesamt positiv, sondern auch als alltagsbedeutsam erlebt haben.“

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
mehr erfahren

Diskurs-Beiträge

Skip to content