Diskurs

Gesellschaft ist in Bewegung

Landkarten für den öffentlichen Raum IV

Wenn wir die Ich- und Wir-Ebene einer Karte zu Orientierung im öffentlichen Raum einblenden, fragen wir danach, wie sich ein Individuum in einer Gesellschaft erlebt. Und wie sich größere Gruppen von Individuen ähnlich oder gar identisch erleben.

„Einsam oder gemeinsam…Beheimatung und Emanzipation im Wechselschritt“

Auch hier gibt es wieder vielfältige Möglichkeiten, Gesellschaft aus dieser Perspektive zu kartieren. Bekannt sind die Kartoffelgrafiken der Sinus Milieus, die sich am Konsumverhalten von Menschen orientieren. Andere orientieren sich in ihren Kartierungen an politischen Einstellungen wie rechts oder links, konservativ oder liberal oder, wie es zuletzt von der Universität Münster in einer Studie vorgeschlagen wurde, in Verteidiger oder Entdecker.

Die Karte, die hier knapp skizziert werden soll, orientiert sich an Werten, Überzeugungen und Haltungen und knüpft an Forschungen zur moralischen Entwicklung, wie sie zum Beispiel Lawrence Kohlberg oder Jean Piaget ausgearbeitet haben, an. Der amerikanische Psychologie Professor, Clare W. Graves, entwickelt ein Wertemodell, das sich durch unterschiedliche kulturellen Gesellschaftsmodelle hindurch beobachten lässt. Heute wird es unter der markenrechtlich geschützten Bezeichnung spiral dynamics im Transformations- und Changemanagement von Unternehmen vermarktet, aber auch in der Politik genutzt sowie in der Beratung, Persönlichkeitsentwicklung und in Coachingsettings unterschiedlichster Weltanschauungen verwendet.

Das Modell geht von Entwicklungsstufen aus, bei denen sich Stufen abwechseln, die das Individuum eher in die Gesellschaft einbinden oder die das Individuum aus der Gesellschaftsgemeinschaft herausheben. Beheimatung und Emanzipation, das sind die Wechselschritte in Graves Wertemodell. In der roten Stufe ist die Herauslösung aus alten Clanstrukturen durch Kraft und Leidenschaft das Entscheidende. Es sind die Stunden der Heldinnen und Helden. Die aggressive Bemächtigung des Einzelnen ist auf dieser Stufe der zentrale Wert. Die blaue Stufe kann diese Kraft bändigen und Zurückbinden an eine höhere Ordnung, die als unantastbare, heilige oder absolut gesetzte Instanz gesetzt wird. Die Gültigkeit von Recht und Wahrheit ist damit unhinterfragbar. In der Orangenstufe emanzipiert sich das Individuum von diesen nach außen verlegten und vorgegebenen Ordnungsprinzipien wieder. Die eigene Erkenntnis kennt nun keine höhere Wahrheit. Erfolg und Leistung spielen als zentrale Werte auf dieser Stufe die Hauptrolle. Die grüne Stufe erkennt, dass ein solcher Lebensstil alle an den Abgrund der Katastrophe führt. Gemeinschaft und Solidarität lösen das Erfolgsstreben ab als zentrale Werte. Der Erkenntnis wird das Gefühl und die Achtsamkeit zur Seite gestellt. Die gelbe Stufe löst in gewisser Weise die bisherige Dualität und binären Weltbilder auf. Konnte vorher jeder Wert mit einem entsprechenden Gegenbegriff geschärft werden, Macht und Ohnmacht, Heilige und Sünder, Erfolg und Misserfolg, tolerant und intolerant. So ist nun auf der gelben Stufe die Individualität eingebunden und eingebettet in die größeren Prozesse. Fließendes denken, Netzwerke, Transformation, das sind die positiven Werte dieser Stufe.

Wohin sich eine Gesellschaft entwickelt, ist nach Graves im Unterschied zu anderen klassischen Stufenmodellen nicht klar. So kann dieses Modell, das sich eher in dynamischer Spiralform denn als statischer Stufenaufbau denken lässt, auch als Abwärtsspirale verstanden werden. Je nachdem, mit welchen Werten die äußeren Herausforderungen besser zu bewältigen sind und wie viele Menschen auf welcher Stufe handeln und orientiert sein können, entwickelt sich Gesellschaft in die eine oder andere Richtung.

Ein Video zu dieser IV. Landkarte für den öffentlichen Raum finden Sie hier.

Christoph Maier

Akademiedirektor und Studienleiter für Theologie und Politik
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